Protokoll der Sitzung vom 18.05.2010

wir, wenn wir diesen Gedanken der Solidität auf europäischer Ebene zur Geltung bringen wollen, uns auch im eigenen Land darüber Gedanken machen. Das ist die eine Debatte.

Mit dem einen oder anderen, der an dieser Debatte teilnimmt, habe ich vorher schon einmal gesprochen und habe angekündigt bekommen,dass bei aller Lust,über die europäischen Fragen zu debattieren, die Innenpolitik nie ausbleibt. Deshalb will ich als vorletzte Bemerkung nur ganz weniges zu der aktuellen Debatte,auch zur Frage des Sparens sagen. Das ist eine Diskussion, die wir lange vor uns herschieben. Ich nehme jedenfalls für mich in Anspruch, dass das „wir“ auch mich einschließt. Ich habe keine Lust, auch nicht in meiner eigenen Partei, eine Debatte über Details zu führen, wer frühzeitig etwas gesagt oder nicht gesagt hat, denn es ist wieder die alte Diskussion. Es wird wieder so sein, dass eine Opposition im Hessischen Landtag sagt:Aber warum habt ihr nicht vor sechs Monaten, und warum habt ihr nicht vor drei Monaten …? – Das ist Ihr gutes Recht. Nur lassen Sie, wenn Sie das gemacht haben,noch drei Minuten lang Zeit,um gemeinsam darüber zu reden, was wir dann machen.

Ich schneide diese Debatte nicht ab. Ich räume Ihnen ein, dass auch ich in den letzten Jahren gelegentlich bei dem, was wir auf der nationalen Ebene und hier gemacht haben, die Hoffnung hatte, dass die wirtschaftliche Entwicklung anders kommen wird.Wenn man schon einmal bei einem Defizite von nur 10 Milliarden c im Bundeshaushalt war und jetzt pro Jahr 10 Milliarden c einsparen muss, weiß man, dass diese Hürde nicht unüberwindlich ist.Wir waren bei einer Sanierung innerhalb von vier Jahren bei einem ausgeglichenen gesamtstaatlichen Budget. Insofern konnte man durchaus davon ausgehen, dass bestimmte Entwicklungen anders verlaufen würden.

Das ist aber geschenkt.Wenn Sie sagen, das haben andere besser gewusst, dann ist das alles in Ordnung. Sagen Sie, Sie hätten bestimmte Maßnahmen nicht gemacht, ist das in Ordnung. Trotzdem: Am Ende bleibt die Debatte, ob wir es irgendwann schaffen, von dieser Diskussion wegzukommen: Weil ihr einmal etwas gemacht habt, reden wir jetzt nicht mit,um da herauszukommen.– Das ist eine Debatte, die unter uns im Parlament gilt, die für mich in meiner eigenen Partei gilt und die es an unterschiedlichen Stellen gibt.Wir haben es nur nie geschafft,aus diesem Ritual herauszukommen.

Zu diesem Ritual gehört ein zweiter Teil, nämlich der grundsätzliche Konsens, dass dies alles richtig ist, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass der jeweils Betroffene für seinen Fachbereich nun explizit der Meinung ist, dass es beim besten Willen nicht gehe.Wenn wir nicht von beiden Ritualen ein Stück weit wegkommen – das geht nur mit ein bisschen Ramponierung dessen, der etwas vorträgt, das nehme ich auch hin, ich glaube nur, dass Sie in diesen Tagen ein Stück Mitverantwortung dafür haben,es zu machen –, kommen wir nicht an den Kern der Sache: dass wir nämlich deutlich weniger ausgeben müssen oder dass sich andere Parteien dafür entscheiden, dem Bürger durch Steuererhöhungen deutlich mehr an Freiheitsraum abzunehmen. Man kann das mit beiden Varianten machen, nur muss man sich da entscheiden.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das ist eine völlig legitime Entscheidung. Die Entscheidung dieser Landesregierung und meine persönliche ist es, dass es ein zusätzlicher Verlust von Freiheit und damit ein zusätzlicher Verlust von Chancen für das Wachstum in

diesem Lande wäre, wenn wir glauben, wir könnten es auf dem Rücken der Bürger austragen,indem wir dauernd die Steuern und Abgaben erhöhen. Das ist nicht unser Weg.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wer da ein anderes Konzept hat, muss den Weg dieses anderen Konzepts gehen.

Aber eines ist auch wahr: Das Parlament hat Gott sei Dank eine Schuldenbremse beschlossen.Ich gebe zu:Darüber bin ich wirklich heilfroh. Ich glaube, wir bekämen sie heute angesichts der erforderlichen Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat nicht mehr hin. Wir haben sie aber, und keiner traut sich Gott sei Dank, sie anzugreifen.

Deshalb haben wir – jedenfalls aus meiner Sicht – nur dann einen Handlungsspielraum, wenn wir uns ernsthaft mit unseren Ausgaben beschäftigen. Dabei ist es allerdings notwendig, dass wir in großer Sachlichkeit über alle Themen reden und nicht jedes Ressort sofort sagt:Bei mir geht es nicht.

Wenn Sie sich die Presseerklärungen des heutigen Tages anschauen – Sie brauchen nicht die letzten zwei Tage zu nehmen, es reicht heute –, dann lesen Sie, dass sich die Krankenversicherungen zum Thema Gesundheit äußern, dass der Bundesverkehrsminister selbstverständlich etwas zur Verkehrsinfrastruktur sagt – da ist er,soweit es um Lobbyismus geht,mit uns gar nicht unterschiedlicher Meinung –, dass der Nächste etwas zur Arbeitslosenversicherung aus der Sicht der Gewerkschaften sagt und dass sich jetzt alle selbstverständlich zum Thema Bildung äußern, weil ich mich dazu geäußert habe. Wir haben relativ schnell 90 % des Haushaltes zusammen, von dem die jeweils verantwortlichen Teile der Politik erklärt haben, dass es grober Unfug sei, wenn man das zur Disposition stelle. Das Einzige, was stimmt, ist, dass das grober Unfug ist. Auf diese Art und Weise kommen wir nämlich zu nichts.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Weil der Vorwurf kommen wird, will ich, Herr Präsident, in einer ganz kurzen Überschreitung der Redezeit sagen: Mit dieser Landesregierung und mir als Person gibt es keine Diskussion über den extrem hohen Stellenwert von Bildung.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir haben in einem von der Vorgängerregierung sorgfältig ausgebeinten Haushalt für die hessischen Universitäten gerade noch 950 Millionen c vorgefunden.Heute sind wir bei 1,4 Milliarden c.Wir haben damals Gesamtausgaben für die Schulen in Höhe von 1,9 Milliarden c vorgefunden. Heute sind wir bei 3,2 Milliarden c. Um es andersherum zu sagen – da beginnt die Diskussion, die wir führen müssen –:Wir hatten an unseren Universitäten im Wintersemester 2005 76.800 Studenten. Wir hatten im Wintersemester 2009 an den gleichen Universitäten 75.500 Studenten. Die Zahlen sind also in etwa gleich; es sind 1.000 Studenten weniger, aber das ist zwischen Winter- und Sommersemester nicht die entscheidende Frage. Wenn wir uns anschauen, wie viele Menschen in diesen Bereichen arbeiten,haben wir zugleich die Feststellung zu treffen, dass die Universitäten bei gleicher Zahl von Studenten mit den Haushalten dieses Landes in den Jahren von 2005 bis 2009 2.000 zusätzliche Personalstellen aufgebaut haben. Das kritisiere ich nicht, sondern stelle es nur fest.

Ich habe aber,wenn man in einer solchen Größenordnung denkt, auch festzustellen, dass es den Universitäten in diesen Jahren möglich war, 550 Millionen c an Rücklagen aufzunehmen – davon 211 Millionen c ohne jede Vorbindung für irgendein Projekt, sondern für Krisenzeiten. Wenn man sieht, was wir zwischen 2005 und 2009 in diesem Bereich getan haben, wenn man bedenkt, dass die Universitäten eine Chance hatten, gewisse Sicherheiten aufzubauen, dann darf der Satz, dass eine Reduzierung der Ausgaben um 2,2 % im kommenden Jahr möglich sein muss, weil wir in einer Krise sind, aus meiner Sicht nicht tabu sein. Das ist die Diskussion, die wir in diesen Tagen führen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Diese Diskussion dreht sich doch nicht um eine schwierige Zahl. Es geht in der Debatte nur um die Vergangenheit. Niemand will die Grundstrukturen verändern. Wir werden weitere Lehrerinnen und Lehrer einstellen, wie wir es in der Koalitionsvereinbarung verabredet haben. Wir werden die Projekte durchführen, über die wir gesprochen haben. Das ist doch gar nicht Gegenstand der Diskussion. Wenn ich aber jetzt für die Landesregierung mit der Bundesregierung über einen Bildungspakt verhandle und nicht nur die Bildungspolitiker, sondern auch die für den Haushalt Verantwortlichen frage: „Können wir am 10. Juni wirklich unterschreiben, dass für jedes Jahr, das auf 2015 folgt, die strukturellen Ausgaben des Bundeslandes Hessen um 385 Millionen c erhöht werden?“ – das bedeutet nämlich das 13-Milliarden-c-Paket auf Hessen übersetzt –, kann das heute und hier irgendjemand einfach so entscheiden?

Ich nehme als Beispiel die Stadt Wiesbaden. Wir in Hessen haben bei der U-3-Betreuung eine führende Rolle eingenommen. Wir stehen unter den westdeutschen Flächenländern in der Geschwindigkeit der Einführung der Betreuungsplätze zusammen mit Rheinland-Pfalz ziemlich einsam an der Spitze. Wir brauchen uns da nichts nachsagen zu lassen. Nehmen wir an, dass wir die 35-%Quote erreicht haben – was noch ein Stück Arbeit ist –, nehmen wir an, es ist der 2. Januar 2013, und nehmen wir an, dass 60 % der Eltern in Wiesbaden – wie einige aufgrund der Umfragen vermuten – an diesem Tag einen Betreuungsplatz für ihre Kinder haben wollen: Glaubt allen Ernstes irgendjemand, dass die Stadt Wiesbaden das ökonomisch aushält,und ist es klug,darüber am 3.Januar eine Betroffenheitsdebatte im Parlament zu führen, oder ist es vernünftig, jetzt darüber zu reden, wie wir die nächsten Jahre so organisieren, dass wir nicht in Richtung Griechenland gehen, dass wir nicht in eine Situation kommen, in der wir den Menschen etwas Falsches vormachen, dass wir den Mut haben, ein Stück Grundlage zu schaffen, auf der wir die Finanzverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland und unseres eigenen Bundeslandes in Ordnung bringen können?

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Das ist ein Teil des Beitrags, den wir leisten müssen. Um den mühen wir uns in dieser Regierung. Sie sehen, es ist kein Vergnügen, was Kollege Jörg-Uwe Hahn im Bereich der Justiz, was Doris Henzler im Kultusbereich und was die anderen Ministerinnen und Minister in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen in den nächsten Wochen an Diskussionen zu führen haben.

Insofern bedanke ich mich sehr bei der Wissenschaftsministerin, dass sie, gemeinsam mit dem Finanzminister, einen neuen Hochschulpakt verhandeln konnte. Der steckt

voller Schwierigkeiten; das war keine angenehme Aufgabe. Er ist aber die Voraussetzung dafür, dass wir in Europa eine Chance haben, die Dinge in Zukunft so zu machen, dass nicht andere für uns bestimmen, und Voraussetzung dafür, dass wir in Europa Ansprüche an andere stellen können, um zu ermöglichen, guten Gewissens eine Währungsgemeinschaft unabhängiger Staates mit eigener Verantwortung für unsere Bürger zu organisieren. Wir machen das letzten Endes im Rahmen unserer Hausaufgaben und unserer internationalen Aufgaben nicht deshalb, weil wir ein großes ökonomisches Gesamtkonzept verwirklichen wollen, sondern wir machen das auch deshalb – daran sollten wir immer denken –, weil wir als ein Kontinent gesehen und in einer globalisierten Welt ernst genommen und respektiert werden wollen, weil wir ein Kontinent bleiben wollen, auf dem die Länder nicht gegeneinander kämpfen und wieder Emotionen gegeneinander schüren – wie man es zwischen Deutschland und Griechenland manchmal aufblitzen sah, nur weil es da Schwierigkeiten gibt. Wer nicht will, dass so etwas entsteht, der muss ein gemeinsames Europa wollen.

Ein gemeinsames Europa zu schaffen war eine der ersten Reaktionen der Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Konzentrationslagern kamen. Ein gemeinsames Europa gibt es nur, wenn es eine einheitliche Währung gibt, mit der man nicht Armeen bezahlen kann, die gegeneinander aufmarschieren. Das ist ein Teil der historischen Dimension dessen, was wir hier tun. Es geht nicht um die Frage, wer morgen früh drei Produkte mehr oder weniger verkauft, sondern es ist die Frage, in welchem Kontinent unsere Kinder leben sollen. Das ist eine Frage von Verhandlungen, von Verträgen und von Überzeugungen. Es ist aber auch die Frage, in welchem Zustand wir unser eigenes Land in dieses Europa führen. Beides muss man zusammen sehen. Beides, die Regulierung von Finanzmärkten und das Bemühen, die eigenen Dinge in Ordnung zu bringen, sind Voraussetzungen dafür, dass man diesen Weg gehen kann. Wir wollen ihn gehen, und wir werden uns deshalb im Bundesrat so verhalten, wie ich es Ihnen dargelegt habe.

(Anhaltender Beifall bei der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vereinbarte Redezeit wurde um neun Minuten überschritten. Jeder Oppositionsfraktion fließen drei Minuten zusätzliche Redezeit zu, sodass Ihnen jeweils 33 Minuten Redezeit zur Verfügung stehen.

Ich eröffne die Aussprache.Als Erster hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Schäfer-Gümbel, das Wort.

Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eben den Kollegen Rudolph gebeten, in Rügen nachzufragen, ob der Kreidefelsen eigentlich noch steht – nach dieser wachsweichen Rede, nach dem, was der Herr Ministerpräsident in der letzten Woche hier alles angerichtet hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Koch, wir fragen uns seit einer Woche, was Sie uns heute eigentlich sagen wollen.Was ist der Sinn und Zweck dieser Regierungserklärung?

(Horst Klee (CDU): Schlecht vorbereitet!)

Ist das Thema die europäische Verantwortung, ist das Thema das Sparen, oder ist das eigentliche Thema der unionsinterne Machtkampf? Was ist die Botschaft der heutigen Regierungserklärung?

(Zurufe von der CDU)

Heute Morgen ist in meiner Fraktion darüber spekuliert worden – Herr Reif, Sie sind die Ausgeburt der europapolitischen Kompetenz Ihrer Fraktion und Ihrer Partei; das ist beim letzten Nominierungsparteitag deutlich dokumentiert worden –,

(Beifall bei der SPD – Günter Rudolph (SPD): Er hat es wenigstens einmal versucht! – Axel Wintermeyer (CDU): Peinlich!)

ob der Herr Ministerpräsident heute vielleicht auch über Michael Ballack redet; denn das ist etwas, was heute viele bewegt hat.

(Dr. Walter Arnold (CDU): Lächerlich! – Weitere Zurufe von der CDU)

Viel schlauer sind wir nach diesen Ausführungen nicht geworden. Mit welcher Berechtigung redet ausgerechnet der Schuldenkönig von Hessen über Stabilität und Sparbemühungen in dieser Republik?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will es Ihnen sagen. Ich habe dem Herrn Ministerpräsidenten versprochen, er bekommt von mir keine Geschenke mehr; denn er will sie nicht.

(Holger Bellino (CDU): Das ist auch besser so! – Weitere Zurufe von der CDU)

Herr Milde, ich will wenigstens auf die kurze Bilanz von zehn Jahren Regierung unter Roland Koch hinweisen. 1999, zur Zeit des Regierungsantritts von Roland Koch, lag die Staatsverschuldung dieses Bundeslands bei 22,7 Milliarden c. Heute sind es –

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Darauf wird eingegangen!)

ohne die Steuermindereinnahmen, die Steuergeschenke, die mittelfristige Finanzplanung und vieles andere mehr – 39,5 Milliarden c. Sie kennen die Zahlen.

(Zuruf des Abg. Gottfried Milde (Griesheim) (CDU))

Deswegen bleibe ich bei der Frage: Herr Koch, mit welchem Recht stellen ausgerechnet Sie sich seit einer Woche hierhin, um andere darüber zu belehren, wie Sparbemühungen aussehen können? Seit einer Woche machen Sie das. Was war eigentlich Ihr Anliegen in den letzten Wochen? War es möglicherweise eine Bewerbungsrede, weil Sie die Nachfolge von Herrn Weber bei der Bundesbank antreten wollen? Das Spiel hat Ihnen die Bundeskanzlerin am Wochenende völlig verstellt. Ist es ein unionsinterner Machtkampf? Als Oppositionsführer innerhalb der Union haben Sie sich gut platziert; das ist so.

(Zuruf von der CDU: Sagen Sie, was Sie wollen!)

Aber das, was sich in der Union seit acht Tagen, nämlich seit der Schließung der Wahllokale in Nordrhein-Westfalen, offensichtlich abspielt, kann man so beschreiben, dass die Chaostheorie bei ihr bundesweit zum Politikersatz geworden ist. Der zentrale Spieler ist Ministerpräsident Koch.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Clemens Reif (CDU): Was wollen Sie denn nach dem Ausfall von Ballack?)