Protokoll der Sitzung vom 29.03.2012

Einen solchen Anreiz einzuführen, der Eltern das Gefühl vermittelt, sie sollten zu Hause bleiben und einen Zuschuss erhalten, das ist kontraproduktiv für die Förderung der Beschäftigung.

Philipp Rösler sollte man erwähnen, solange er noch Bundesvorsitzender ist. Auch Philipp Rösler sagt: Wir müssen das Betreuungsgeld dringend überprüfen.

Selbst die Frauen-Union auf Bundesebene, Frau Böhmer von der Frauen-Union

(Zuruf der Staatssekretärin Petra Müller-Klepper)

ich kann es Ihnen zitieren, Frau Staatssekretärin –, sagt: Das Betreuungsgeld ist das falsche Instrument zur falschen Zeit. Es ist das falsche Signal. Es ist das falsche Ausgeben der Gelder, statt sie in gute Qualität, in Infrastruktur zu stecken und so eine tatsächliche Wahlfreiheit für alle Eltern zu ermöglichen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Landesregierung, verhindern Sie das. Im Moment wird auf Bundesebene noch gekämpft. Noch ist nicht entschieden. Noch wird über Modelle gestritten. Wir GRÜNE schlagen Ihnen ein Modell vor: Streichen Sie das Betreuungsgeld, uns stecken Sie es in die Infrastruktur. Wir erwarten von der Landesregierung, dass sie sich dafür einsetzt. – Danke schön.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Wort hat Frau Abg. Wiesmann für die CDU-Fraktion.

Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute tatsächlich über ein Vorhaben der Berliner Koalition, das uns aber auch als Christdemokraten in Hessen sehr wichtig ist. Es geht um zwei Dinge: die Wahlfreiheit von Familien und die Verantwortung von Eltern. Beides wollen wir durch eine zusätzliche finanzielle Leistung, das Betreuungsgeld, stärken als Anerkennung für diejenigen Mütter oder auch Väter, die ihr Kind auch nach dem ersten Lebensjahr für eine begrenzte Zeit in größerem Umfang selbst betreuen und erziehen wollen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Über die Ausgestaltung ist noch nicht entschieden. Das ist richtig. Als hessische CDU-Fraktion haben wir ein vom Grundgedanken her ähnliches Elterngeld II gefordert und dafür konkrete Vorschläge unterbreitet.

Der Antrag der GRÜNEN, der heute auf dem Tisch liegt, fordert uns auf, das Vorhaben insgesamt aufzugeben und die Mittel in die Infrastruktur zu stecken. Ich will vier Motive nennen, dies abzulehnen.

Erstens: Bildung. Diese beginnt in der Familie.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Richtig!)

Ihnen, liebe Antragsteller, muss Bildung in der und durch die Familie fast schon verdächtig sein. Ihr Antrag nimmt sie jedenfalls nicht wahr. Liest man genau, so stellt man fest, frühkindliche Bildung findet ausschließlich in Einrichtungen und der Tagespflege statt. – Ich will gar nicht widersprechen, dass sie dort stattfindet.

(Zuruf des Abg. Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Familien gestehen Sie zwar hoch zu schätzende Erziehungsleistungen zu. Das Wort Bildung sucht man dort aber vergeblich.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir sagen ganz klar, dass der erste und wichtigste Bildungsort die Familie ist. Die elementarsten Prozesse von Weltwahrnehmung, Selbstvergewisserung und Persönlichkeitsbildung finden in den ersten Jahren dort statt. Das hört danach auch nicht auf.

Wer vom Betreuungsgeld als Fernhalteprämie oder gar als Verdummungsprämie spricht – das haben Sie nicht gemacht, das will ich ausdrücklich würdigen; aber andere machen es –, der ignoriert eine innerfamiliäre Bildungsleistung, die kein Staat je vollständig ersetzen kann, und diskreditiert die Eltern, von deren Bereitschaft, sie gegebenenfalls auch zulasten eigener Interessen zu erbringen, die ganze Gesellschaft stillschweigend profitiert.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Motiv zwei: Kindeswohl. Kleinkinder brauchen emotionale Stabilität. Darauf weisen Forscher seit Langem hin. Emotionale Stabilität in den ersten Jahren ist grundlegend für die kognitive und die soziale Entfaltung später. Erst die Bindung, dann die Bildung.

Wir reden heute nicht über robuste Kindergartenprofis, sondern über Zwei- und vor allem Einjährige, die häufig noch unsicher sind, wenn sie die schützende Nähe des familiären Umfelds aufgeben sollen. Bildungsforscher sagen, das Sich-nach-außen-Wenden von Kleinkindern findet im Schnitt in der Mitte des dritten Lebensjahres statt. Deshalb gehören alle Dreijährigen in den Kindergarten. Aber deshalb ist es auch richtig, den Übergang der Kleinst- und Kleinkinder in die außerfamiliäre Betreuung behutsam zu gestalten. Auch dies erleichtert das Betreuungsgeld.

(Beifall bei der CDU)

Motiv drei: Verantwortung. Eltern ist etwas zuzutrauen. Die allermeisten Eltern – das wurde von Herrn Wagner eben schon gesagt – wollen und können gut für ihre Kinder entscheiden. Sie können auch mit dem Familienportemonnaie sehr gut umgehen. Der Generalverdacht, den Sie in Ihrem Punkt 4 formulieren, wer Eltern Bares gebe, enthalte es faktisch den Kindern vor, ist unbegründet und fahrlässig. Wer ihn vorbringt, nimmt die überwältigende Mehrzahl der hoch verantwortungsbewussten Eltern in Haftung für das Fehlverhalten oder die Überforderung einer kleinen, wenn auch wichtigen Minderheit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir verkennen nicht, dass es diese Familien in schwierigen Bedingungen gibt. Aber man muss anderes für sie tun. Sie brauchen Unterstützung, aufsuchende Elternarbeit, frühe Hilfen, Eltern- und Familienbildung. Das muss geschehen, das geschieht auch, vielleicht noch zuwenig. Aber ein latentes Grundmisstrauen allen Eltern gegenüber ist nicht angebracht.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Viertens – und damit auch zum Schluss –: Wahlfreiheit. Eltern sollen entscheiden können, wie sie leben wollen. Deshalb engagieren wir uns massiv für den Ausbau der familienunterstützenden Infrastruktur. Da sind wir mit Ihnen

völlig einig. Aber aus demselben Grund wollen wir diejenigen anerkennen und entlasten, die sich völlig freiwillig für stärkere Eigenleistungen entscheiden.

Im Übrigen plädiere ich nicht für eine Ausgleichssubvention. Deshalb sollte das Betreuungsgeld auch nicht an die Nichtinanspruchnahme außerfamiliärer Betreuung gebunden sein. Ich setze auf den Anreiz, der mit der Anerkennung verbunden ist. Eltern haben mehr Zeit für Zuwendung, wenn sie sich vorübergehend weniger Erwerbsarbeit leisten können. Ob dann ein Kind noch stundenweise in die Krabbelstube geht oder zur Tagesmutter, ist mir dabei relativ egal.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Dr. Matthias Büger (FDP))

Zusammenfassend, letzter Satz. Familien brauchen Freiheit. Im Übrigen sind sie auch mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Ein klug ausgestaltetes Betreuungsgeld – darum werden wir noch kämpfen – gibt ihnen als Gesamtheit mehr Spielraum, um die vielfältigen Erwartungen, die sie an sich selbst haben und die auch wir in der Erziehung und Bildung ihrer Kinder an sie richten, zu erfüllen.

Erforderlich sind zudem eine flexible Kinderbetreuung – noch flexibler als heute schon –, familienfreundlichere Arbeitsbedingungen für Mütter und Väter wie auch eine bessere Anerkennung familiärer Sorgearbeit – nicht nur für Kinder – in den Sozialversicherungen.

Eltern sind Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Sie haben unseren Respekt, unsere Anerkennung und unsere Unterstützung verdient. Dazu trägt das Betreuungsgeld bei. Kämpfen wir darum, dass es klug ausgestaltet wird, und machen wir an dieser Stelle nicht nur schöne Worte. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Das Wort hat Herr Abg. Merz für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die Regierungskoalition hat sich im November 2011 darauf verständigt, ein sogenanntes Betreuungsgeld einzuführen, das Eltern erhalten sollen, die ihre Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr zu Hause betreuen. Sie sollen dafür ab 2003 100 € im Monat für das zweite Lebensjahr erhalten, ab 2014 soll der Betrag für das zweite und dritte Lebensjahr auf 150 € steigen. Die Einführung des Betreuungsgeldes für Mütter und Väter würde jedoch bildungs-, frauen- und familien- sowie arbeitsmarkt- und finanzpolitisch falsche Anreize setzen.

Statt eine frühzeitige Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu fördern, schafft das Betreuungsgeld gerade für Frauen einen finanziellen Anreiz, dem Arbeitsmarkt auch im zweiten und dritten Lebensjahr ihres Kindes fernzubleiben. Dabei sind lange familienbedingte Erwerbsunterbrechungen eine wesentliche Ursache für spätere Nachteile in der Karriere- und Einkommensentwicklung. Das Betreuungsgeld steht damit auch im Gegensatz zur politischen Zielsetzung, mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen und bestehende Entgeltunter

schiede zwischen Frauen und Männern abzubauen. Es ist widersprüchlich, von den Unternehmen zu erwarten, dass rasch mehr Frauen in Führungspositionen kommen, und gleichzeitig Anreize zu setzen, die Frauen vom Arbeitsmarkt fernhalten.

Die Notwendigkeit eines Betreuungsgeldes wird unter anderem damit begründet, dass Eltern nur so Wahlfreiheit hätten, ob sie ihr Kind ausschließlich selbst erziehen oder auch durch andere betreuen lassen. Dieses Argument überzeugt schon deshalb nicht, weil Eltern heute keineswegs gezwungen sind, ihr Kind durch andere betreuen zu lassen. Im Gegenteil ist die Wahlfreiheit heute dadurch beschränkt, dass Eltern, die Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen, oftmals keine ausreichende und qualitativ hochwertige Kinderbetreuungsinfrastruktur zur Verfügung haben. Das ist gerade vor dem Hintergrund des wachsenden Arbeits- und Fachkräftebedarfs gravierend, weil Eltern dadurch bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in gewünschtem Umfang gehindert werden. …

(Beifall bei der SPD und des Abg. Marcus Bocklet (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Gegen das Argument, das Betreuungsgeld sei als Ausgleich für nicht in Anspruch genommene staatlich geförderte Kinderbetreuung geboten, spricht zudem, dass das Betreuungsgeld auch bei Inanspruchnahme einer staatlich geförderten Tagesmutter gewährt werden soll. Im Übrigen ist es ein abwegiger Gedanke, Bürgern staatliche Ausgleichszahlungen dafür zu leisten, dass sie staatlich finanzierte bzw. geförderte Infrastruktur nicht in Anspruch nehmen, und wird schon mit Blick auf die damit verbundenen Kosten auch in anderen Fällen... nicht umgesetzt.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Das Betreuungsgeld würde Mehrausgaben von rund 1,5 Milliarden € jährlich

andere Schätzungen sind 2 Milliarden € jährlich –

erfordern, was mit Blick auf die notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen nicht zu verantworten ist. Vorrangig muss zudem sein, dass der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen endlich in ausreichender Weise vorankommt.

Die ersten Lebensjahre eines Kindes ermöglichen besonders große Lernfortschritte. Sie müssen gezielt genutzt werden. Kinder der wachsenden Gruppe aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Schichten besuchen seltener und später eine Kinderbetreuungseinrichtung als andere Kinder. Vor allem brauchen sie eine frühestmögliche intensive sprachliche Förderung, die das Elternhaus in diesen Fällen nicht immer leistet. Gerade hier wirkt das Betreuungsgeld nachteilig, weil es dazu beitragen kann, dass notwendige frühzeitige und gezielte Förderung unterbleibt. Nach allen Untersuchungen ist aber gerade diese frühe Förderung von fundamentaler Bedeutung für den späteren Bildungs- und Lebensweg.

Unabdingbare Voraussetzung