Protokoll der Sitzung vom 13.07.2005

Es gibt aus meiner Sicht zwei sinnvolle Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit, die man begründen kann, ist die, die Zahl der Wahlberechtigten zu nehmen; so ist es bisher. Dann gilt, bezogen auf die Wahlentscheidung, das Motto: gleicher Wert der abgegebenen Stimme.

Die zweite sinnvolle Möglichkeit ist die Gesamtbevölkerung als Berechnungsgrundlage. Das bedeutet: alle Einwohner, egal, ob sie über oder unter 18 Jahre alt sind und ob sie Deutsche oder Nichtdeutsche sind. Eine solche Berechnungsgrundlage wählt man, wenn man sagt: Es geht darum, wen der direkt gewählte Abgeordnete in seinem Wahlkreis vertritt.

Ich bin nicht direkt gewählt; das hat in Hessen noch kein GRÜNER geschafft.

(Ursula Hammann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Noch nicht! – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir arbeiten daran!)

Das kann noch kommen. Ich werde einmal bei Ströbele nachfragen, wie so etwas geht.

Der direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises 43, Offenbach-Stadt, Stefan Grüttner, hat sicher die Erfahrung, dass sich auch Bürgerinnen und Bürger an ihn wenden, die nicht Deutsche sind, und er vertritt sie natürlich auch.

Aus meiner Sicht gibt es also zwei Möglichkeiten, entweder die Zahl der Wahlberechtigten – Stichwort: Wert der Stimme – oder die Gesamtbevölkerung, Stichwort: Wer wird vertreten?

(Frank Gotthardt (CDU):Ich kümmere mich sogar, wenn jemand von außerhalb Hessens anruft! – Gegenruf des Abg. Norbert Schmitt (SPD): Deshalb gehst du nach Berlin! – Frank Gotthardt (CDU): Das ist konsequentes Handeln!)

Sie haben allerdings eine dritte Möglichkeit gewählt. Ich sage ausdrücklich: Diese dritte Möglichkeit ist aus meiner Sicht rechtlich nicht problematisch – es gibt andere Bundesländer, die eine solche Regelung haben –; sie macht aber keinen Sinn. Man sagt: alle Deutschen, ob sie wahlberechtigt sind oder nicht. Das heißt, man zählt die unter 18-Jährigen mit.

Ich sage Ihnen, warum das keinen Sinn macht.Wenn man nicht mehr auf die Wahlberechtigung abstellt, ist es notwendig, die Nichtdeutschen dazuzuzählen, weil es darum geht, wen man vertritt.

Es gibt einen weiteren Punkt, der die Frage ein bisschen anders aussehen lässt als früher. Sie müssen sich einmal anschauen: Seit der Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts zum 1. Januar 2000 hat es in der Bundesrepublik Deutschland 800.000 Einbürgerungen gegeben. Das heißt, über kurz oder lang wird es, und zwar in zunehmender Schnelligkeit, dazu kommen, dass auch die Nichtdeutschen zur Wahlbevölkerung zählen werden, weil sich die Lücke zwischen Staatsvolk auf der einen Seite und Gesamtbevölkerung auf der anderen Seite glücklicherweise immer weiter schließen wird. Deswegen macht es Sinn, als Berechnungsgrundlage die Gesamtbevölkerung zu nehmen.

(Frank Gotthardt (CDU): Wenn sich die Lücke schließt, ist es doch egal!)

Das sollte man machen, damit man das Wahlgesetz nicht alle vier oder fünf Jahre ändern muss.

Wenn man allerdings die „Währung“ Gesamtbevölkerung – so darf ich sie nennen – nimmt, kommen wir wieder zu der Frage zurück: Wo soll der Wahlkreis herkommen? Denn dann sind die Wahlkreise in Wiesbaden auf einmal gar nicht mehr so klein

(Reinhard Kahl (SPD): Immer noch!)

übrigens sind auch die Wahlkreise in Frankfurt dann gar nicht mehr so klein – wie nach der jetzigen Berechnungsgrundlage, weil die nicht deutsche Wohnbevölkerung vor allem in den größeren Städten lebt.

Ich sage ausdrücklich: Der Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden hat Recht. Er hat uns alle angeschrieben, den Beschluss der Stadtverordnetenversammlung kundgetan und dazu gesagt: Die jeweiligen Wahlkreisabgeordneten haben die Interessen aller in Wiesbaden lebenden Menschen zu vertreten und werden häufig auch von Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern angesprochen, die nicht wahlberechtigt sind. – Das ist nun einmal einfach richtig, und das können, glaube ich, die drei Abgeordneten der Stadt Wiesbaden bestätigen, die direkt gewählt sind und sich in den Reihen der CDU befinden.

(Norbert Schmitt (SPD): Die anderen auch!)

Wenn wir in den Ausschüssen über die Frage ernsthaft beraten, bitte ich ausdrücklich darum, noch eine vertiefte Anhörung durchzuführen. Denn wenn das Richtige passieren würde, wenn man nämlich die Gesamtbevölkerung als Berechnungsgrundlage nähme, würde es dazu kommen, dass ein Wahlkreis nicht mehr aus Wiesbaden, sondern aus dem nordhessischen Bereich kommen würde.

Die Entscheidung ist für die Abgeordneten, die die Wahlkreise bisher vertreten, nicht einfach. Sie ist auch für die Sozialdemokratie nicht einfach.Aber sie würde eigentlich Sinn machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, und ich möchte das auch begründen.

Jeder Abgeordnete hat die Materialien der Enquetekommission „Demographischer Wandel“ bekommen. In diesen Materialien des Hessischen Statistischen Landesamts steht auf Seite 41 – ich kann allen empfehlen, sich das anzusehen – eine Prognose für das Jahr 2020, d. h. für die Situation in 15 Jahren. In 15 Jahren gibt es zwei Kreise, von denen der eine über 9 % und der andere fast 8 % an Bevölkerung verloren haben wird.Das sind der Werra-Meißner-Kreis und der Landkreis Hersfeld-Rotenburg.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Aber erst im Jahr 2020!)

Nein, es fängt schon an, Frau Wagner.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja, klar, es fängt schon an!)

Der Werra-Meißner-Kreis hat in den letzten Jahren schon fast 5 % der Bevölkerung verloren. Das heißt, wenn wir jetzt etwas machen, was sowohl dem demographischen Wandel als auch den Einbürgerungen, die ja stattfinden, nicht Rechnung trägt, werden wir ein Gesetz beschließen, das wir spätestens in der nächsten Legislaturperiode wieder ändern müssen.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Das stimmt!)

Das aber macht aus meiner Sicht keinen Sinn, Frau Kollegin Wagner.

Ich sage noch etwas. Wir waren uns auch alle einig, möglichst keine gebietskörperschaftübergreifenden Wahlkreise zu machen.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Wenn man das ernst nimmt, dann heißt das faktisch, dass es in Zukunft einen Wahlkreis Werra-Meißner und einen Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg geben wird.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Das kann passieren!)

Ich habe so ein bisschen die Befürchtung, dass ein Teil der Veränderung in der Bezugsgröße – von den Wahlberechtigten auf die deutsche Bevölkerung auch unter 18 Jahren – deshalb gewählt worden ist, damit man genau das vermeiden kann, weil es auch kein Geheimnis ist, dass die drei Abgeordneten der drei Wahlkreise Hersfeld-Rotenburg, Werra-Meißner und der, der dazwischen liegt, alle noch einmal kandidieren wollen, währenddessen die drei direkt Gewählten aus der CDU-Fraktion – –

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Jetzt wird es aber! – Reinhard Kahl (SPD): Ein bisschen dünne!)

Ich fürchte, das könnte ein Hintergedanke gewesen sein.

(Reinhard Kahl (SPD): Jetzt geht es auch noch um die Frage von Entfernungen, über die man reden kann!)

Aus meiner Sicht soll mein letzter Vorschlag für die Zukunft sein – –

(Reinhard Kahl (SPD): Aber Prognosen werden schon als Grundlagen genommen!)

Kollege Kahl, ich finde, wir sollten das in aller Ruhe besprechen.Aus meiner Sicht fehlt noch etwas in diesem Gesetzentwurf. Es fehlt aus meiner Sicht die Pflicht des Landeswahlleiters, in Zukunft von Amts wegen anzuzeigen, wenn aus seiner Sicht Wahlkreise zu groß oder zu klein werden. Ich fände es analog dem Bundeswahlgesetz sinnvoll, wenn man in das Wahlgesetz einen Passus einfügte, der besagt, von Amts wegen muss sich der Landeswahlleiter melden, die Fraktionen anschreiben, dem Innenminister Bescheid sagen, den Parteien Bescheid sagen, wenn aus seiner Sicht für eine Wahl eine solche Veränderung eines Wahlkreises droht.

Ich fände es auch sinnvoll, wenn es eine beim Landeswahlleiter angesiedelte unabhängige Kommission gäbe, die die Vorschläge machte, wo aus ihrer Sicht etwas geändert werden soll. Wenn es im Einvernehmen zwischen allen Landtagsfraktionen – Beispiel Wetterau – andere Vorschläge gibt, dann muss man die nicht übernehmen. Aber ich finde das aus unserer Sicht eigentlich hilfreich, weil man dann sicher sein könnte, dass keine anderen Überlegungen hinter der Wahlkreiseinteilung oder Berechnungsgröße als die stehen, die wirklich nur mit der Sache zu tun haben. Das ist aus meiner Sicht im Landtagswahlgesetz angebracht. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Staatsminister Bouffier hat sich zu Wort gemeldet. Bitte schön.

Herr Präsident, meine Damen, meine Herren! Ich will bei dem Gedanken anfangen, den der Kollege Al-Wazir eben genannt hat. Das ist durchaus interessant. Wenn Sie sich einmal anschauen, was das bisher in der Praxis gebracht hat, klingt das gut.Wir sind auch gelegentlich mit der Einteilung der Bundestagswahlkreise befasst. Alle Vorschläge des Bundeswahlleiters werden regelmäßig vom Bundestag abgelehnt – in Übereinstimmung aller vier großen Parteien, die auch in diesem Hause vertreten sind. Der Bundeswahlleiter bemüht sich seit sechs Jahren, hessische Wahlkreise zu verändern. Es ist nie gelungen, warum auch immer.

Die grundsätzlichen Positionen, die diesem Gesetzentwurf der Fraktionen zugrunde liegen, hat Herr Dr. Jung vorgetragen. Ich habe zwei Punkte, weshalb ich noch einmal das Wort ergreifen will. Zum einen muss ich nicht zuletzt im Interesse meiner Mitarbeiter ein paar Dinge zurechtrücken. Sie, Kollege Schmitt, haben eben etwas anderes gesagt, als Ihre Pressemeldung aussagt.

(Norbert Schmitt (SPD): Nein!)

In Ihrer Pressemeldung haben Sie gesagt: „Noch nie gab es einen Fraktionsentwurf zur Änderung von Landtagswahlgesetzen“. Das ist nachweislich falsch. Heute haben Sie gesagt: Noch niemals gab es einen – das weiß ich

nicht –, den nicht alle Fraktionen eingebracht haben. – Das ist ein Unterschied. Seinerzeit, 1980 – das hatte ich nicht zu verantworten –, hat das hessische Innenministerium genauso wie heute auch zugearbeitet.

(Günter Rudolph (SPD): Das haben wir doch gar nicht kritisiert!)

Langsam. Ich lege großen Wert darauf, dass solche unanständigen Behauptungen nicht länger unwidersprochen bleiben.

(Beifall bei der CDU – Norbert Schmitt (SPD):Unanständig!)

Herr Kollege Schmitt, tun Sie langsam. In Ihrer Presseinfo vom 6. Juli steht: Noch nie war die Information des Innenministeriums so mangelhaft.

(Norbert Schmitt (SPD): Genau so ist es!)