Protokoll der Sitzung vom 28.06.2012

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Rehabilitierung verurteilter homosexueller Menschen – Drucks. 18/5542 –

Auch hierzu ist eine Redezeit von fünf Minuten vorgesehen. Als Erster hat sich Herr Klose gemeldet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Genau heute vor 43 Jahren haben sich im Stonewall Inn in New York zahlreiche Homosexuelle den willkürlichen Razzien und Verhaftungen durch die Polizei widersetzt. Der 28. Juni 1969 ist deshalb der Geburtstag des Christopher Street Days. Er ist wie kein anderer ein Wendepunkt in unserem Kampf, im Kampf derjenigen um Anerkennung und Gleichbehandlung, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurden.

Wir Schwule und Lesben verdanken diesen Menschen – viele wurden in den fünf Tage andauernden Straßenschlachten schwer verletzt – ungeheuer viel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Meine Damen und Herren, dieses Ereignis vor 43 Jahren und das Ziel unseres Antrags stehen in einem ganz engen Zusammenhang; denn in Deutschland hat der § 175 des Strafgesetzbuchs seit 1872 jede Art der erotischen Begeg

nung zwischen zwei Männern mit Strafe belegt. Nach einer Lockerung in den Zwanzigerjahren wurde er 1935 noch einmal verschärft. Diese verschärfte Fassung galt bis 1969 unverändert fort. So kam es vor, dass jemand aus dem Konzentrationslager befreit und anschließend zur Verbüßung der sogenannten Reststrafe wieder inhaftiert wurde. Razzien, Rosa Listen, Denunziationen und Anzeigen waren an der Tagesordnung und bedeuteten für viele homosexuelle Männer ein Leben in ständiger Angst.

Zwischen 1945 und 1969 kam es in der Bundesrepublik zu 100.000 Ermittlungsverfahren und ca. 50.000 Verurteilungen nach §§ 175 und 175a. Strafandrohungen, Ermittlungen und Verurteilungen, das Verbüßen der Gefängnisstrafen sowie die Zerstörung der bürgerlichen Existenz haben das Leben einer ganzen Generation schwuler Männer intensiv und massiv eingeschränkt und bedroht.

Dieser Paragraf widerspricht der seit 1949 im Grundgesetz garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit, und er ist deshalb auch nachträglich nicht hinzunehmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Es ist nachgerade absurd, dass wir im Jahr 2002 nur diejenigen Opfer des § 175 rehabilitiert haben, die während der NS-Diktatur verfolgt und verurteilt wurden. Für diejenigen Opfer, die nach 1945 nach wortgleich demselben Unrechtsparagrafen verurteilt wurden, steht Gleiches aber noch aus.

Ich frage Sie: Können wir es wirklich vertreten, zu sagen, dass menschenrechtswidrige Urteile nur wiedergutgemacht werden, wenn sie von einer Diktatur verhängt wurden? Wie können wir einem Opfer des § 175 in die Augen sehen und ihm sagen: „Tut mir leid, Sie wurden zu spät verurteilt“?

Wir GRÜNE sind der Großen Koalition des Landes Berlin deshalb dankbar, dass sie mit einem Gutachten belegt hat, dass eine Rehabilitierung der Opfer der §§ 175 und 175a aus verfassungsrechtlichen, verfassungspolitischen und völkerrechtlichen Erwägungen heraus geboten ist und nicht im Widerspruch zur Rechtsstaatsgarantie des Grundgesetzes steht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Deshalb möchten wir mit unserem heute vorliegenden Antrag erreichen, dass auch das Land Hessen, vertreten durch die Hessische Landesregierung, den Antrag des rotschwarzen Berliner Senats im Bundesrat unterstützt und die Bundesregierung auffordert, Maßnahmen für die Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen.

Meine Damen und Herren, auf dem Klaus-Mann-Platz in Frankfurt steht seit 1994 das Mahnmal Frankfurter Engel. Auf seinem Sockel erinnert es an die Verfolgung Homosexueller: „… in dem Bewusstsein, dass Männer, die Männer lieben, und Frauen, die Frauen lieben, immer wieder verfolgt werden können“.

Lassen Sie uns in genau diesem Bewusstsein die Initiative aus Berlin unterstützen, als heute politisch Verantwortliche das damals geschehene Unrecht erkennen und Verantwortung für die Wiedergutmachung übernehmen. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Schönen Dank, Herr Klose. – Für die SPD-Fraktion spricht Frau Hofmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte nahtlos an das anknüpfen, was Herr Klose eben in seiner Rede verdeutlicht hat. Die Verurteilung homosexueller Menschen in der früheren BRD, aber auch in der damaligen DDR, gehört zu den dunklen Kapiteln der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und Deutschlands insgesamt. Besonders bedenklich stimmt, dass diese dunkle Vergangenheit überhaupt nicht hinreichend historisch aufgearbeitet oder erforscht worden ist – bis zum heutigen Tage.

Bis 1994 wurden in Deutschland homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt. Zeitlich davor wurden sogar lediglich erotische Annäherungen oder Handlungen, die als solche interpretiert wurden, unter Strafe gestellt. Besonders beschämend ist – das möchte ich hier herausstellen –, dass § 175 StGB, der noch lange galt, aus der NS-Zeit stammte. Das ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Fallzahlen hat Herr Klose eben schon dargelegt. Ich möchte aus einem anderen Blickwinkel konkretisieren, was die Verurteilung und Verfolgung der Betroffenen bedeutet hat. Anfang der Fünfzigerjahre gab es eine massive Verhaftungs- und Prozesswelle hier in Hessen, in Frankfurt am Main, die etwa dazu führte, dass ein 19-Jähriger vom Goetheturm sprang oder auch ein Zahntechniker mit seinem damaligen Partner sich mit Leuchtgas vergiftete.

Aber auch andere dramatische Folgen hatte es für die Betroffenen. Sie waren gesellschaftlich ausgegrenzt, mussten oftmals ihren Beruf aufgeben und wurden absolut ins soziale Abseits gedrängt. Sie wurden tief in ihren Persönlichkeitsrechten getroffen. Es gibt Betroffene, gar Überlebende, die bis zum heutigen Tage tief beschämt sind und sich aus diesem Grunde nicht outen. Natürlich betraf diese Unterstrafestellung auch lesbische Frauen.

Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh darum, dass das Land Berlin diese Bundesratsinitiative ergriffen hat, einmal um die Betroffenen endlich zu rehabilitieren. Aber das Land Berlin hat auch einen Forschungsauftrag erteilt, um dieses dunkle Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte entsprechend historisch aufzuarbeiten.

Dazu gehört auch, dass die Spruchpraxis der Strafgerichte, aber auch des Bundesverfassungsgerichts, das noch 1957 die Strafbarkeit homosexueller Handlungen mit dem Hinweis auf den Verstoß gegen das Sittengesetz bestätigte, kritisch hinterfragt und beleuchtet wird.

Meine Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, dass es längst überfällig ist, dass wir diese Betroffenen rehabilitieren, dass wir noch lebende und heutige Betroffene bei der Bewältigung der Folgen und ihrer Traumatisierung entsprechend begleiten und unterstützen. Bestärkt werden wir in unserem Handeln auch durch die Rechtspre

chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bereits 1981 und in Folge in vielen Urteilen das Unterstrafestellen von homosexuellen Handlungen als menschenverachtend gegeißelt hat.

Also unterstützen wir diese Bundesratsinitiative aus dem Land Berlin. Prüfen wir kritisch die formelle Aufhebung der einschlägigen Strafurteile und die Entschädigungsregelung. Meine Damen und Herren, werden wir endlich tätig.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herzlichen Dank, Frau Hofmann. – Für die CDU-Fraktion hat sich Herr Honka gemeldet.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Da der Sachverhalt von meinen beiden Vorrednern bereits ausreichend dargelegt ist, brauche ich ihn um diese Uhrzeit hier nicht zu wiederholen. Da wir die Verständigung haben, dass wir uns im Ausschuss in Ruhe mit diesem sensiblen Thema beschäftigen können, bin ich sehr dankbar dafür, dass wir dort etwas mehr Zeit haben als nur die fünf Minuten, die hier zur Verfügung stehen würden.

Von daher freue ich mich auf eine ruhige, sachliche und dem Thema angemessene Behandlung, die wir dann zwar erst nach den Sommerferien, aber in aller Ruhe im Rechtsausschuss miteinander vornehmen können. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Schönen Dank, Herr Kollege Honka. – Für die Fraktion DIE LINKE hat sich Herr Dr. Wilken gemeldet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist zu so später Stunde noch einmal richtig harter Tobak, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Kurz auf den Punkt gebracht, ist es äußerst schwer verständlich, wenn Unrecht, das im Nazideutschland geschehen ist, in diesem Falle vor allem gegenüber Schwulen, in beiden Staaten Nachkriegsdeutschlands weiter Rechtsbestand hatte.

Es ist schwerer Tobak, dass wir uns auch 30 Jahre nach den ersten entsprechenden Urteilen vom Bundesverfassungsgericht bzw. vom Europäischen Gerichtshof, dass die Benachteiligung, insbesondere die rechtliche Benachteiligung, von Homosexuellen eine Verachtung der Menschenwürde darstellt, immer noch mit diesem Thema befassen müssen.

Ich denke, es sollte selbstverständlich sein, dass wir dieses Unrecht, das vor allem an Schwulen, aber durchaus auch an Lesben begangen worden ist, endlich korrigieren, auch wenn es in einem Rechtsstaat sehr schwierig ist, rechtsgültige Urteile zu revidieren. In diesem Fall müssen wir es tun, weil diese Urteile in einem Menschenbild gefallen sind, das nicht mehr unserem Menschenbild entsprechen darf.

Es ist unsere Aufgabe, juristisch, aber vor allen Dingen weiterhin auch gesamtgesellschaftlich dafür zu sorgen, dass gleichberechtigt anerkannt sein muss, wie wir leben und wie wir lieben. Das sage ich auch mit ausdrücklichem Blick über unsere Landesgrenzen hinweg, weil die Selbstverständlichkeit, mit der wir mittlerweile in Deutschland damit umzugehen gelernt haben, leider in ganz Europa noch lange nicht Realität ist. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Wilken. – Für die FDP-Fraktion, Herr Mick, bitte.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe Herrn Dr. Wilken recht, es ist vollkommen richtig: kurz vor Ende der Tagesordnung noch einmal richtig harter Tobak.

Ich habe mich in Vorbereitung auf diesen Antrag auch mit der Historie dieser Regelung befasst. Ich muss sagen, dass so etwas bis 1994 noch Gültigkeit in Deutschland hatte, das ist schon hart. Ich wusste, dass das irgendwann einmal unter Strafe stand und dass das irgendwann einmal abgeschafft wurde. Aber dass die Homosexualität in Deutschland so lange strafbar war, ist schon wirklich harter Tobak. Das hatte ich vorher so gar nicht auf dem Schirm. Es hat mich schon ziemlich schockiert.

Die Beispiele, die Herr Klose und Frau Hofmann geschildert haben, waren sehr eindrücklich. Ich denke auch, dass wir zu einer vernünftigen Lösung kommen müssen. Herr Honka hat es bereits geschildert: Wir werden den Antrag noch einmal gemeinsam im Rechtsausschuss beraten.

Wir haben jetzt eine längere Phase der Sommerzeit vor uns. Als Fraktion werden wir – ich denke, auch die anderen Fraktionen – uns die Zeit nehmen, uns in unserem Arbeitskreis zu besprechen, und werden nach dem Ende der Sommerpause im Rechtsausschuss dieses Thema sehr konstruktiv und zielorientiert debattieren, was in diesem Fall keine Floskel ist. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Schönen Dank, Herr Kollege Mick. – Für die Landesregierung, Herr Staatsminister Hahn.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bisher in der Rechtsgeschichte unseres Landes erst zweimal vorgekommen, dass eine generelle Rehabilitation durchgeführt worden ist. Das war einmal bei gravierenden Unrechtsurteilen aus der SED-Zeit, und das ist zum zweiten Mal bei gravierenden Unrechtsurteilen aus der Nazidiktatur – die Reihenfolge war natürlich falsch – gemacht worden.

Wir – die Hessische Landesregierung und auch ich als Person – sind der festen Auffassung, dass wir an diese Rechtstradition nunmehr anknüpfen müssen und dass wir uns mit der Thematik auseinanderzusetzen haben. Es ist ein Unrechtsgedanke gewesen, dass man an sexuellen Bezügen entsprechende Straftaten normiert hat. Das ist für einen Rechtsstaat ein schmerzhafter Prozess.

Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich der Kollege aus Berlin dieses Prozesses auch engagiert für uns alle angenommen hat. Wir, die Justizminister der Bundesrepublik Deutschland, haben uns über die Thematik schon mehr als einmal ausgetauscht. Für mich ist es folgerichtig, dass man über die Aufhebung der Urteile auf alle Fälle nachdenken muss, die in der Bundesrepublik bis 1969 auf der Grundlage der von Herrn Klose und anderen schon erwähnten Vorschrift des § 175 StGB erlassen worden sind.