Protokoll der Sitzung vom 21.09.2005

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir müssen auch ein geändertes Einkaufsverhalten zur Kenntnis nehmen. Man kann nicht richtig beurteilen, was zuerst da war. War zuerst die Ausweisung der Märkte auf der grünen Wiese, der die Leute dann gefolgt sind, oder war es der Wunsch der Leute, große Shopping-Malls auf der grünen Wiese zu haben? Das kann man nicht genau auseinander halten. Im Ergebnis haben wir durch diese Entwicklung etwas produziert, was nicht nur für die innerstädtische Entwicklung der Geschäfte nicht gut war, sondern was auch ein erhebliches Maß an Verkehr produziert hat und wodurch es zu einem erheblichen Maß an Problemen in unseren Städten gekommen ist. Nicht zuletzt hat das dazu geführt, dass viele Innenstädte in unserem Land verödet sind, dass wir keine lebhafte Geschäftskultur mehr haben.

Die Geschäftskultur und die Angebote für die Einzelhändler sind sicher das Eine, aber wir verlieren auch ein Stück urbaner Kultur, wenn wir diese Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht aufhalten, weil gewachsene Ortskerne immer auch ein Ort der Begegnung, ein Ort der Kultur und ein Ort des Dialogs sind. Schauen

wir uns einmal an, wie das Einkaufsverhalten auf der grünen Wiese ist. Man fährt in der Regel mit dem Auto hin, weil der ÖPNV-Anschluss bei der Planung auch gern einmal vergessen wurde. Man kauft ein und redet mit niemandem, bringt seine Einkäufe ins Auto und fährt wieder weg. Daran sehen wir, was hier für unser Land auch an Kultur verloren geht, indem wir sehr stark auf die grüne Wiese gesetzt haben oder die Mehrheit der Parteien sehr stark auf die grüne Wiese gesetzt hat und eben nicht auf die Entwicklung der Innenstädte.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Michael Denzin (FDP))

Gerade angesichts des demographischen Wandels und gerade angesichts einer älter werdenden Gesellschaft ist diese Entwicklung nicht gut.Wenn ältere Menschen heute in ihrem gewachsenen Wohnumfeld keine Möglichkeit mehr haben, die Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen, wenn sie darauf angewiesen sind, mit dem Auto zu fahren, oder wenn sie selbst nicht mehr fahren können oder wollen, darauf angewiesen sind, dass andere das für sie tun, macht das unsere Städte ärmer und macht es gerade für ältere Menschen schwieriger, ihr Leben zu gestalten und die Dinge des täglichen Bedarfs selbst zu erledigen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Also ist es vom Ziel her völlig richtig – und das wird auch von meiner Fraktion nicht bestritten –, dass wir etwas tun müssen, um die Innenstädte zu stärken.

Nun verstehe ich, dass Herr Kollege Möller den Gesetzentwurf der CDU sehr euphorisch dargestellt hat. Herr Kollege Möller, bei allem Verständnis dafür, dass man versucht, das, was man selbst vorlegt, in besonders rosigen Farben zu malen, sollte dabei doch auch nicht vergessen werden, dass schon eine ganze Menge für unsere Innenstädte geleistet wird, auch schon vor Ihrem INGE-Entwurf. Das sollten wir bei allem Verständnis dafür, dass Sie es hier besonders positiv darstellen wollen, Herr Möller, nicht aus dem Blick verlieren.

Meine Damen und Herren, als Erstes sind da die Gewerbetreibenden selbst zu nennen, die in den Zusammenschlüssen, in den Gewerbevereinen und den City-Ringen sehr Positives für ihre Städte und Gemeinden tun und dafür sorgen, dass dem Trend, dass immer mehr auf die grüne Wiese geht, entgegengewirkt wird. Hier wird sehr viel geleistet. Das sollten wir, wenn wir über ein solches Gesetz reden, hier auch sagen und nicht ignorieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Kommunen leisten sehr viel für die innerstädtische Entwicklung. Auch das gehört dazu. Sicher machen es nicht alle Kommunen. Sicher gibt es auch Negativbeispiele. Manchmal wird auch etwas „verschlimmbessert“. Ich habe da auch einen Fall aus dem Hochtaunuskreis im Blick, aber es gehört jetzt nicht hierher, die kommunalpolitische Debatte zu vertiefen. Also auch da wird einiges geleistet.

Aber der Dreh- und Angelpunkt, weshalb es uns noch nicht richtig gelingt, die Innenstädte wieder zu stärken – das habe ich in der Rede schon angesprochen –, ist schlicht und ergreifend die immer noch nicht gestoppte Zersiedelung, die immer weitere Ausweisung von immer weiteren Gewerbegebieten auf der grünen Wiese.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der CDU und auch von der SPD, das kann ich Ihnen nicht ersparen. Ich nehme ja zur Kenntnis, dass Sie die Innenstädte stärken wollen, dass Sie mit dem Gesetzentwurf INGE etwas machen wollen; aber wenn es bei der Siedlungsentwicklung konkret wird, wenn es bei den Verhandlungen, wo neue Gewerbeflächen ausgewiesen werden, konkret wird und Sie immer dafür stimmen, dass neue Gewerbeflächen ausgewiesen werden, wenn Sie immer dafür stimmen, dass die Innenstädte dadurch geschwächt werden, dass immer mehr auf der grünen Wiese ausgewiesen wird, dann werden Sie es auch mit INGE nicht schaffen, die Innenstädte zu stärken. Meine Damen und Herren, das gehört dann auch zu einer vollständigen Betrachtung.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Fraktion hat große Zweifel, ob es mit INGE tatsächlich gelingen kann, ob das tatsächlich das richtige Instrument zur Stärkung der Innenstädte ist. Wir haben grundsätzliche Zweifel. Wir haben auch Zweifel im Detail. Ich möchte darauf eingehen.

Das Grundproblem habe ich schon genannt. Ist es wirklich richtig, dass CDU und SPD immer, wenn es konkret wird, der Ausweisung neuer Gewerbegebiete zustimmen und dann hier sagen: Liebe Gewerbetreibende in den Innenstädten, zum Dank dafür, dass wir diese falsche Politik machen, erheben wir von euch in den Innenstädten jetzt eine Abgabe, damit ihr eure Situation selbst verbessert. – Da haben wir erhebliche Zweifel, ob das vom Grundsatz her der richtige Ansatz ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, wir wollen in der Anhörung sehr ruhig und nüchtern darüber diskutieren – –

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Herr Boddenberg, ich bin heute völlig ruhig. Dass Sie nach dem letzten Sonntag nicht ruhig sind, verstehe ich gut, aber ich bin völlig ruhig und würde gerne über die Sache reden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen darüber diskutieren,ob es im Hinblick auf die Entwicklung der Innenstädte, so wie das in dem INGEEntwurf vorgesehen ist, richtig ist, ordnungspolitisch zu sagen: „Das ist tatsächlich eine Aufgabe, die primär die Gewerbetreibenden und die Grundstückseigentümer in der Innenstadt bezahlen“, oder ob das nicht eher eine Aufgabe ist, die die Gemeinschaft bezahlen muss, also die Kommunen.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Herr Kollege Boddenberg, wir müssen über die Abgrenzung reden:Was ist kommunale Aufgabe und was ist eine Aufgabe, die wir mit INGE auf die Geschäftsleute und die Grundstückseigentümer vor Ort verlagern? Darüber müssen wir in der Anhörung völlig ruhig reden. Ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Ich sage ja nicht, dass diese Probleme unlösbar sind, aber wir müssen über diese Probleme reden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich nehme ja sehr interessiert zur Kenntnis – der Herr Kollege Schäfer-Gümbel hat das auch schon gesagt –, dass die CDU ordnungspolitisch mit diesem Gesetzentwurf dem Instrument einer Umlage nahe tritt. Herr Möller, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Sie sagen, diese Umlage

oder diese Abgabe sei ein Instrument, um das Trittbrettfahrersyndrom – wir kennen das aus der ökonomischen Debatte – zu bekämpfen.Da sage ich,dass ich es sehr richtig finde, dass Sie das erkennen. Ob es aber an diesem Punkt bei den Innenstädten das richtige Instrument ist, darüber würde ich in der Anhörung gern diskutieren. Aber ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass die CDU wirtschaftspolitisch sagt, dass zur Bekämpfung des Trittbrettfahrersyndroms eine Umlage das geeignete Instrument sein kann. Genau deshalb wollen wir eine Ausbildungsplatzumlage, wenn die Wirtschaft es nicht freiwillig schafft, für genug Ausbildungsplätze zu sorgen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Boddenberg (CDU): Unerträglich!)

Ob die Rede unerträglich ist, da sollten Sie vielleicht ein bisschen an Ihrer Wortwahl arbeiten. Ich habe ja ausdrücklich gesagt: Wir haben Fragen an diesen Gesetzentwurf.Wir werden uns auch durch unflätige Bemerkungen von Ihnen nicht davon abhalten lassen, diese Fragen zu stellen und in der Anhörung zu erörtern.Wenn die Fragen gelöst werden, werden wir vielleicht nach der Anhörung auch zustimmen. Das sage ich Ihnen ausdrücklich. Insofern verstehe ich Ihre Aufregung wirklich nicht,wenn man sich über die Probleme bei diesem Gesetzentwurf, die Sie hoffentlich auch sehen, auseinander setzt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich wollte einen Satz zur FDP sagen, weil ich diesen ordnungspolitischen Ansatz nun auch nicht richtig finde. Die FDP sagt bereits vor der Anhörung, sie sei gegen dieses Instrument. Sie ist dagegen, eine Abgabe von den Grundstückseigentümern zu erheben, und sagt, das sei Aufgabe des Staates und der Kommunen. Das ist die gleiche FDP, die immer sagt: Wir brauchen immer weniger Steuern. – Meine Damen und Herren von der FDP, keine Steuern mehr einnehmen zu wollen oder die Einnahmebasis des Staates immer weiter zu schwächen und das Geld, das man dann nicht hat, dafür zu verwenden, die Innenstädte zu stärken, das wird eben auch nicht funktionieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um die Aufregung von Herrn Möller noch einmal zu bremsen, sage ich:Wir sehen selbstverständlich die positiven Impulse, die ein solcher BID oder ein solches INGE haben könnten. Natürlich nehmen wir zur Kenntnis, dass die Erfahrungen in anderen Staaten mit diesem Instrument sehr positiv sind. Deshalb werden wir in der Anhörung sehr ruhig und nüchtern darüber reden müssen,ob es auch für Hessen ein geeignetes Instrument ist. Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass ein solcher BID ein Instrument sein kann, aber eben nicht sein muss, um das Trittbrettfahrersyndrom aufzuheben, um den Widerstand einzelner Einzelhändler aufzuheben, die sich gegen eine Veränderung sperren, obwohl sie im Sinne der Allgemeinheit und der Gewerbetreibenden in den Innenstädten sinnvoll wäre. Das nehmen wir natürlich zur Kenntnis. Darüber wollen wir sehr nüchtern in der Anhörung reden.

Wir verkennen auch überhaupt nicht, dass allein der Diskussionsprozess in einer Kommune über die Einrichtung eines BID einen positiven Effekt hat, dass man sich in der Kommune auseinander setzt, dass sich die Parteien im Stadtparlament, die Gewerbetreibenden und die Öffentlichkeit Gedanken darüber machen, wie sie ein Quartier entwickeln wollen. Natürlich ist das ein positiver Prozess. Das kann man gar nicht verkennen.

Natürlich ist auch die Idee der BIDs ein positiver Ansatz, den zentral geführten Shopping-Malls auf der grünen Wiese, die, weil sie zentral geführt werden, ein einheitliches Management, eine einheitliche Werbestruktur haben und einheitliche Angebote machen, durch den Zusammenschluss von vielen Einzelhändlern bzw., wie es im Gesetzentwurf formuliert ist, der Eigentümer der Grundstücke in BIDs etwas Vergleichbares entgegenzusetzen. Natürlich sehen wir, dass das ein interessanter Ansatz ist, aber – ich habe es eingangs meiner Rede gesagt – wir sehen auch viele Fragen, die noch geklärt werden müssen. Diese Fragen wollen wir in der Anhörung klären. Wenn die nicht ausgeräumt und nicht zufrieden stellend beantwortet werden können, werden wir wahrscheinlich dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Aber vielleicht ist es entgegen der Aufregung von Herrn Boddenberg und von Herrn Möller möglich, das in der Anhörung ganz ruhig und sachlich zu klären und dann in der zweiten Lesung zu einem Ergebnis zu kommen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat Herr Abg. Denzin für die Fraktion der FDP.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Wagner, unerträglich war Ihre Rede wirklich nicht. Sie war sogar gut, aber die letzten drei oder vier Sätze waren falsch.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Lehrer!)

Sie haben nämlich unsere Einwände nicht verstanden.Wir wollen nicht, dass die Gemeinden in die Aufgaben von Werbeunternehmen oder Werbegemeinschaften einsteigen. Das war damit nicht gemeint. Wir wollen aber auch nicht, dass die Gemeinden zum Büttel für eine anonym definierte, vermeintliche Interessenlage werden, die von irgendjemandem formuliert wird, und jeder Hauseigentümer, egal, ob er etwas davon hat oder nicht, dafür bezahlen soll.

Wo ist die Schnittstelle zwischen Ihrer und unserer Kritik, was die Gemeinden angeht? Die Gemeinden haben, überwiegend in den Sechziger- und Siebzigerjahren, die Augen bei der Innenstadtentwicklung zugemacht. Es hieß nur: höher, größer, schöner, weiter, raus auf die grüne Wiese.– Man hat versucht,dem jeweiligen Nachbarort die Ansiedlungsinteressenten abzujagen. Man hat künstliche Infrastrukturen geschaffen in der Hoffnung, es würden Arbeitsplätze entstehen.Damit hat man aber nur erreicht, dass auf der grünen Wiese Arbeitsplätze entstanden sind, die in den Innenstädten im Laufe der nächsten Jahre vernichtet wurden.

(Beifall bei der FDP)

Diesen Prozess hat man durch innergemeindliche Verkehrsrestriktionen bzw. dadurch, dass man dem ruhenden Verkehr keine Flächen zur Verfügung gestellt hat, noch beschleunigt.Als man die Folgen bemerkte, war es bereits zu spät.

Hinzu kommt ein geändertes Einkaufsverhalten. Das haben die Kollegen Wagner, Möller und Schäfer-Gümbel schon angesprochen. Man hat die Angebotsstruktur von kommunaler Seite dorthin befördert, wo sie sich inzwi

schen verfestigt hat. Das führte natürlich zu einer Verhaltensänderung. Herr Wagner, deshalb handelt es sich weniger um eine Frage der jetzigen Siedlungsstrukturpolitik, weil die Leute ein festes Einkaufsverhalten im Kopf haben. Sie fahren am Samstagmorgen nach Biebrich in die Äppelallee oder in das Einkaufszentrum in Taunusstein, oder in andere Einkaufszentren.Dieses Verhalten hat sich inzwischen verfestigt. Ich teile Ihre Zielsetzung, Herr Wagner, dass wir die Landschaft nicht weiter zersiedeln dürfen, dass wir die Siedlungsstruktur verdichten müssen. Da sind wir völlig d’accord. Das ändert aber nichts mehr an dem Problem.

(Beifall bei der FDP)

Ich komme zum nächsten Kritikpunkt. Überall spricht man von BIDs, von Business Improvement Districts, und von Trading-up. Das sind Entwicklungen, die in Toronto ihren Anfang nahmen und an anderer Stelle bei unterschiedlichen Bedingungen und mit ganz unterschiedlichen Ausformungen abgekupfert wurden. In Kassel spinnt man vor sich hin: Man will eine Einkaufsstraße mit einem Aufwand von 5 Millionen c mit einer Glasüberdachung versehen. Die Unterhaltskosten sind dabei noch nicht einmal eingerechnet.

Übrigens: In dem Gesetzentwurf gibt es keine Bestimmung betreffend die Folgekosten. Wie werden diese aufgeteilt? An dem Gesetzentwurf fehlt es also auch in technischer Hinsicht.Wir brauchen uns aber über die Technik gar nicht zu unterhalten, da der Entwurf in der Sache daneben geht. Herr Schäfer-Gümbel hat völlig zu Recht erkannt: Die CDU legt hier einen sozialdemokratischen Gesetzentwurf vor.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und bei Abge- ordneten der SPD)