Protokoll der Sitzung vom 21.09.2005

Hier hat die Innenstadt etwas zu bieten, was sie nicht nur wettbewerbsfähig, sondern letztlich unschlagbar macht. Die Seele einer Stadt ist die Innenstadt. Sie ist deshalb ihre Seele, weil sie das vermittelt, was die Menschen suchen, brauchen sowie empfinden und erleben wollen, nämlich die Stadt als Begegnungsort und Kulturträger – ein Ort, an dem sie Identität und Unverwechselbarkeit finden. Aufgrund des Wettbewerbs können sich die Menschen dort beim Einkaufen informieren und sich Transparenz verschaffen. Das ist nirgends so gut möglich wie in der Innenstadt. Deswegen müssen in der Innenstadt alle zusammenarbeiten.

In Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes heißt es, dass die Kommunen für „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ verantwortlich sind. Dieses Grundprinzip – das ein Verfassungsgebot ist – kommt nirgends so deutlich zum Vorschein wie in dieser Diskussion. Nirgendwo sonst spiegelt es sich so deutlich wider.

Herr Denzin, deswegen wundere ich mich über einige Punkte Ihrer Aussagen. Der Gesetzentwurf, der hier vorgelegt wird, findet nämlich nicht nur die Zustimmung der Landesregierung. Das, was hier vorgelegt wird, stützt das Verfassungsgebot von Subsidiarität und Freiheit; es ist damit konform.

(Beifall bei der CDU – Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP):Was ist mit den Eigentümern?)

Ich meine eine richtig verstandene Freiheit; denn Freiheit ist keine absolute Freiheit. Freiheit ist immer verantwortete Freiheit im Rahmen einer Gemeinschaft.

(Beifall bei der CDU – Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): So etwas Blödes!)

Ganz so blöd ist das nicht, Frau Wagner.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Sie müssen das uns nicht vorhalten! Das ist blöd!)

Hören Sie einmal zu. – Machen wir uns das Prinzip von Freiheit und Verantwortung, diese Wechselbeziehung, an dem konkreten Beispiel, über das wir heute diskutieren, deutlich.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Ja, und da streite ich mit Ihnen!)

Frau Wagner, eine Gemeinschaft ist nur dann lebensfähig, wenn sie von den Einzelnen den Beitrag erfährt, den

sie braucht, um überleben zu können. Genau darum geht es hier.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Ruth Wag- ner (Darmstadt) (FDP))

Da wir aber wissen,dass auch die Einzelnen nur leben und überleben können, wenn die Gemeinschaft überlebensfähig ist, müssen wir eine Rahmenbedingung schaffen – im wohlverstandenen Sinne in diesem Zusammenhang –, die nicht in die Freiheit eingreift und im zweifachen Sinne Eigenverantwortung ermöglicht.

Die erste Form der Eigeninitiative, die dieser Gesetzentwurf unterstellt,ist die Initiative von privaten Akteuren in der Innenstadt,z.B.als Einzelhändler,Gewerbetreibende, Gastronomen und Immobilieneigentümer. Der zweite Grund der Freiheit, der hier gelegt wird, besteht darin, dass das Land nichts vorschreibt,sondern den Kommunen die Freiheit überträgt, im Rahmen der Gestaltung der örtlichen Gemeinschaft entsprechende Maßnahmen umzusetzen.

Sehr verehrte Frau Wagner, wir legen im Sinne der Freiheit ein hohes Quorum fest. Es ist allerdings ein Quorum, das denen,die initiativ sind und die Gemeinschaft stützen, die Möglichkeit gibt, sich gegen die wenigen Trittbrettfahrer durchzusetzen, gegen die wenigen, die sich zurücklehnen und keinen Anteil an der Gemeinschaftsentwicklung nehmen. Das ist der Punkt, bei dem es in diesen Ringen um Gleichheit und Freiheit in diesem Zusammenhang geht.

Dieses Konzept hat eine breite Zustimmung gefunden. Ich verweise auf Initiativen in der Stadt Marburg. Herr Schäfer-Gümbel, es hat mich in der Tat sehr gewundert, dass Sie gesagt haben, Sie sähen nicht, dass diese Landesregierung bzw. dieser Minister etwas getan habe.

(Günter Rudolph (SPD): Das stimmt!)

Ich kann nur sagen, ich habe Sie in Marburg nicht gesehen.Aber Herr Boddenberg hat zu Recht gesagt, Ihr Horizont reiche nicht über Gießen hinaus.

(Zurufe von der SPD: Na, na, na!)

Am 27.06. fand nämlich in Marburg ein bundesweit beachteter und mit Teilnehmern aus der ganzen Bundesrepublik bestückter Kongress zu diesem Thema statt. Auch Landtagsabgeordnete haben übrigens daran teilgenommen. Ich will Sie nicht kritisieren, weil Sie nicht anwesend waren. Aber weil Sie dort eine gewisse Ignoranz gezeigt haben, können Sie sich nicht hierhin stellen und sagen: Es geschieht nichts.

Ganz im Gegenteil, die erste Initiative, die freiwillig läuft und bereits umgesetzt ist,ist in Marburg ergriffen worden. In Kassel, in Wiesbaden, in Wetzlar, in Gießen und auch in kleinen Städten starten die Initiativen. Dort läuft dieser Prozess bereits. Wir schaffen die Möglichkeiten dafür, dass sich Gemeinschaft verantwortlich entwickelt.

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass diese Verantwortung von breiten Schichten getragen werden muss und auch wird.Alle Verantwortlichen, nämlich die Industrie- und Handelskammer, der Einzelhandelsverband, der Hotel- und Gaststättenverband und die Immobilienverbände, haben bei diesem Kongress gesagt: Ja, wir sind dabei.

Gerade die Immobilieneigentümer haben nämlich inzwischen erkannt, dass es nicht ausreicht, einen Laden nur zu vermieten – vielleicht schlecht zu vermieten – oder sogar

leer stehen zu lassen. Die Immobilieneigentümer haben erkannt, dass der Wert einer Immobilie auch von der Ertragskraft der jeweiligen Ladenlokale abhängt.Daher machen sie jetzt mit.

Wir sehen diese Entwicklung als einen weiteren wichtigen Eckpunkt in dem Gesamtkonzept der Entwicklung der Innenstädte. Ich bin sicher, die Kommunen werden die Möglichkeit aufgreifen, die wir ihnen bieten, wenn dieser Gesetzentwurf verabschiedet ist. Das wird einen weiteren Anstoß geben zu einer einheitlichen, gemeinschaftlichen und guten Entwicklung der Innenstädte. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU)

Zu einer Kurzintervention erteile ich Herrn Kollegen Riege das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Minister, ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, als Sie bereits eine Viertelstunde geredet,aber noch nichts zu dem Gesetzentwurf gesagt haben.

(Beifall bei der SPD)

Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie hier offenbart haben, dass Ihnen das Problem bewusst ist.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber auf die Frage, warum die Landesregierung nicht gehandelt hat, haben Sie bis heute nicht geantwortet.

(Beifall bei der SPD)

Die SPD hat die Oberbürgermeisterwahl in Kassel gewonnen, weil sie – mit Bertram Hilgen und dem 5-Millionen-c-Vorhaben – in dieses Konzept eingebunden war.

(Michael Boddenberg (CDU): Er hat die Leute belogen! – Weitere Zurufe von der CDU)

Ich begrüße ausdrücklich – das will ich nicht kleinreden –, dass die CDU auf diesen Zug gesprungen ist, mitsamt ihrem Generalsekretär und dem Minister. Aber ausgelöst wurde dies von den Betroffenen, und wir haben sehr nah an den Betroffenen in Marburg, Gießen und Kassel daran mitgearbeitet, aber auch auf kleinerer kommunaler Ebene.

Warum das ein ordnungspolitischer Missgriff sein könnte, was Ihnen die FDP vorwirft, dazu hätte ich von Ihnen schon gern etwas mehr gehört als nur das luftige Gerede von den Blüten, die da wachsen – bei einer Maßnahme „Ab durch die Mitte!“, die Sie da ergriffen haben.

(Günter Rudolph (SPD): So ist es!)

Ich finde, Sie sollten sich vor diesem Hause schon etwas konkreter zu den „Vorwürfen“ äußern,die Ihnen die FDP aus ordnungspolitischer Sicht macht. Mich würde Ihre Antwort darauf sehr interessieren.

(Beifall bei der SPD)

Erste Bemerkung: Der Minister hat nur zwölf Minuten geredet, keine Viertelstunde.

(Günter Rudolph (SPD): Es kam uns aber länger vor! – Weitere Zurufe von der SPD)

Zweitens. Das Wort hat Frau Kollegin Wagner.

Herr Präsident, wenn der Minister seine Redezeit ausfüllen möchte, lasse ich ihm gerne den Vortritt.

(Reinhard Kahl (SPD): Er soll die Frage beantworten!)

Aber Sie haben ja jederzeit das Recht, das Wort zu ergreifen.

Herr Minister, ich möchte noch einmal sagen, dass ich nicht in Ordnung finde, welche Vorwürfe Sie hier an die Adresse meines Kollegen Denzin gerichtet haben. Wenn ich es richtig sehe, gibt es in diesem Haus überhaupt keinen Unterschied in der Zielsetzung. Denn wir alle sind uns in der Analyse der Lage der Großstädte oder der mittleren Großstädte einig – da nenne ich Wiesbaden ebenso wie Darmstadt und Kassel, dann aber auch Gießen und Wetzlar.

Wir haben bei den kleinen Städten mit 20.000 Einwohnern bereits viel dramatischere Entwicklungen.In der Enquetekommission haben wir einvernehmlich vereinbart, dass wir demnächst dazu eine große Anhörung durchführen. In diesen Städten gibt es keine Dienstleistungen mehr.Auch in Hessen gibt es Städte, in denen es am Ende keine Dienstleistungen mehr geben wird. Wir stehen vor der Herausforderung,wie man bei einer alternden Gesellschaft dort überhaupt noch einkaufen – beim Bäcker, Metzger usw. – und eine Post und Sparkasse offen halten kann, nicht zu reden vom öffentlichen Personennahverkehr.

(Michael Siebel (SPD): Das ist doch gerade das Grundproblem dieser Initiative!)

Mein zweiter Punkt. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, wir alle – und dazu gehöre ich auch – haben als Kommunalpolitiker diese Entwicklung in den letzten 20, 25 Jahren mit befördert. Ich erinnere mich an Kommunalpolitiker der FDP, die mir als Landespolitikerin gesagt haben: Ihr müsst etwas gegen die Verödung der Innenstädte tun. – Gleichzeitig aber haben diese Kommunalpolitiker die Bebauungspläne für die grünen Wiesen beschlossen – nicht wir. Darum geht es doch.