Protokoll der Sitzung vom 18.11.2009

Zukunftsfähige Schule ist deshalb eine Schule,die die persönlichen Stärken fördert. Persönliche Stärken lassen sich nicht in drei Klassen einteilen. Deshalb wollen wir mehr Ganztagsschulen; deswegen wollen wir offene Übergänge und die Rücknahme des G 8. Herr Irmer, Chancengerechtigkeit ist übrigens nicht allein eine Frage der Schule – auch das scheinen Sie zu vergessen. Frühkindliche Bildung ist der eine Teil, berufliche Bildung und Lebensbegleitung ist der andere. Bildung endet nicht in der Schulzeit.Wenn Sie das für sich angenommen hätten, dann wären wir in der bildungspolitischen Debatte vielleicht ein bisschen weiter.

Ihr Programmsatz in der Bildungspolitik lautet auch in diesem Jahr wieder: ich, ich, ich.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Ich, ich!)

Der Ellenbogen wird zur pädagogischen Grundüberzeugung. Unser Programmsatz lautet: wir.Wir vertrauen dem Einzelnen. Zukunftsfähige Bildung ist, wenn Menschen auch noch eine zweite, dritte und vierte Chance erhalten. Ihr prähistorisches Bild von Fort- und Weiterbildung ist einer modernen Arbeitsgesellschaft nicht gewachsen. Impulse zur Öffnung der Bildungseinrichtungen unterlaufen Sie.Gemeinsames Lernen,durchlässige Systeme und Kostenfreiheit müssen auch für lebenslanges und berufsbegleitendes Lernen gelten.

(Beifall bei der SPD – Ulrich Caspar (CDU): Sie haben den Unterrichtsausfall zu verantworten!)

All das ist auch eine Frage dessen, welche Unterstützung wir geben, hin zum mündigen Bürger. Selbstbewusstsein, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Zivilcourage sind nicht durch Gesetze zu verordnen. Sie müssen im Leben wachsen. Dazu muss es Räume, Zeit und Vorbilder geben. Man muss es selbst spüren und erfahren können. Mit diesem Erfahrungsschatz wachsen Selbstbewusstsein, Respekt und Wertschätzung des anderen. Das ist das beste Präventionsprogramm gegen Gewalt, Kriminalität und Jugendkriminalität, das man bekommen kann.Wenn man die Seele der Menschen stärkt und Schwächen akzeptiert, ja, wenn man Schwäche auch als Stärke begreift, dann wird man nicht mehr so einfach gegen Minderheiten Stimmung machen können. Das wäre auch für die politische Kultur dieses Landes ein Fortschritt.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Sie aber setzen auf Repression, nicht auf Prävention. Das Bild stimmt nicht, dass Menschen nach oben buckeln und nach unten treten – zumindest nicht diejenigen,von denen ich rede. Damit kein Missverständnis entsteht – das passiert in diesem Hause häufiger –:Wer Gewalt ausübt,muss die Reaktion des Rechtsstaates spüren. Deshalb haben wir auch in diesem Bereich Haushaltsanträge gestellt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grundlinien der Politik – Freiheit und Gerechtigkeit – werden von Ihnen gegeneinander ausgespielt. Freiheit und Gerechtigkeit sind für Sie wie auf einer Wippe: Wenn man mehr Freiheit gewährt,dann bedeutet das auf der anderen Seite weniger Gerechtigkeit.– Es wird nirgendwo so deutlich wie bei der Kündigungsschutzdebatte, dass ein Mehr an Freiheit für einen Unternehmer ein Weniger an Ge

rechtigkeit und Freiheit für die betroffenen Familien bedeutet. Für uns heißt zukunftsfähige Politik: Freiheit und Gerechtigkeit bedingen einander. Sie brauchen sich wie eineiige Zwillingsbrüder. Den einen gibt es nicht ohne den anderen.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich mir das, was Sie hier bildungspolitisch auf den Weg gebracht haben, anschaue, dann kann ich nur sagen, das ist ein Offenbarungseid. Zukunftsgestaltung findet unter Ihrer Regierung nicht statt. Das gilt auch für mein zweites Großthema, nämlich die Sicherung und Schaffung von Arbeit.

Es ist nicht sozial, was Arbeit schafft – irgendeine Arbeit, egal wie sie bezahlt wird oder welche gesundheitlichen Schäden sie verursacht. Für uns ist sozial, was gute Arbeit schafft und was Arbeit für alle schafft, damit die Menschen selbständig ihr Leben bestreiten können.

(Beifall bei der SPD)

Gute Arbeit ist, wenn Bürgerinnen und Bürger ihrer Beschäftigung im Vertrauen darauf nachgehen können, dass verantwortungsbewusstes Management die Herausforderungen der Märkte und Produkte annimmt. Deshalb sind wir gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen für die Verbesserung der Innovations- und Forschungsunterstützung.

Gute Arbeit ist, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine handlungsfähige Gewerkschaft und Personalvertretung haben und der demokratische Sektor der Bundesrepublik nicht am Werkstor endet. Deshalb erwarten wir von Ihnen einen vollständigen Tarifvertrag für die Landesbediensteten.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Zukunftsfähige Arbeit ist, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Lohndumping und Ausbeutung geschützt werden. Deswegen brauchen wir Tariftreueregelungen, die kontrolliert werden.Auch das erwarten wir.

Zukunftsfähige Arbeit ist, wenn wir eine aktive Arbeitsmarktpolitik machen, die diesen Namen auch verdient. Deshalb ist Ihr Koa-Kompromiss zu den Arbeitsgemeinschaften so absurd. Der Amtsschimmel wird wieder wiehern, und der eigentlichen Aufgabe, Menschen bei den neuen Herausforderungen am Arbeitsmarkt zu fördern und zu fordern, werden wir nicht gerecht werden. Zukunftsfähigkeit ist ganz sicherlich nicht – Herr Wagner,ich empfehle Ihnen, jetzt gleich zuzuhören; Sie werden jetzt nämlich gleich den nächsten Anlass haben, sich aufzuregen –

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Wollen Sie wieder einen Kollegen diffamieren? – Zuruf des Abg.Axel Wintermeyer (CDU))

Ihre hessische Allzweckwaffe Dr. Franz Josef Jung. Jemand, der in vier Jahren in Afghanistan das Wort Krieg oder kriegsähnliche Zustände nicht in den Mund nehmen konnte, wird auch mit den Arbeitslosenzahlen seine Schwierigkeiten haben.Allein der Umstand,dass im Jahre zehn des Parteispendenskandals die Arbeitsmarktpolitik unter dieser Regierung zum Trostpflaster für einen hessischen verdienten Kollegen, als Verteidigungsminister gescheiterten Versorgungsfall, geworden ist, ist allerdings ein Ausdruck der Missachtung der Arbeitsmarktpolitik, der größer nicht sein könnte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LIN- KEN – Dr. Walter Arnold (CDU): Meine Güte! – Zuruf des Abg. Günter Schork (CDU))

Er hat dieses Ressort nicht so sehr bekommen, Herr Schork, um einen möglichst geringen Schaden anzurichten, sondern weil Ihnen dieser Job im Kabinett am gleichgültigsten ist. Deshalb ist er als letzter vom Regierungstisch gefallen.

(Beifall bei der SPD)

Apropos lebensbegleitendes Lernen. Das gilt auch für politische Verantwortungsträger. „Die Krise ist nur ein Betriebsunfall.“ Für Sie scheinen Betriebsunfälle zum marktwirtschaftlichen System dazuzugehören. Sie nehmen sie lakonisch hin. Ändern muss sich nichts. Der Staat ist bestenfalls ein Reparaturbetrieb, aber keine gestaltende Kraft.

Wir sehen das anders. Für uns gilt:Aus Schaden muss man klug werden. – Deswegen treten wir für strengere Regulierung ein, für eine Politik jenseits marktliberaler Dogmen, für die Durchsetzungs- und Gestaltungskraft der Politik gegenüber den betriebswirtschaftlichen Einzelinteressen.

Herr Koch hat am Montag bei der Eröffnung der Euro Finance Week in Frankfurt einen verräterischen Satz gesagt. Er hat ausgeführt, man müsse das Jahr 2010 angesichts widersprüchlicher Entwicklungen „überstehen“. Ich sage Ihnen: Überstehen muss man das nächste Jahr gar nicht. Man muss es gestalten.Aussitzen ist die falsche Strategie.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Das mit dem Betriebsunfall gehört genauso zu den Lebenslügen wie der Satz: Mit Wirtschaftswachstum kommt alles wieder ins Lot.– Auf dieser Lebenslüge fußen die angekündigten Steuersenkungen, die Bund, Länder sowie Städte und Gemeinden weiter ins Schuldenchaos stürzen werden. Angesichts des strukturellen Defizits der Haushalte ist diese Politik nicht nur eine fahrlässige, sondern eine vorsätzliche Schädigung künftiger Generationen. Sie leben in den Tag hinein, betreiben hemmungslose Klientelpolitik und bürden zukünftigen Generationen die Lasten dafür auf. Wir haben Ihnen oft das „FAZ“-Zitat vorgehalten, wonach Ihre Finanzpolitik sprunghaft, windig und wirr ist.Diese Charakterisierung reicht angesichts des starrsinnigen Festhaltens an Ihrem Kurs nicht mehr aus.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

An der Erkenntnis, dass unser Gemeinwesen ausreichend finanziert werden muss, um seine Aufgaben für Bildung, für Arbeit, für Energie erfüllen zu können, führt kein Weg vorbei. Ohne zusätzliche Einnahmequellen werden wir nicht auskommen, schon gar nicht, wenn die Fähigkeit und der Wille zum Sparen so unterentwickelt sind wie bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zukunftsfähige Arbeit ist außerdem, die Wachstumsfrage positiv zu beantworten. Wir wollen und brauchen Wachstum. Wir brauchen aber qualitatives Wachstum. Die Engpässe bei Energie und Rohstoffen werden mittel- und langfristig unsere wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dramatisch beeinflussen. Der BDI hat vor wenigen Wochen auf die Gefahren wegen des Rohstoffmangels hingewiesen: Chrom, Platin, Zirkon und Tantal. Indium hat sei

nen Preis in dreieinhalb Jahren versiebzehnfacht. Während in Detroit Spritfresser gebaut werden, in Kalifornien weltweit die strengsten Umweltgesetze erlassen werden, in Asien das Hybridauto gebaut wird, setzen in Deutschland immer noch zu viele auf große Autos.Wir haben uns bei Opel doch wegen der industrie- und technologiepolitischen Bedeutung engagiert, wegen der Zukunft der Elektromobilität und des Umstands, dass 20 % der Entwicklungskapazitäten der deutschen Automobilindustrie an Opel hängen.

Die Kanzlerin hat im US-Kongress eine bemerkenswerte Rede gehalten. Im gleichen Moment hat man der Kanzlerin in Detroit die Nase gezeigt. Herr Brüderle: Nomen ist hier nicht Omen, keine Brüderlichkeit. Denn er sagt Ihnen, Herr Koch: Wenn Sie Rüsselsheim helfen wollen, greifen Sie in die leere Landeskasse. – Warum haben Sie Ihrem Koalitionsfreund nicht gesagt, dass man einem Nackten nicht mehr in die Tasche greifen kann?

(Beifall bei der SPD)

Herr Koch, da hilft es im Übrigen auch nichts, wenn gezielt lanciert wird, dass man sich über Herrn Brüderle ärgert, und aus Hintergrundgesprächen die „FAZ“ füttert – auch wenn ich die Berichterstattung außerordentlich amüsant finde und die Beschreibung von Herrn Brüderle von derselben Veranstaltung, bei der Sie diesen verräterischen Satz gesagt haben, für mich am Montag ausdrücklich bestätigt wurde. Aber es geht nicht, dass von Ihnen, oder wem auch immer, aus Hintergrundgesprächen etwas öffentlich durchdringt, das anschließend aber öffentlich nicht wiederholt wird. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das, was Sie offensichtlich in Hintergrundgesprächen sagen, endlich öffentlich sagen:

(Zuruf der Abg. Petra Fuhrmann (SPD))

dass Herr Brüderle einen absolut grottenschlechten Job macht und den Beschäftigten bei Opel in den Rücken fällt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Er fällt im Übrigen auch Ihnen und der hessischen FDP in den Rücken. Aber zu der Position der hessischen FDP komme ich später noch einmal zurück.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Qualitatives Wachstum bedeutet, neue Technologien zu halten und zu fördern – nicht als Unternehmer, Herr Rentsch, damit da kein Missverständnis entsteht, sondern als Partner.

(Zuruf des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Sicher gewinnbare Ölvorräte reichen noch für 41 Jahre,sicher gewinnbare Gasvorräte für 60 Jahre, Uran für 30 Jahre: Diese Reichweiten unterstreichen eindrucksvoll die Handlungsnotwenigkeit. Die Energiewende ist keine Modewelle. Sie ist die Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften in den nächsten Jahrzehnten. Sie ist die Basis für Arbeit, Einkommen und Klimaschutz. Die Energiewende ist die Voraussetzung dafür, dass Energie für jedermann und jede Frau bezahlbar bleibt. Die Energiewende ist die Voraussetzung für die Schaffung Zigtausender neuer Jobs. Sie ist schon heute Jobmotor. Sie blockieren mit Ihrer Verweigerungspolitik erfolgreiche Wachstumspolitik: 280.000 Arbeitsplätze bei den erneuerbaren Energien im letzten Jahr; Solar Wagner, ein hessisches Beispiel: von neun Beschäftigten vor 20 Jahren auf 270 heute,Tendenz steigend; SMA: 2.500 Beschäftigte im letz

ten Jahr, allein in diesem Jahr 1.000 neue Beschäftigungsverhältnisse. Sie haben SMA vor wenigen Tagen als Jobmotor des Jahres ausgezeichnet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber ich sage Ihnen: Es geht nicht nur um Preisverleihungen. Zukunftsfähige Politik heißt,

(Zuruf des Ministerpräsidenten Roland Koch)

Herr Koch, aktive Durchsetzung der Energiewende und nicht Aussitzen auf den energiepolitischen Dinosauriern wie Biblis A und Staudinger Block 6.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)