Das heißt, wer für die Gewaltfreiheit bei Demonstrationen eintritt, verteidigt auch das Recht der friedlichen Demonstranten und wendet sich dagegen, dass das Demonstrationsrecht missbraucht wird, so, wie es am 31. März bei einer Reihe von Menschen tatsächlich der Fall war. Die GRÜNEN haben mit der Formulierung in ihrem Antrag eindeutig recht.
Jetzt gibt es aber – das ist der andere Teil der Choreografie – einen Dreischritt der Argumentation. Lassen Sie mich nun fast 45 Jahre zurückgehen und an den Gemeinschaftskundeunterricht in einer Frankfurter Schule erinnern: Dort wurde darüber geredet, wie man Argumentationsmuster herstellt. Eines der Argumentationsmuster – es stammte aus einem Bundestagswahlkampf – funktionierte so: Wir führen die DDR mit all ihren Schrecken vor Augen, weisen darauf hin, dass dieser mit der Sozialdemokratie in einem Zusammenhang steht, und erklären somit, dass die Sozialdemokratie identisch ist mit dem, was in der DDR passiert.
Dieses Argumentationsmuster taucht, mit Verlaub, bei Ihnen wieder auf. Der erste Schritt – den teilen wir – besteht in der Verurteilung der Gewalt. Das ist völlig unstreitig. Der zweite Schritt sieht so aus: Wenn 10 % der Teilnehmer an einer Demonstration gewalttätig agieren, werfen Sie die restlichen 90 % mit diesen in einen Topf. Diesen Schritt teilen wir ausdrücklich nicht.
Der dritte Schritt Ihrer Argumentation ist: Wenn es bei einer Demonstration zu Gewalt kommt, ist das Anliegen, um das es geht, so diskreditiert, dass man es nicht mehr zu beachten braucht. Das halten wir schlicht für dumm.
Das Demonstrationsrecht – da bin ich sehr bei Herrn Bellino – hat in der deutschen Verfassung einen ziemlich hohen Stellenwert. Zwei Grundgesetzartikel sichern dieses Recht ab. Zunächst Art. 5 GG:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. (2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Aber selbst dieses Gesetz verlangt keine Erlaubnis. Es verlangt, da dieses Grundrecht so hoch einzuschätzen ist, nur eine Anmeldung.
Herr Bellino, damit kommen wir zu dem spannenden Punkt: zu dem, was Sie über Frankfurt gesagt haben. Sie können nämlich, was diese Frage betrifft, nur eine Demonstration, die bereits stattgefunden hat, beurteilen. Da teilen wir die Verurteilung der Gewalt. Aber Sie reden über die Zukunft, und an dieser Stelle gehen Sie hinter das zurück, was das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich beschrieben hat:
... bleibt... der... Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist.... sowie die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel voraus, welche den friedlichen Demonstranten eine Grundrechtsverwirklichung ermöglichen.
Das ist ein Zitat aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985. Genau gegen dieses hart festgelegte Grundrecht und gegen die Grundrechtsinterpretation verstößt derzeit die Frankfurter Ordnungsbehörde;
denn sie unternimmt nicht einmal den Versuch, das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit zu sichern, indem sie im Vorfeld weder über Auflagen debattieren lässt noch Einschränkungen macht, sondern einfach erklärt: Wir verbieten das insgesamt. – Ich glaube, dass das nicht mit dem Verfassungsrecht, das ich eben zitiert habe, in Übereinstimmung steht.
Das hat, ehrlich gesagt, auch etwas mit Zutrauen zu tun. Ich traue zunächst einmal jedem Bürger und jeder Bürgerin zu, dass sie ihre Grundrechte verantwortungsvoll wahrnehmen. Mit den anderen muss ich mich auseinandersetzen. Davor habe ich überhaupt keine Scheu. Das mache ich hier und notfalls auch dort, wo sie sich befinden. Das ist überhaupt kein Punkt.
Kommen wir zu dem inhaltlichen Punkt: Wenn in allen politischen Bereichen über die sogenannte Eurokrise diskutiert wird, ist es, mit Verlaub, das gute demokratische Recht der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, ihre Meinungen auch in Demonstrationen zum Ausdruck zu bringen. Das würde für mich auch dann gelten, wenn ich keinen einzigen Satz von dem, was die Demonstranten sagen, teilen würde. Voltaire hat gesagt: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich will mein Leben dafür einset
zen, dass du es sagen darfst“, und – Sie werden das vielleicht nicht so gern hören – Rosa Luxemburg hat erklärt: „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Das ist ein eherner Grundsatz.
Für mich gehört auch dazu, dass in einer Demokratie Menschen – Wählerinnen und Wähler, Bürgerinnen und Bürger – anders entscheiden können, als ich es für vernünftig halte. Wer z. B. dem griechischen Volk eine Volksabstimmung untersagt, macht einen groben Fehler. Die können fehlerhaft entscheiden; aber darüber zu reden, ob sie es dürfen oder nicht, halte ich für hoch problematisch unter dem Aspekt der Demokratie.
(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Volksabstimmung wäre übrigens besser ausgegangen als die Wahl!)
Eben. Diese Art von Politik hat dazu geführt, dass diejenigen gestärkt worden sind, die der Vernunft nicht gerade das Wort reden.
Auch die Sache ist, mit Verlaub, klar; denn dieser Tatsache kann man ebenfalls nicht ausweichen: Wer Konsolidierung betreibt, ohne gleichzeitig Anstöße zu wirtschaftlichen Entwicklungen zu geben, schädigt nicht nur die Volkswirtschaften, sondern er stürzt darüber hinaus die Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut.
Das hat nicht einmal etwas mit Ökonomie zu tun, sondern das folgt schlicht den Gesetzen der Logik. Wenn Sie darüber nachdenken, dass erstens der Staat deutlich weniger Geld ausgeben soll, dass zweitens die Löhne sinken sollen und dass sich dann drittens die Frage stellt, woher, bitte schön, das Geld für die Investitionen kommt, werden Sie wissen wollen, wie eigentlich das Wirtschaftswachstum funktionieren soll.
Das ist nicht einmal Ökonomie, sondern simple Logik. An der Stelle brauchen wir einen anderen Weg, der die Konsolidierung mit Wachstumsimpulsen verbindet. Sonst werden die Menschen nicht aus dem Elend erlöst, sondern erst recht ins Elend gestürzt.
Die Frage, welche geschäftlichen Risiken von den Steuerzahlern abgesichert werden, was dazu führt, dass sie bei privaten Entscheidungen einspringen – Kreditentscheidungen, Investitionsentscheidungen –, ist der politischen Debatte zugänglich. Sie muss auch politisch debattiert werden. Dass Spekulationsgewinne geschützt werden sollen, steht jedenfalls nicht im Grundgesetz, und dass diejenigen, die diese Wirtschaftskrise verursacht haben, davonkommen sollen, während andere dafür bezahlen, steht ebenfalls nicht im Grundgesetz. Auch das muss relativ deutlich gesagt werden.
Ich glaube, dass für die Bewältigung dieser Krise eher mehr aktive Bürgerinnen und Bürger notwendig sind, die sich überall engagieren, z. B. in Demonstrationen, aber auch – was mir persönlich noch lieber ist – in politischen Parteien. – Herzlichen Dank.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Grumbach außerordentlich dankbar dafür, dass er hier – in diesem Fall ging es wieder einmal um das ritualisierte Aufeinanderprallen der LINKEN und der CDU – eine sachliche Debatte geführt, sich mit den Grundrechtsnormen auseinandergesetzt und diese einander gegenübergestellt hat.
Wir erleben es im Hessischen Landtag schon seit einigen Sitzungen, dass man sich gegenseitig braucht, um ein Thema zu setzen.
Wir haben das eben schon wieder erlebt. Wenn man sich die Anträge durchliest, stellt man fest, sie sind so angelegt, dass sie morgen früh – schlimmstenfalls – zu einer verspäteten Kaffeepause führen werden, weil sich der Ältestenrat mit diesen Dingen beschäftigen muss. Ich danke dem Kollegen Grumbach ausdrücklich dafür, dass er das in eine sachliche Debatte zurückgeführt hat.
Meine Damen und Herren, das Grundrecht auf Meinungsäußerung aus Art. 5 GG und die Demonstrationsund Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG sind in unserem Land ein hohes Gut. Dieses Grundrecht müssen wir schützen, pflegen und verteidigen. Ich hoffe, darüber sind wir uns in diesem Haus alle einig.
Vielleicht erinnern wir uns einmal daran, dass uns viele Menschen in anderen Ländern um diese Errungenschaften beneiden und dass in vielen Ländern die Menschen erbittert um das Recht kämpfen, sich frei versammeln und ihre Meinung frei äußern zu können. Viele Menschen in vielen Ländern kämpfen dafür und riskieren dabei zum Teil ihr Leben. Deshalb sollten wir dieses Gut schützen und das Recht auf Versammlungsfreiheit hoch schätzen.