Protokoll der Sitzung vom 31.01.2006

Meine Damen und Herren, die Mitarbeiter am Klinikum in Gießen haben schon die Aufforderung bekommen, unbezahlten Sonderurlaub zu nehmen, um das Defizit abzubauen.

(Petra Fuhrmann (SPD): Unglaublich!)

Sie müssen uns nicht erzählen, wo das hinführt. Es geht um die Abwicklung des Personals in Gießen und auch in Marburg.

(Frank Gotthardt (CDU): Herr Spies, dann sagen Sie, dass in Marburg schon im vergangenen Jahr Arbeitsplätze abgebaut worden sind – in öffentlichrechtlicher Trägerschaft! Ist das richtig oder nicht? – Andrea Ypsilanti (SPD): Kann man den nicht einmal abstellen? – Gegenruf des Abg.Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Heute darf der ausnahmsweise das HB-Männchen machen!)

Meine Damen und Herren, Herr Dr. Spies hört immer zu, wenn jemand dazwischenruft. Dann fühlt er sich nicht gestört. – Bitte schön, Sie haben das Wort.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD):Vielleicht glaubt er, dass noch etwas kommt!)

Meine Damen und Herren, Sie entscheiden heute doch nur über eine einzige Frage: ob Sie Hunderte von Arbeitsplätzen in Gießen und Marburg opfern wollen – nicht

weil es nicht mehr zu bezahlen wäre, nicht wegen der Globalisierung und des Wettbewerbs, nicht weil man diese Aufgabe nicht mehr braucht, nicht weil es keine Patienten mehr gäbe,nein,nur zu einem einzigen Zweck:Diese Landesregierung will sich aus der Verantwortung für das Universitätsklinikum Gießen und Marburg stehlen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Ich sage es noch einmal: Das ist nicht dem Unternehmen Rhön AG vorzuwerfen. Es ist der Landesregierung vorzuwerfen, weil sie es ohne Not tut. Man hätte alle Probleme in Gießen und Marburg, insbesondere die Investitionsbedarfe,lösen können,ohne das ganze Unternehmen zu verkaufen.

(Zuruf der Abg. Nicola Beer (FDP))

Das ist auch ein Stück weit ein Vorwurf an den Ministerpräsidenten, der nicht in der Lage war, einzusehen, dass seine voreilige Fusionsankündigung ein Fehler war, der nicht in der Lage war, diesen Fehler einzugestehen und der nicht versucht hat, ihn zu korrigieren, als er merkte, dass er in Gießen damit nicht durchkommt.

(Zuruf des Abg. Frank Gotthardt (CDU))

Meine Damen und Herren, es gab mehr als genug Angebote, gemeinsam über alle Grenzen hinweg nach einer Lösung zu suchen.

(Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Nein,dazu fehlte es Ihnen an Größe.Es gab nur eines:Augen zu und durch, die Gießener ruhig stellen, den gesamten Komplex verkaufen und das Ganze auch noch als modern darstellen. – Meine Damen und Herren, was soll daran modern sein, eine Einrichtung zu verkaufen?

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Aus der Sicht eines Sozialisten ist es auch nicht modern!)

Was soll denn daran modern sein, Probleme nicht zu lösen? Denn genau das tun Sie. Sie entledigen sich eines Problems, von dem Sie sich überfordert fühlen.

(Frank Gotthardt (CDU): Forschungsförderung!)

Meine Damen und Herren, dieser Verkauf ist kein wunderbar neues, schönes modernes Gespinst. Der Kaiser ist nackt. Das ist alles.

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP) – Michael Boddenberg (CDU): Wer klatscht eigentlich? – Frank Gotthardt (CDU): Eine Stiftung zur Forschungsförderung ist ganz modern!)

Meine Damen und Herren, dass die Privatisierung vor allem auf Kosten des Personals geht und dass das auch Konsequenzen für die Qualität hat, haben wir hinreichend diskutiert.

(Michael Boddenberg (CDU): Das behaupten Sie, Herr Dr. Spies! Sie sind der Einzige, der das behauptet! Ihre eigenen Gutachter haben Sie im Ausschuss widerlegt!)

Herr Boddenberg, ich höre immer wieder mit großem Interesse, wie Sie den Stand der Wissenschaft referieren.

(Michael Boddenberg (CDU): Sie sind der Einzige!)

Lassen wir den Punkt beiseite. Ich wollte auf etwas anderes eingehen.

Meine Damen und Herren, was ist eigentlich der Zweck eines Krankenhauses? Was brauchen die Leute, die in ein Krankenhaus gehen? Sie brauchen gute, moderne Medizin auf dem Stand der Wissenschaft. Daran haben wir gar keinen Zweifel.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Medizin ist aber nicht nur ein technisches Fach. Krankenhäuser sind nicht nur Gesundheitsfabriken. Medizin bedient sich der Naturwissenschaften. Aber dazu gehört mehr. Die wissenschaftliche Begründetheit, die technischhandwerkliche Perfektion der Medizin ist die notwendige Grundlage ärztlichen Handelns. Aber das ist beileibe keine ausreichende Grundlage. Das gilt nicht nur für Ärzte. Das gilt für alle Berufsgruppen im Krankenhaus. Wir erwarten nicht nur eine technisch einwandfreie Versorgung. Krankenhäuser sind auch Orte, an denen Menschen Beistand, Mitgefühl und Empathie erwarten. Das sehen allerdings nicht alle so.

Auf dem Deutschen Krankenhaustag vor drei Monaten konnten wir von McKinsey lernen, was man unter Produktivität eines Krankenhauses versteht: Fälle pro Mitarbeiter, also Behandlungseinheiten, Kostenfaktoren. Menschen werden reduziert auf einen Behandlungsfall.

Was sagt der neue Chef, was sagt Eugen Münch? Er läutet das Zeitalter der industrialisierten Gesundheitsdienstleistungen ein.

(Zurufe von der SPD: Oh!)

Industrialisierte Gesundheitsdienstleistungen: Ist das die Medizin, die Sie wollen – eine Medizin die sich als ein Stück eines Industrieprodukts versteht? Das Organisationskonzept des neuen Betreibers heißt Fließkonzept. Ihre Assoziation ist nicht abwegig. Ist es das, was wir wollen? Eine Medizin, die Schmerzen als ein Nervenphänomen begreift, eine Medizin, die auf das Leiden des Patienten damit reagiert, dass sie eine neue Maschine dazwischen schiebt,die die Symptome abfragt? Das Problem einer derart aus dem Ruder gelaufenen Medizin ist gar kein spezielles Problem dieses Krankenhauses. Dieses Problem geht sehr viel weiter.

Ich habe in einer Diskussion einen ärztlichen Kollegen erlebt, der von einer Patientin berichtete, die ihn an zwei Tagen dreimal zum Hausbesuch gebeten habe. Die Frau habe gar keine richtig schlimme Krankheit gehabt, wegen der man einen Hausbesuch hätte machen müssen. Ich habe ihn gefragt, was er mit der Frau gemacht habe. Er schaute mich ganz verwundert an und sagte: Wissen Sie, wenn sich jemand so einsam fühlt, dass ihm nichts Besseres einfällt, als den Hausarzt herbeizurufen, weil es sonst keinen Menschen gibt, mit dem er reden kann, dann hätte man vielleicht wenigstens den Pfarrer oder die Diakonie – oder wen auch immer – kontaktieren können, weil man möglicherweise über eine Ebene von Leiden redet,für die man sich zwar nicht zuständig fühlt, die man aber auch nicht ignorieren kann.

Medizin ist, wie jede soziale Aufgabe, etwas anderes als eine industrielle Produktion. Das gilt auch dann, wenn sich der Aufwand nicht rechnet. Das gilt auch dann, wenn es ein paar Cent Krankenkassenbeitrag oder ein paar Euro vom Gewinn des Unternehmens kostet, dass Zeit da ist, um den Menschen mehr zu geben als technisch ordentliche Medizin.

(Beifall bei der SPD)

Zum Glück gibt es das in unseren Krankenhäusern.Aber wie lange noch? Im Jubelantrag der CDU-Fraktion heißt es: „innovatives Medizinkonzept hinsichtlich einer exzellenten Krankenversorgung“. Meine Damen und Herren, haben Sie Ihren Antrag eigentlich gelesen? Ich habe ihn gelesen. In diesem „innovativen Medizinkonzept“ des Herrn von Eiff – der Minister hat darauf verwiesen – kommen kranke Menschen nicht vor – in der Rede des Ministers übrigens auch nicht. Stattdessen spricht man darin von Fällen, Fallpauschalen, Häufigkeiten sowie von der Ausrichtung der Abteilungen nach optimaler Auslastung.

Meine Damen und Herren, vielleicht hätte man dieses hoch innovative Konzept tatsächlich einmal zur Diskussion stellen sollen.Vielleicht wäre es ein echter Fortschritt gewesen, wenn wir, statt über Abteilungszuordnungen in der „Quertapete“ zu sprechen, einmal in Ruhe darüber diskutiert hätten, welche Art von Medizin die Menschen in Mittelhessen eigentlich wollen. Diese Frage kann man nicht mit Mehrheit entscheiden. Diese Frage entscheidet sich nicht mit Mehrheit, sondern dadurch, dass man in einer zivilisierten Gesellschaft in einem diskursiven Prozess einen Konsens findet.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Das ist Unsinn! Am Ende entscheidet in der Demokratie die Mehrheit!)

„Industrialisierte Gesundheitsdienstleistungen“, so lautet der Begriff. Menschlichkeit im Krankenhaus kann man aber nicht verordnen, und sie kann auch nicht als „industrialisierte Dienstleistung“ hergestellt werden. Menschen verstehen andere Menschen.Sie tun es intuitiv,und sie tun es insbesondere dann, wenn es um Leiden, also um eine emotionale Beanspruchung geht.Sie tun es gern,sie tun es aufmerksam. Sie tun es aber nicht als Bestandteil eines Marketingkonzepts oder „industrialisierter Dienstleistungen“. Dann wird Menschlichkeit zur Attrappe.

(Beifall bei der SPD)

Das hat übrigens nichts mit der Schwarzhumorigkeit zu tun, die in Heilberufen durchaus verbreitet ist. Hinter schwarzhumoriger Grobheit kann sich nämlich genau diese Mitmenschlichkeit verstecken. Ein Bild, das Medizin als Industrieprodukt begreift, tut das nicht mehr.

Meine Damen und Herren, der Siegeszug der modernen Medizin war natürlich ein naturwissenschaftlicher Siegeszug. Die beiden Universitätskliniken, die Sie heute verkaufen wollen, hatten einen wesentlichen Anteil am Siegeszug der modernen Medizin als Naturwissenschaft. Niemand kann ernsthaft wollen, dass wir davon abrücken. Das reicht aber nicht. Ein Mensch ist eben mehr als die Summe seiner Organe und biologischen Phänomene. Es ist der Aspekt der Menschlichkeit, der den Unterschied zwischen Ärzten und „Humaningenieuren“ ausmacht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wo geht die Reise hin? Zu den Ärzten oder zu den „Humaningenieuren“? Vielleicht gibt es sogar „Humanwirtschaftsingenieure“. Die Hochschulmedizin ist jedenfalls ein ganz falscher Ort, um der Ökonomie Vorrang zu geben.

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Wenn es nämlich jemand lernen muss, dass es eine klare Priorität gibt, dann sind das unsere angehenden Ärzte. Zuerst kommt die Versorgung der Menschen, danach die Frage nach der Ökonomie.

(Beifall bei der SPD – Dr.Christean Wagner (Lahn- tal) (CDU): Es gibt seit Jahrhunderten private Krankenhäuser! Sie reden so einen Unsinn! – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP)

Herr Abgeordneter, gestatten Sie Zwischenfragen?

(Zurufe von der CDU und der FDP)