Nun etwas zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen.Herr Irmer,dazu haben Sie fast gar nichts gesagt, aber das ist eigentlich der Kern des Antrags.
Bildung und Erziehung münden hier zusammen. Lassen Sie mich deshalb einige wesentliche Schlüsselqualifikationen nennen, die es zu vermitteln gilt. Da ist zunächst die Demokratiefähigkeit zu nennen:junge Menschen zur Teilhabe zu befähigen, sie zur Partizipation zu befähigen, Schüler zu ermuntern, für sich und andere einzutreten und Verantwortung zu übernehmen. Es geht zweitens um die Erziehung zur Friedfertigkeit. Dabei gilt es, die Fähigkeit zu vermitteln, Konflikte auszuhalten, Konflikte friedlich und solidarisch zu lösen. Es geht drittens um die Erziehung zur Hilfsbereitschaft, zur Solidarität, zur Achtung der Würde des anderen, und auch um die Erziehung zur Empathie.Viertens. In einer Welt, die immer schneller zusammenwächst, gilt es, globale Zusammenhänge zu begreifen. Daher muss interkulturelle Bildung gelehrt und gelebt werden. Es muss gelehrt werden, Unterschiede zu akzeptieren, Toleranz zu üben gegenüber dem Andersdenkenden – ohne dies mit Beliebigkeit zu verwechseln –, Toleranz, die dort Grenzen setzt, wo die Würde eines anderen verletzt wird.
Das ist der wesentliche Bildungsauftrag von Schule, und dabei können die Gedenkstätten eine wesentliche Rolle spielen. Wir wollen starke, informierte Persönlichkeiten, die widerstandsfähig gegen Indoktrination, widerstandsfähig gegen Intoleranz sind und die sich nicht von diskriminierenden Ideologien blenden lassen. Ich sage: Wehret den Anfängen! Wir wissen, dass gerade Rechtsextremisten versuchen, über die modernen Medien junge Leute für ihre verquasten Theorien und Ideologien zu gewinnen. Das beste Mittel, dem entgegenzutreten, ist eine starke und gebildete Persönlichkeit.
Das hat auch Konsequenzen für den Schulalltag. Mehr projektorientiertes Lernen ist angesagt, mehr selbstständiges Lernen – und zwar an verschiedenen Lernorten.
Meine Damen und Herren, die Zeit signalisiert, dass ich zusammenfassen und zum Schluss kommen muss. Am Ende des Naziterrors standen Millionen Ermordete,stand der Holocaust,standen Millionen von Kriegstoten,Millionen von Vertriebenen, stand ein zerstörtes und geteiltes Land. Nur in einem Teil des Landes gelang es, die grundlegenden Werte der Demokratie, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit in praktische Politik und in gelebte Humanität umzusetzen – wobei wir soziale Probleme nicht ausblenden und nicht übersehen. Im anderen Teil Deutschlands dauerte es noch weitere 40 Jahre, bis diese grundlegenden Werte auch hier im Alltag erfahren werden konnten und gelebte Realität wurden. Dies bleibt der Auftrag, den wir an die nächste Generation weitergeben. Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sind unteilbar. Sie hängen zusammen, sie bedingen sich gegenseitig. Allen Versuchen, auch nur einen Teil da
(Anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU, der FDP und der LINKEN)
Vielen Dank, Herr Kollege Quanz. – Das Wort hat Frau Kollegin Schulz-Asche für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Die Rede war eines Vizepräsidenten würdig! – Günter Rudolph (SPD): Ja, eine gute Rede! – Volker Hoff (CDU): Sie spielen sich hier als Schiedsrichter auf! – Weitere Zurufe von der CDU – Gegenruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Herr Hoff, in Moralfragen sind Sie gar kein Schiedsrichter!)
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Kollegin Schulz-Asche. Ich darf Sie bitten, sich zu beruhigen und mir nicht zuzurufen,was ich hören soll.Hier oben wird gehört, was gehört wird, hier wird nicht nach Parteien gefragt.Hören Sie jetzt bitte Frau Kollegin Schulz-Asche zu.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Quanz, ich möchte Ihnen für diese dem Anlass angemessene Rede ausdrücklich danken. Es war eine sehr gute Rede. Sie hat alles umfasst, was gesagt werden muss, und sie war wirklich so, dass sie mir sehr zu Herzen gegangen ist.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN – Zurufe von der CDU)
Auf der anderen Seite erfüllt mich die Rede des Kollegen Irmer mit tiefer Scham. Ich habe nicht geglaubt, dass es möglich ist, in diesem Hause unter dem Beifall von CDU und FDP eine solche Rede zu einem solchen Anlass zu halten.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Lebhafte Zurufe von der CDU)
Wir haben einen Antrag der SPD-Fraktion vorliegen,dem wir zustimmen werden.Wir haben einen nicht ganz so guten Antrag der CDU-Fraktion vorliegen, zu dem wir einen Änderungsantrag gestellt haben. Wenn es im Ausschuss gelingt, vernünftig über diese Themen zu reden, dann kann sich Herr Irmer vielleicht ein bisschen zurückhalten,
sodass es gelingen sollte, einen gemeinsamen Antrag zu formulieren, der dem 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung unseres Landes, wirklich angemessen ist.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Axel Wintermeyer (CDU): Sie versuchen sich hier in Geschichtsklitterung! Haben Sie sich das schon vorher aufgeschrieben? – Weitere Zurufe von der CDU)
Meine Damen und Herren, es ist selbstverständlich richtig, Museen und Gedenkstätten zur deutschen Geschichte zu besuchen. Das ist eine gemeinschaftliche und notwendige Form der Erweiterung des Wissens und der Kultur bewussten Erinnerns. Beides ist eine Voraussetzung für eine lebendige Demokratie.Das gilt natürlich auch für die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Es ist eine besondere Herausforderung für die Pädagogik, die man anwendet, Kindern nicht Erlebtes erfahrbar zu machen und gleichzeitig kritisches Hinterfragen zu fördern; denn die Lehrer, die Eltern und die Großeltern sind ja Teil der Geschichte, ihre Werte und Einstellungen sind durch diese Geschichte und durch ihre eigenen Erfahrungen geprägt.
Wie kann man Geschichte vermitteln? Wir haben Bilddokumente von der Prager Botschaft, von der Öffnung der Mauer, von hupenden Autos, von jubelnden Menschen. Wie aber vermittelt man die Angst im Alltag? Wie vermittelt man den Schrecken in Gefängnissen, wie das Misstrauen gegenüber Freunden, den Verrat durch Familienmitglieder? Joachim Gauck hat am 3. Oktober in der Paulskirche gesagt: Die Bewohner der ehemaligen DDR erinnern sich nicht gern an den Teil der Geschichte, der schmerzt. Aber an das Hinnehmen des Unrechtsregimes, das ist keine Spezialität der Ostdeutschen.
Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben innerhalb von 60 Jahren zum zweiten Mal eine Diktatur aufzuarbeiten. Wir befassen uns nicht nur mit der Schwierigkeit,das zu machen,sondern auch mit der Leichtigkeit der Verdrängung.
Wir haben Opfer, die versuchen, ihre Verletzungen psychischer und physischer Natur zu überwinden. Wir haben glücklicherweise Zeitzeugen, die zu einer guten Erinnerungskultur beitragen. Wir haben Täter, die guten Grund haben, ihre Taten und Motive zu verschweigen.
Schließlich haben wir die sogenannten Mitläufer, die 80 bis 90 % der Bevölkerung ausmachen. Sie haben nichts getan, nichts gesehen und nichts gewusst, und nach ihren Aussagen konnten sie auch nichts tun, nichts sehen und nichts wissen. Die Wiener Journalistin Nadine Hauer hat gesagt, es seien immer die Mitläufer, die Unrecht zulassen, dulden und dies später zu einem Erdulden uminterpretieren.
Es sind diese Mitläufer, die heute als Politiker, als Lehrer und als Eltern Wissen, Erziehung, Haltung und Demokratieverständnis vermitteln sollen und müssen. Da funktioniert die Befriedigung des Bedürfnisses der Eltern, sich auf die Seite der Autoritäten zu stellen, um den Kindern Unannehmlichkeiten und sich selbst Auseinandersetzungen zu ersparen. Aus Angst vor Tabubrüchen wird geschwiegen, verzerrt und unterschwellig kommuniziert.All das wird durch die Erfahrung ergänzt, dass derjenige, der sich nicht anpasst, ganz schnell zum Außenseiter deklariert wird.
Auch das sage ich in Richtung von Herrn Irmer: Da gibt es die zahlreichen Mitglieder der Blockparteien, die bereit waren, das SED-Regime um eigener Vorteile willen aktiv, aber vor allem auch moralisch zu unterstützen, und die heute zum Teil wieder in Amt und Würden sind.
Auch deswegen haben wir einen Änderungsantrag zu Ihrem Antrag gestellt. Es hätte Ihrer Rede gutgetan, wenn Sie auch auf diesen Teil der dunklen Geschichte eingegangen wären.
Meine Damen und Herren, wir verfügen auch in Westdeutschland über eine ausreichende Erfahrung mit ehemaligen Mitläufern. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre in Deutschland waren von Denkverboten, Fragetabus und dem autoritären Gehabe von Politikern, Lehrern und Eltern durchdrungen. Erst mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – mit Adorno, Horkheimer, Mitscherlich – begannen die Befreiung des Denkens sowie die gesellschaftliche Aufbereitung und die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.
Dieser Prozess der Befreiung des Denkens steht für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte noch aus. Es reicht nicht aus, zum Besuch von Museen und Gedenkstätten aufzurufen.
Vielmehr brauchen wir ganz dringend einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Grundlagen unserer Demokratie. Damals wie heute gilt doch, dass Kinder und Jugendliche die Demokratie nicht begreifen, lieben und verteidigen lernen, wenn freies Denken, kritisches Hinterfragen und Einmischen nicht gewünscht werden. Wenn demokratische Gesetze, freie Wahlen, freie Meinungsäußerung und Bürgerinitiativen als Werbung für eine demokratische Gesellschaft nicht ausreichen, besteht dringender Handlungsbedarf.
Dem demokratischen Deutschland ist es im Gegensatz zu autoritären Regimen bis heute nicht gelungen, demokratische Symbole und Rituale zu entwickeln. In vielen Ländern ist der Nationalfeiertag ein Symbol, das zu Herzen geht.Bei uns trifft das für den 3.Oktober nicht – oder vielleicht noch nicht – zu.Aber, Herr Irmer, diesem Nationalfeiertag haben Sie heute bestimmt nicht zu mehr Bedeutung verholfen.
Bei uns wäre ein mit den Nationalfeiertagen anderer Länder vergleichbarer Tag der 18. März 1848, nicht nur wegen der in der Frankfurter Paulskirche beschlossenen Verfassung.Vielmehr ist dieser Tag ein gutes Symbol für die Demokratie; denn auch in anderen europäischen Ländern haben die Revolutionen in den Jahren 1848 und 1849 wesentlich zur politischen Kultur beigetragen. Sie sind praktisch in ganz Zentraleuropa die Grundlage des politischen, pluralistischen Demokratieverständnisses.
Auf lange Sicht begann damals – 1848 – eigentlich auch der Siegeszug der nationalen Demokratien hin zu einem vereinten, friedlichen, demokratischen Europa. Wenigstens gibt es in Berlin seit den Neunzigerjahren einen Platz, der nach dem 18. März 1848 benannt ist – ein sehr kleines Symbol für das Demokratieverständnis in Deutschland.
Meine Damen und Herren, Demokratie braucht Selbstbewusstsein und Engagement, und sie muss immer wieder mit Leben erfüllt werden, statt dass man sie – Herr Irmer – mit neuen Ideologien belastet. Demokratische Kultur braucht aktive Unterstützung,und als Grundlage benötigt sie die Kenntnis der eigenen Herkunft und der eigenen Geschichte. Dies geht nicht ohne eine Kultur des Erinnerns und nicht ohne eine Kultur,sich der Geschichte zu stellen. Davon hängt die Zukunft unserer Demokratie ab. – Ich danke Ihnen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Irmer, mit Geschichtsklitterung und unzulässigen Vergleichen diskreditieren Sie nur sich selbst und Ihre Partei. Ich hoffe, dass Sie von Ihrer Partei wieder eingefangen werden. Selbst Herr Wagner hat sich bei Ihren Worten züchtig das Haupt bedeckt.
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der CDU – Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Was? – Zuruf von den GRÜNEN: Herr Wagner trägt kein Kopftuch! – Axel Wintermeyer (CDU): Ich würde es lieber bei anderen Gelegenheiten bedecken!)
wir widmen uns heute Morgen mit Ihrem Antrag wieder in der von Ihnen bevorzugten Weise einem wichtigen Thema, nämlich der Aufarbeitung eines christsozialen Traumas: des Versuchs, einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu errichten.