Protokoll der Sitzung vom 22.04.2008

Der nächste Punkt. Wir halten nichts davon, eine Regelung nur für ein weiteres Jahr zu erlassen, wie es bei dem ursprünglichen Gesetzentwurf, den wir im letzten Jahr beschlossen haben, der Fall gewesen wäre.Wir meinen, dass die Regelung für einen längeren Zeitraum – wir sagen: bis zum 31.12.2012 – gelten muss, damit allen Betroffenen Planungssicherheit gegeben wird. Der Landeswohlfahrtsverband kann sich dann darauf einstellen,mit den Trägern stationärer Einrichtungen konkret darüber zu verhandeln,dass sie Plätze im stationären Bereich zugunsten von Plätzen im betreuten Wohnen abbauen. Dann muss der LWV ihnen aber anbieten können, das betreute Wohnen zu finanzieren. Wenn der Träger der stationären Hilfe sagt: „Baue mal bitte deine Plätze ab und kümmere dich um die Kommunen, die dir vielleicht bei der Finanzierung des betreuten Wohnens helfen“, dann ist das kein Erfolg versprechender Weg. Deshalb meinen wir, es muss über einen längeren Zeitraum bei der jetzt gefundenen Zuständigkeit bleiben.

Das enthebt uns aber nicht der Diskussion darüber, wie die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und die Behindertenhilfe in Hessen insgesamt künftig organisiert werden sollen. Wir haben nach wie vor eine gespaltene Zuständigkeit,weil nämlich Teile der ambulanten Eingliederungshilfe bereits bei den Kommunen angesiedelt sind. Wir haben eine gespaltene Trägerschaft bei der Hilfe zur Pflege. Wir haben die Diskussion, ob wir nicht das Bundesgesetz weiterentwickeln müssen. Unsere grüne Fraktion hat gerade einen Antrag zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Behinderte in den Bundestag eingebracht. Ich nenne nur ein Beispiel: Die bisher verstreut geregelten Nachteilsausgleiche sollen zu einem sogenannten Teilhabegeld zusammengefasst werden.Es gibt also verschiedene inhaltliche Diskussionen, die wir gut

nutzen können, wenn wir zunächst den ewigen Streit um die Zuständigkeiten für einen gewissen Zeitraum geklärt haben.

Deshalb meinen wir, es ist richtig, die Zuständigkeit dem LWV zu belassen – für einen längeren Zeitraum, nämlich bis Ende 2012. Dann können wir beizeiten darüber entscheiden, wie es weitergeht. Wir müssen aber zunächst einmal Sicherheit schaffen. Ich denke, wir sollten zwar nicht hektisch, aber zügig beraten und noch vor der Sommerpause zu einem Ergebnis kommen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Herr Dr. Jürgens. – Frau Staatsministerin.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Dr. Jürgens, ich habe mich insbesondere über den letzten Teil Ihrer Ausführungen gefreut, als Sie gesagt haben: Das müssen wir sehr offen miteinander diskutieren, es reicht nicht, einen Gesetzentwurf vorzulegen, wie mit den vielen unterschiedlichen Zuständigkeiten umgegangen wird.

Auch mit diesem Gesetzentwurf wird nicht erreicht, dass wir eine Hilfe aus einer Hand – der Grundgedanke der Behindertenhilfe – bekommen. Wir sollten über diesen Gedanken intensiv weiter diskutieren. Ich denke, wir sollten uns in den nächsten Monaten die Zeit nehmen, um diese Diskussionsprozesse vorzubereiten, damit man zu Ergebnissen kommen kann.

Das Schwierigste ist, das haben auch Sie angesprochen, auf der einen Seite eine Qualitätsdiskussion und auf der anderen Seite eine Diskussion über die Finanzen zu führen und dabei die richtigen Finanzströme zu finden, denn an den Finanzströmen ist an der Stelle schon vieles gescheitert.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gab in den letzten Jahren eine ganz breite Einigkeit,sowohl im Landtag als auch bei der kommunalen Familie, dass das betreute Wohnen ein Baustein des Gesamtkonzepts einer bedarfsorientierten Versorgung von Menschen mit Behinderungen ist und dass wir genau in diesem Bereich dem individuellen Hilfeanspruch besser Rechnung tragen müssen, um ein größtmögliches Maß an selbstständiger Lebensführung zu ermöglichen, den Grundsatz „ambulant vor stationär“ tatsächlich umzusetzen und dabei das Wahlrecht der Betroffenen in höchstmöglichem Maße zu berücksichtigen.

In der Diskussion wurde bereits angesprochen,dass wir es in Hessen in den vergangenen Jahren geschafft haben,den Ausbau des betreuten Wohnens weiter voranzutreiben und vor allem die Behinderten, die bisher in der Familie lebten und eine Unterbringung im betreuten Wohnen suchten, sofort in Einrichtungen für betreutes Wohnen aufzunehmen. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass aus meiner Sicht eine ganz wichtige Voraussetzung dafür war,dass wir im Jahr 2003 eine Übereinkunft zwischen der Landesregierung, den Kommunalen Spitzenverbänden, allen 26 Gebietskörperschaften und dem Landeswohlfahrtsverband erreicht haben, die zum einen den Wechsel der Zuständigkeiten beinhaltete, die aber vor allem zum anderen erstmals festgelegt hat, wie der Ausbau des be

treuten Wohnen weitergehen soll. Herr Kollege Brückmann, Sie waren bei der Unterzeichnung dabei, damals noch als Erster Beigeordneter – heute sind Sie Landesdirektor.Wir haben damals klare Quoten für Hessen aufgenommen. Hessen stand zwar nicht schlecht da, wir hatten aber eine sehr unterschiedliche Verteilung des betreuten Wohnens in Hessen, und die Frage des Zugangs hat eine große Rolle gespielt. Damals haben wir in einer Vereinbarung zwischen allen Gebietskörperschaften, dem LWV und dem Land Hessen festgeschrieben, jährlich mindestens 440 Plätze neu zu schaffen.

Ich denke, man kann heute durchaus stolz darauf sein, dass es so umgesetzt wurde, dass mehr Plätze als die vereinbarten 440 jährlich neu geschaffen wurden. Es waren durchschnittlich 523 Plätze.

Aber mir ist vor allem ein weiterer Punkt wichtig, der vereinbart wurde: Damals haben wir erstmalig eine Fachkommission eingesetzt, deren Mitglieder den gesamten Prozess des Ausbaus begleiten und steuern, sich die Methode anschauen und die Verfahren überprüfen, Daten neu erheben und in Diskussionen vor Ort, z. B. in Belegungskonferenzen, darauf hinwirken, dass nicht nur der Grundsatz „ambulant vor stationär“, sondern auch der wohnortnahe Ausbau umgesetzt wird.Das heißt,dass man tatsächlich dort bleiben kann, wo man vorher war. Das wurde mit aufgenommen.

Ich stelle fest, dass es seit dem Jahr 2003 innerhalb der Kommunalen Spitzenverbände zu einer neuen Diskussion darüber gekommen ist. Sonst würden wir dieses Thema im Landtag wahrscheinlich nicht neu behandeln. Damals haben 26 kreisfreie Städte und Kreise der Übertragung zugestimmt. Wir haben in der letzten Anhörung durchaus noch Stimmen gehört, die sich für eine Übertragung ausgesprochen haben.

Wir haben auch in der vergangenen Legislaturperiode einen Antrag, damals von der CDU-Fraktion gestellt, angenommen, in dem die Landesregierung gebeten wurde, noch einmal in Gespräche mit den Spitzenverbänden einzutreten. Dem sind wir nachgekommen. Dort wurde uns signalisiert, dass man dazu bereit sei. Wir haben damals nicht über eine Verlängerung um fünf Jahre diskutiert, die Sie jetzt vorsehen, sondern über eine einjährige Verlängerung, damit wir über das gesamte Gesetzesvorhaben sprechen können.

Aber da wir dieses Thema jetzt wieder im Plenum behandeln und es eine Anhörung geben soll, wird sich dort die Möglichkeit ergeben, darüber zu sprechen, wie die Kreise weiter damit umgehen wollen. Wir sollten nämlich bei all den Diskussionen über die Zuständigkeiten vor allem eines in den Mittelpunkt stellen:Wir haben inzwischen eine weitere Errungenschaft.

Wir haben nicht nur mehr Plätze im betreuten Wohnen, sondern wir haben es tatsächlich geschafft, dass vor Ort gemeinsame Konferenzen stattfinden, dass unterschiedliche Verbände mit eingebunden sind – nämlich auf der einen Seite die Gebietskörperschaften, die nach wie vor für die Menschen zuständig sind, bevor sie in das betreute Wohnen wechseln, und auf der anderen Seite der LWV – und dass wir die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Formen auch unter dem Gesichtspunkt Wahlrecht weiter aufrechterhalten, obwohl man ganz klar dazusagen muss: Bisher ist es laut all der Daten, die die Fachkommission erhoben hat, nur in sehr wenigen Fällen zu einer Rückkehr in die stationäre Unterkunft gekommen. Aber das hat es durchaus auch gegeben. Es waren einige Fälle.

Ich glaube, ihr Anteil belief sich auf 1 bis 2 %. So kann genau darauf geachtet werden, dass das dauerhaft gewährleistet bleibt.

Insofern werden wir auch als Mitglieder der Landesregierung dieses Thema in der Anhörung gern weiterhin konstruktiv begleiten. Für uns steht im Mittelpunkt, dass das, was die Fachkommission aufgenommen hat, weiter umgesetzt werden kann und dass wir uns anschauen, wie der Ausbau der Einrichtungen und die Behandlung des Themas aus einer Hand gewährleistet werden können.

Das wird nämlich weder mit diesem Gesetzentwurf noch mit einem Wechsel der Zuständigkeiten geleistet, sondern das bedarf einer weitaus längeren Diskussion. Dieser Diskussion sollten sich sowohl die Vertreter der Gebietskörperschaften als auch die des LWV und des Landes als Partner stellen,um so zu guten Lösungen für die Familien, aber auch für die einzelnen Betroffenen zu kommen;denn es geht um die Menschen mit Behinderungen und ihre Bedarfe.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Erster Vizepräsident Lothar Quanz:

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nun sind wir am Ende der ersten Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz zur Änderung des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.

Zur weiteren Beratung soll der Gesetzentwurf an den Sozialpolitischen Ausschuss überwiesen werden. – Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD für ein Gesetz zur Änderung des Hessischen Schulgesetzes – Drucks. 17/48 –

in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 7:

Erste Lesung des Gesetzentwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz zur Änderung des Hessischen Schulgesetzes – Drucks. 17/51 –

Zur Einbringung des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion darf ich Frau Kollegin Habermann an das Rednerpult bitten. Eine Redezeit von zehn Minuten pro Fraktion ist verabredet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die SPDFraktion bringt heute einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Hessischen Schulgesetzes ein, der in einem ersten Schritt vier Fehlentwicklungen korrigieren will, mit denen Eltern, Schulen und Schulträger in der letzten Legislaturperiode konfrontiert wurden.

(Beifall bei der SPD)

Es ist der erste Gesetzentwurf; denn nur in einer umfassenden Überarbeitung kann das Ziel erreicht werden, die Grundlagen für eine Schule zu legen, die ganzheitlich, individuell und früh fördert sowie Chancengleichheit und ein qualitativ hohes Leistungsniveau miteinander vereinbaren kann.

Dazu bedarf es einer größeren Zahl von Lehrerstellen, und es bedarf einer finanziellen Ausstattung der Schulen, die ihnen diese Arbeit ermöglicht. Dazu bedarf es auch zusätzlicher Änderungen im Schulgesetz.

(Beifall bei der SPD)

Wir beschränken uns deshalb heute auf vier Punkte, wobei die Änderungen in ihren Auswirkungen kostenneutral sind, und werden bei den weiteren Initiativen zugunsten eines neuen Schulgesetzes auch dafür sorgen, dass sie ihren Niederschlag in den Beträgen des Einzelplans 04 finden.

Die vier Punkte,die wir aufgegriffen haben,sollen ein Signal für mehr Chancengleichheit, für eine stärkere Selbstverantwortung der Schulen, für eine größere Beteiligung der Eltern und für eine Stärkung des Schulträgers sein.

Als ersten Punkt beantragen wir, den Begriff „Unterrichtsgarantie plus“ aus dem Schulgesetz zu streichen und die Verwendung der für dieses Programm zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von 30 Millionen c von den bisherigen bürokratischen Auflagen zu befreien.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Schulen sollen in eigener Verantwortung entscheiden, wie die verlässliche Schule gestaltet wird. Die Praxis, dass die Vertretung einer ausgefallenen Unterrichtsstunde mit dem Etikett „Fachunterricht“ versehen werden muss, auch wenn keine ausgebildete Lehrkraft zur Verfügung steht, soll im Interesse der Schulen und der Schüler beendet werden.

Verträge sollen längerfristig abgeschlossen werden können, um dem Schulprofil entsprechende Angebote entwickeln zu können, die auch im Fall einer ausgefallenen Unterrichtsstunde für eine sinnvolle Beschäftigung sorgen. Dabei ist die Einbeziehung von Sozialpädagogen oder anderweitig qualifizierten Personen erwünscht. Deren Angebote können im Interesse einer lebendigen und offenen Schule den Schülern neue Impulse und neue Hilfestellungen vermitteln.

Parallel dazu muss natürlich auch über eine bessere Versorgung mit Lehrkräften nachgedacht werden; denn wo Unterricht draufsteht, müssen Lehrkräfte drin sein.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Unterrichtsgarantie plus war zu lange ein Feigenblatt für das gebrochene Versprechen, das Abhalten des Unterrichts zu garantieren, und ließ die Schulen das ausbaden, was die Personalpolitik des Kultusministeriums versäumt hatte.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens wollen wir die Möglichkeit der Querversetzung aus dem Schulgesetz streichen, die vom Hessischen Kultusministerium 1999 erfunden wurde. Seit 2005 kann eine Querversetzung auch ohne Einwilligung der Eltern erfolgen. Das Instrument der Querversetzung ist in erster Linie ein Instrument der Auslese und pädagogisch wertlos. In Einzelfällen war es in Abklärung zwischen der Schule und den Eltern schon immer möglich, den Wechsel eines Kindes von einer Schule auf eine andere zu vollziehen. Diese Regelung halten wir für ausreichend.

Die Querversetzung als Regelinstrument bedeutet jedoch, für die Schüler eine Rutschbahn nach unten aufzubauen, wenn das Lerntempo und das Lernpensum zu ei

nem bestimmten Zeitpunkt vom Klassendurchschnitt abweichen. Es ist eben selten zum Wohle eines Kindes, wenn es zusätzlich zu individuellen Lernproblemen einen erzwungenen Schulwechsel verkraften muss.

Reinhard Bauß, der Vorsitzende der AG der Gymnasialdirektoren, stimmt uns zwar nicht zu, dass man dieses Instrument ohne Ersatz abschaffen will. Aber er sagt in einer Stellungnahme in der „FAZ“, dass Querversetzung selten eine gute Lösung sei. Wenn solche Kinder auf anderen Schulen als Verlierer aus dem Gymnasium ankämen, könne sie das sehr belasten.

(Beifall bei der SPD)