Sitzenbleiben ist eine sinnlose Maßnahme. … Dann haben wir da mehrere internationale Untersuchungen, die eindeutig aufweisen: Wenn man Schüler trotz schwacher Leistungen mitnimmt, lernen sie in den Fächern, in denen sie bisher Probleme hatten, mehr, als wenn man sie sitzen lässt.
Ich wollte noch den Ministerpräsidenten zitieren, der erklärt hat, wer Schluss mit dem Sitzenbleiben macht, raubt den Kindern Lebenserfahrung. Meine Damen und Herren, ich hätte ihn hier gern gefragt,
warum er seinem Neffen im Jahr 2009 diese Lebenserfahrung vorenthalten hat, als er dafür gesorgt hat
ich werde den Satz noch zu Ende reden dürfen –, dass sein Neffe mit 0 Punkten in Geschichte zum Abitur zugelassen wurde, obwohl diese Regelung jeder – –
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist das Allerletzte, was hier abgeht! – Judith Lannert (CDU): Das geht so nicht!)
Frau Kollegin, bitte. Ich habe schon zugegeben, weil Sie unterbrochen wurden. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich für alle darauf achten muss, dass es ordnungsgemäß abläuft.
Als nächste Rednerin hat sich Frau Kollegin Cárdenas für die Fraktion DIE LINKE zu Wort gemeldet. Bitte schön.
(Judith Lannert (CDU): Dabei war es eh nur Quatsch! – Zurufe der Abg. Torsten Warnecke (SPD) und Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Schade, dass die Landesregierung hier nicht auf ihren Plätzen sitzen geblieben ist. Ich würde es gut finden, wenn sie da wäre.
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sie ist doch da! – Dr. Frank Blechschmidt (FDP): Der Staatssekretär ist doch da! – Weitere Zurufe)
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Die Rede muss er sich wirklich nicht antun! – Holger Bellino (CDU): Er wird Wichtigeres zu tun haben, als Ihrer Rede zu lauschen! – Glockenzeichen der Präsidentin)
Frau Präsidentin, sehr geehrte Abgeordnete! In vielen Ländern – Frau Habermann hat sie schon benannt – gibt es auf einmal Bewegung, auch in Deutschland. Bremen, Thüringen, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg: Alle bemühen sich inzwischen, Alternativen zum Sitzenbleiben zu finden, nur nicht Hessen, wo die CDU das Sitzenbleiben als den Heiligen Gral eines leistungsorientierten Bildungssystems sieht.
Sind die deutschen Bildungspolitiker jeder Couleur plötzlich über Nacht klug und zu Menschenfreunden geworden?
Bereits in den Siebzigerjahren, als ich Erziehungswissenschaften studierte, war klar, dass Sitzenbleiben schädlich ist und in einem schülerorientierten Bildungssystem keinen Platz hat. Aber das hat damals die Politik nie geschert. Auf einmal hat man allerorten Kreide gefressen. Das kommt woher? – Das kommt natürlich von den klammen Kassen, wegen der Schuldenbremse, mit der man sich selbst geknebelt hat, statt eine vernünftige Bildungs- und Steuerpolitik zu machen.
(Beifall bei der LINKEN – Günter Schork (CDU): Wer hat denn das Sitzenbleiben abgeschafft? In Nordrhein-Westfalen haben Sie 70 Stellen gestrichen! – Gegenruf des Abg. Hermann Schaus (DIE LINKE): Was interessiert uns Rheinland-Pfalz?)
Herr Schork, Sitzenbleiben ist tatsächlich teuer. Da haben Sie recht. Der Bildungsforscher Klemm hat ausgerechnet, dass dadurch bundesweit 16.500 Lehrerstellen gebunden sind, was ca. 850 Millionen € jährlich ausmacht.
Bertelsmann macht es mit 1 Milliarde € etwas teurer. Auch das Saarland und Berlin haben schon eindrucksvolle Berechnungen angestellt.
Nun möchte Ministerpräsident Bouffier uns allen, aber auch den fleißigen Neoliberalen von der FDP, die bald eventuell auch die grandiosen Einsparmöglichkeiten begreifen werden, eine klare Kante zeigen: Mit uns nicht, wir sind hier wertkonservativ und verteidigen den Wert des Sitzenbleibens.
Denn sonst bräuchten wir auch die Noten nicht mehr. Ohne Sitzenbleiben fehlt uns die Rechtfertigung für das Abschulen. Dann fehlen uns sowieso sämtliche Leistungsanreize. Ohne den Dreiklang von Notengebung, Sitzenbleiben und Abschulen wird aus dem gegliederten Schulsys
Wir kennen inzwischen recht genau die Dimension dieses Problems. Wir wissen Bescheid über die Verteilung in den jeweiligen Bundesländern, und wir wissen, wie wichtig es ist, dass zu den 250.000 Sitzenbleibern noch die 200.000 Schüler gerechnet werden, die jährlich abgeschult werden oder die Schule abbrechen.
Das heißt, fast eine halbe Million Schülerinnen und Schüler verlassen unser Bildungssystem und scheitern daran. Meine Damen und Herren, das ist durch nichts zu rechtfertigen. Das können wir nicht weiter hinnehmen.
An Argumenten gegen das Sitzenbleiben bringen betroffene Schüler Folgendes vor: Sie hätten keine Lernmotivation mehr. Sie fühlten sich gedemütigt und bestraft, auch durch den Verlust der vertrauten Lehrer und ihrer Freunde in der Klasse. Sie fühlten sich stigmatisiert und ungerecht behandelt, weil sie wegen zwei Fünfern auf einmal alle Fächer noch einmal ein ganzes Jahr lang machen müssen. – Viel unnötiges Leid.
Es gibt auch Gewinner durch das Sitzenbleiben. Das sind die Nachhilfeinstitute, die sich schon durch G 8 eine goldene Nase verdient haben. Durch drohendes Sitzenbleiben sichern sie sich immer noch verlässlich hohe Gewinne.
Überhaupt gibt es doppelt so viele Sitzenbleiber bei G 8 wie bei G 9. Das passt zusammen. Was würden wir vorschlagen?
Abschaffen, und zwar so schnell wie möglich, nicht nur perspektivisch, wie Frau Habermann gesagt hat. Zugleich sollte mit dem eingesparten Geld, also 1 Milliarde €, das Frühwarnsystem ausgebaut werden. Das hat Finnland Schlechte-Noten-Feuerwehr genannt. Es sollten rechtzeitig ausreichende kostenfreie Unterstützungsangebote gemacht werden, eingebettet in einen rhythmisierten Ganztag, durchgeführt von ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen.
Uns ist klar: Solange wir ein gegliedertes Schulsystem haben – der GEW-Vorsitzende Nagel spricht von einem gespaltenem Schulsystem; Herr Schork, können Sie bitte zuhören –, in dem in der Regel von den Gymnasien in die Real- und Hauptschulen abgeschult wird, und solange wir ein standardisiertes Benotungssystem haben, das nicht die Fortschritte beim einzelnen Schüler dokumentiert, sondern demütigende, weil ungerechte Vergleiche zwischen den Schülern zieht, so lange erscheint das Sitzenbleiben insgesamt notwendig durch seine systemstabilisierende Funktion.
Zugleich ist aber auch Folgendes richtig – da bin ich nicht an der Seite von Peer Steinbrück –: Jede Schule, die keine Ziffernnoten mehr vergibt, die frühzeitig individuell auf gezeigte Leistungsschwächen eingeht, die Nachteilsausgleiche anbietet, die jahrgangübergreifend arbeitet und damit Sitzenbleiben vermeidet, die als inklusive Schule jedes Kind aufnimmt und kein Kind wegschickt
ich komme zum Ende –, jede dieser Schulen, die immer mehr werden, ist vielleicht noch eine Insel, aber zugleich ein Stachel. Er entfaltet Macht, weil nämlich Menschen sehen: Es geht auch ohne Ausgrenzung, es geht ohne Selektion, ohne Bestrafung, ohne Beschämung.
Nochmals an Herrn Ministerpräsidenten Bouffier gerichtet: Wir wollen keinen Kuschelwahlkampf, aber wir erwarten, dass er die Zeichen der Zeit erkennt und endlich ein schülerorientiertes Arbeiten in den Schulen zulässt. – Ich bedanke mich.
Vielen Dank, Frau Kollegin Cárdenas. – Als nächster Redner hat sich Kollege Wagner vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Wort gemeldet. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Was ist das sicherste Zeichen, dass in Hessen wieder Landtagswahl ist? Die CDU radikalisiert sich in bildungspolitischen Fragen und bauscht Konflikte auf, wo eigentlich keine Konflikte sein sollten.