Protokoll der Sitzung vom 28.01.2010

Redezeit: zehn Minuten pro Fraktion. Ich erteile Frau Schott für die Fraktion DIE LINKE das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Stadt Kassel zahlt an SGB-II-Bezieherinnen und -Bezieher für die zu leistenden Heizungskosten und auch für die Miete eine Pauschale je nach Anzahl der im Haushalt lebenden Personen. Dabei bleiben die speziellen Wohngegebenheiten unberücksichtigt, also z. B. ob die Wohnung unter dem Dach ist, ob es dort eine Isolierung gibt, ob das eine Kellergeschosswohnung ist. Das alles wird überhaupt nicht berücksichtigt. Das macht große Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt, für das, was tatsächlich gezahlt werden kann, eine Wohnung zu finden. Und es macht erhebliche Schwierigkeiten, die Heizkosten zu zahlen.

Im Januar 2009 hat das Bundessozialgericht ein klares Urteil gegen die Pauschalierung der Heizkosten gefällt, sodass die schon im Gesetz vorgesehene Einzelfallprüfung der Wohnung gestärkt würde. Es müssen – so lautet die Entscheidung – die laufenden Leistungen für Heizung grundsätzlich in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht werden. Man sollte annehmen, dass die Stadt Kassel und auch andere Städte und Kreise in diesem Land fortan korrekte Bescheide erstellen und die richtigen Leistungen erbringen. Mitnichten, die Stadt bleibt bei der geübten Praxis – nicht nur Kassel – nach dem Motto: Wir sparen, wo wir können, und beginnen bei den Hartz-IVEmpfängerinnen und -Empfängern.

(Dr. Ulrich Wilken (DIE LINKE): Rechtsbruch!)

Nur wer klagt, hat eine Chance, das zu bekommen, was ihm zusteht. Im Einzelfall wird immer Abhilfe geschaffen, aber eben nur im Einzelfall.

Wahrscheinlich war ich den überwiegenden Teil meines Lebens naiv; denn ich bin davon ausgegangen, wenn in Deutschland eine Behörde einen Bescheid ausstellt, dann entspricht er dem, was in diesem Land Recht und Gesetz ist. Dabei ist nicht auszuschließen, dass Menschen Fehler unterlaufen. Aber nach meiner Rechtsauffassung ist es nicht vorstellbar, dass Behörden in diesem Land vorsätzlich, willkürlich oder wissentlich einen falschen Bescheid ausstellen. Das ist für mich vollkommen undenkbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Tatsache, dass die Herrschaften von der CDU heute deutlich mehr als zehn Minuten zu spät zum Beginn dieser Debatte gekommen sind

(Axel Wintermeyer (CDU):Wir haben eine Stunde ausgemacht, und es war fünf nach halb!)

nein, das war es, als Sie gekommen sind, es war deutlich später –, zeigt, dass die CDU offensichtlich auch nicht so viel Interesse an diesem Thema hat, hier pünktlich zu beginnen.

(Helmut Peuser (CDU): Das ist doch Quatsch! – Peter Beuth (CDU): Frau Kollegin, das werden wir Ihnen auch einmal vorhalten!)

Davon ausgehend, dass wir hier pünktlich beginnen, war klar, dass die Redezeit zu dem Zeitpunkt, als Sie gekommen sind, zu Ende gewesen wäre. Ihre Reihen waren vollständig leer. Es war exakt niemand zu Beginn der Debattenzeit hier.

(Zurufe von der CDU)

Und das ist ungehörig, so wie Ihre Zwischenrufe ungehörig sind.

(Beifall bei der LINKEN – Peter Beuth (CDU): Es ist ungehörig, was Sie hier machen!)

Ich bitte alle um ein bisschen mehr Mäßigung an dieser Stelle.

Es passiert in diesem Land, dass falsche Bescheide ausgestellt werden. Meine stichprobenartigen Betrachtungen haben ergeben, dass es in verschiedenen Kreisen und Städten insbesondere mit den Heizkosten im Zusammenhang mit den Angemessenheitsgrenzen gemacht wird und dass hier höchstrichterliche Entscheidungen ignoriert werden.

Wie die jeweiligen Kommunen ihre Zahlen ermitteln, ist für mich nicht nachvollziehbar. In Kassel hat die Fraktion der LINKEN.ASG inzwischen einen Akteneinsichtsausschuss beantragt, da der Kämmerer auf Nachfrage nicht eindeutig mitteilen konnte, auf welcher Grundlage die Pauschale überhaupt erstellt wird. Insbesondere bei der Berechnung der Heizkosten gibt es verschiedene Varianten, die nicht der Rechtsprechung entsprechen. Die Grenzen der Stadt Offenbach liegen z. B. deutlich hinter den Ergebnissen des bundesweiten Heizungsspiegels zurück.

Ich möchte Sie hier nicht mit Rechenbeispielen aus anderen Städten langweilen.Aber es lassen sich immer wieder Fehlbeträge ermitteln,die für die Betroffenen in durchaus relevanter Größe sind. Familien werden – gemessen an dem, was ihnen zustehen würde – oft besonders schlecht

gestellt. Es trifft die, die sich am wenigsten wehren können.Das führt inzwischen aber schon zu nahezu grotesken Anpassungsleistungen in unserer Gesellschaft.

Bei meiner Recherche zu diesem Thema habe ich unter anderem eingegeben: „Hartz IV, Berechnung Heizkosten“, und bin dann auf die Annonce eines Rechtsanwaltes gestoßen, der da schreibt: Etwa 75 % der ALG-II-Bescheide sind falsch. Ihrer ist es vielleicht auch. In diesem Fall steht Ihnen wahrscheinlich mehr Geld zu. Handeln Sie jetzt, und legen Sie Widerspruch ein. – Ein bisschen weiter heißt es auf derselben Seite: Unsere Rechnung geht jedoch nicht an unsere Mandanten,sondern über Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe an die Staatskasse. – Das ist in der Sache ja richtig.

(Zuruf des Abg. René Rock (FDP))

Dass Menschen, die kein Einkommen haben und einen Rechtsstreit zu führen haben, das mithilfe der Staatskasse abrechnen, ist in der Sache richtig. Dass man aber aufgrund von 75 % falscher Bescheide daraus eine ganze Werbekampagne macht, das finde ich schon sehr problematisch. Ich glaube, da sparen wir an einem Ende, um es am anderen Ende doppelt und dreifach auszugeben, um es nur einmal von der wirtschaftlichen Seite her zu sehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es entsteht in der Zwischenzeit ein ganzer Beratungssektor, dessen Seriosität ich an vielen Stellen durchaus in Zweifel ziehen würde. Die Kosten, die hier entstehen, entstehen dem Steuerzahler. Niemand kann erpicht darauf sein, einen Rechtsstreit mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen zu führen, weil die Arge monatlich 20 c sparen will. Aber kein Hartz-IV-Empfänger kann es sich leisten, diesen Rechtsstreit um die 20 c nicht zu führen.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Jahre 2008 sind rund 175.000 neue Klagen und Eilanträge beim Bundessozialgericht eingegangen. Das war nicht nur ein Zuwachs von 28 %. Das war ein Rekordhoch. Ich nehme an, dass dieser Trend bis jetzt ungebrochen ist. „Der bisherige Trend hat sich nicht nur weiter fortgesetzt, sondern noch weiter verstärkt“, sagte der Gerichtssprecher Thomas Voelzke.

Peter Masuch, der Präsident des Gerichts, hat bereits vor einem Jahr eine Reform der Hartz-Gesetze eingefordert. Insbesondere die Kostentragung für Unterkunft und Heizung erscheinen ihm noch klarstellungsbedürftig, erklärte er im „Tagesspiegel“ vom 23.01.des letzten Jahres.Die Sozialgerichte sind durch die vielen falschen Bescheide bis an ihre Grenzen belastet.Wenn aber nicht nur Fehler,sondern bewusst falsch erstellte Bescheide die Gerichte belasten, kommt es mir vor, als seien wir – das ist ganz vorsichtig formuliert – in Schilda. Eigentlich fallen mir da noch ganz andere Begrifflichkeiten ein.

(Beifall bei der LINKEN – Günter Rudolph (SPD): Nur zu!)

Das Geld, das die Kommunen bei Hartz-IV-Beziehern einsparen, wird doppelt und dreifach durch die Belastung der Gerichte wieder ausgegeben. Mit mehr als 100 HartzEntscheidungen hat das Bundessozialgericht eigentlich schon für Rechtsklarheit in vielen Bereichen gesorgt. Allerdings ist nicht sicher, ob die Entscheidungen auch immer und überall bekannt sind und entsprechend angewandt werden.Wenn sie aber bekannt sind und vorliegen und dann trotzdem nicht angewandt werden, dann finde ich das ganz besonders skandalös.

Für mich ist nicht klar, was der eigentlich größere Skandal ist. Da haben wir nämlich auf der einen Seite die Tatsache, dass hier zulasten der wirklich armen Menschen in unserer Gesellschaft Bescheide ausgestellt werden, die nicht richtig sind. Das finde ich skandalös. Auf der anderen Seite stellt eine Behörde bewusst falsche Bescheide aus. Wie sollen sich Menschen in diesem Land tagtäglich immer wieder an Gesetze halten,wenn sie nicht einmal mehr sicher sein können,dass sich die öffentliche Hand an diese Gesetze hält?

(Beifall bei der LINKEN)

Die Vorstellung, dass ich ein Rathaus betrete und nicht mehr sicher sein kann, dass der Bescheid, den ich dort bekomme, richtig ist, verunsichert mich zutiefst. Sie sollte Sie alle verunsichern. Ich frage einmal hier in die Runde: Sind Sie alle sicher, dass bei denjenigen, die verheiratet sind, ihre Ehen rechtsgültig sind? Vielleicht haben Sie da auch eine falsche Urkunde bekommen. Vielleicht war meine Baugenehmigung nicht rechtlich korrekt.

(Günter Rudolph (SPD): Eine abstruse Konstruktion!)

Vielleicht hätte ich mehr Unterstützungsleistungen für Flächenentsiegelungen bekommen können. Vielleicht könnten einige Menschen in diesem Land einmal erfahren, wie ihre Schaffensbeiträge berechnet worden sind. Auch über solche Dinge wird in diesem Land gestritten, und das nicht nur in Borken.

Ich fordere deshalb die Landesregierung auf, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um im Rahmen der Rechtsaufsicht dafür Sorge zu tragen, dass die HartzIV-Bezieher und -Bezieherinnen in unserem Land sicher sein können,dass sie die Leistungen bekommen,die ihnen zustehen. Ich möchte von der Landesregierung wissen, in welchen anderen Kommunen pauschaliert wird oder aber Bemessungsgrenzen angewandt werden, die nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen.Wo klagen Bürger gegen ihre Kommunen und warum? – Das scheint tatsächlich in der CDU niemanden zu interessieren. Das sollte uns in diesem Haus aber interessieren. Dieses Desinteresse finde ich wirklich frappierend.

Frau Kollegin, Sie müssten zum Schluss kommen.

Ich gehe davon aus, dass dieses Interesse eigentlich da sein sollte, und bin wirklich entsetzt über das Desinteresse.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Schott. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Herr Decker das Wort.Bitte schön,Herr Decker.

(Günter Rudolph (SPD): Jetzt mal zur Sache! – Zuruf von der FDP: Gilt bei der SPD in Kassel der Rechtsstaat?)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Optionskommunen und die Arbeitsgemeinschaften, gerade auch die in Kassel, haben bisher eine hervorragende und engagierte Arbeit geleistet, vor allem bei der erfolgreichen Vermittlung von Arbeitslosen. Das wollen wir an dieser Stelle gleich einmal feststellen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Kollegin Schott, das Bild, das Sie eben hier von diesen sehr engagierten Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen gezeichnet haben, können und wollen wir heute so nicht stehen lassen. Ich glaube, das, was sie geleistet haben, widerspricht in klarer Weise dem, was Sie hier ausgeführt haben.

Die Bezieher von Leistungen nach dem Arbeitslosengeld II haben nicht nur unsere Solidarität,sondern auch unsere umfängliche Unterstützung verdient, und die bekommen sie von uns Sozialdemokraten auch. Aber dem Antrag, den wir heute hier vorliegen haben und über den wir hier debattieren, kann man beim besten Willen so nicht zustimmen. Immerhin gibt er uns noch einmal die Gelegenheit, vielleicht die eine oder andere grundsätzliche Bemerkung dazu zu machen.

Die Haltung der SPD ist klar. Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Hartz-Gesetze ist eine ehrliche Bestandsaufnahme sinnvoll und notwendig. Man muss entscheiden, was richtig und was nicht so erfolgreich war.

Es gibt eine ganze Reihe von Leistungen, über die wir diskutieren werden – nicht nur über die Bezugsdauer von ALG II. Bei denen, die lange gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, ist das für uns eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber denen, die noch nicht so lange eingezahlt haben. Es geht nicht nur um die Frage nach der Erhöhung des Schonvermögens.Es gibt da noch eine ganze Reihe weiterer Punkte, über die wir politisch diskutieren müssen. Wie sieht es z. B. mit einem Fahrtkostenzuschuss für Oberstufenschüler aus? Oder warum bekommen gerade die Ärmsten kein höheres Kindergeld, bzw. warum wird es angerechnet? Sehen wir einmal davon ab, dass es im Januar da auch zu einer Panne gekommen ist.Wie sind angemessene Regelsätze für Kinder zu bemessen? Wie sorgen wir dafür, dass Kindern aus betroffenen Familien mehr Bildungschancen eröffnet werden? Schaffen es die betroffenen Menschen, regelmäßig einen gewissen Beitrag zurückzulegen, um für Reparaturen und Neuanschaffungen anzusparen? Auch hier wird pauschaliert ausgezahlt.Dort ist es gesetzeskonform. Das alles müssen wir politisch hinterfragen.

Jetzt möchte ich noch einige Worte zum Antrag verlieren.

(Zuruf von der FDP: Schön!)

Da gibt es aus unserer Sicht einiges anzumerken. Zum Beispiel ist Kassel eine der wenigen Großstädte, in denen wir einen günstigen Mietspiegel haben. Die bisher angewandte Pauschalierung – hören Sie bitte genau zu – der Unterkunftskosten hat dazu geführt, dass nicht wenige Leistungsbezieher es deshalb geschafft haben, von der Unterkunftspauschale noch ein bisschen übrig zu behalten. Von einer gezielten Benachteiligung, wie das eben dargestellt worden ist, kann hier also keine Rede sein.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))