Protokoll der Sitzung vom 07.09.2010

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Was war denn das schmutzige Geschäft?)

zum Thema Bildung – Herr Irmer, ich komme zu Ihnen –, zum Thema Familienzentren gesagt haben,das höre ich alles gern und wohl. Aber ich bin nicht ganz sicher – den Zwischenruf habe ich nicht ohne Grund gemacht –,ob Sie, wenn Sie das heute so formulieren und die verbale Abgrenzung zu Ihrem Vorgänger deutlich spürbar ist, in den letzten Jahren eigentlich alle Kabinettsvorlagen gelesen haben, die Sie eingebracht und zum Teil auch hier im Parlament beschlossen haben.

(Beifall bei der SPD)

Deswegen: Ja, ein anderer Ton – das gibt eine Chance auf mehr Miteinander. Aber es ermöglicht dann vor allem auch den politischen Streit, den Streit über den besseren Weg, über die Herausforderungen unserer Zeit, über die Frage, was die bessere Politik für dieses Land ist, was die richtigen Antworten vor dem Hintergrund der Herausforderungen sind, die dieses Land bewegen.

Leider muss ich sagen: An dieser Stelle bin ich mit Ihrer Regierungserklärung nicht im Reinen. Nicht, weil mir Ihre inhaltlichen Positionen nicht gefallen, sondern weil Sie überhaupt keine Orientierung ausgegeben haben.

Sie haben keine Ziele definiert. Sie haben an der Oberfläche ein bisschen über dies und jenes geredet. Das ist in Ordnung, und das hört sich alles gut an. Im Kern aber haben Sie zu keinem der zentralen Themen eine Zielvorgabe beschrieben.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Keine einzige – mit einer Ausnahme: Das ist Ihr Fonds zur Rettung der Kommunen, Ihr Schutzschirm. Vielleicht haben Sie den in Rheinland-Pfalz abgeschaut. Aber auch dort liegt der Teufel im Detail;ich werde dazu später kommen.

(Zuruf des Abg. Leif Blum (FDP))

Insofern ist Ihre Regierungserklärung eine des Sowohlals-auch, eine des Ja-aber. Sie formulieren einen Anspruch, den Sie im anschließenden Satz gleich wieder zurückholen. Für ein so leistungsstarkes, ein so kräftiges Bundesland wie das Land Hessen finde ich das entschieden zu wenig. Deswegen müssen Sie aufpassen, dass mit Ihrer Regierungserklärung der Stillstand in Hessen nicht schon wieder ein neues Gesicht bekommt.

(Beifall bei der SPD)

Ich will das an den Themen, die Sie selbst als Anspruch formuliert haben, beschreiben.

Zunächst das Thema Familie, Bildung, Kinder. Sie haben nichts dazu gesagt, dass heute immer noch jedes Jahr Tausende von Kindern ohne Schulabschluss von der Schule abgehen.

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

Sie haben nicht gesagt, wie wir unsere Anstrengungen dahin ausrichten, dass wir Kindern zu einem Abschluss verhelfen.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das haben wir halbiert, im Vergleich zu Ihnen!)

Herr Wagner, Sie haben dazu gar nichts gesagt, insofern rede ich im Moment mit dem Ministerpräsidenten. – Sie haben keine Anmerkung dazu gemacht, dass Sie immer noch 15.000 Jugendliche in Warteschleifen haben, die auf einen Ausbildungsplatz warten,und dies teilweise seit Jahren.

(Beifall bei der SPD)

Das aber sind die Herausforderungen des Bildungs- und Ausbildungsmarktes.

Das gilt auch für die großen Herausforderungen der Schule. Sie haben viel und auch zu Recht darüber geredet, dass wir in der Bildungspolitik nicht ständig die Ideologiekeule gegeneinander schwingen sollen. Am Freitag habe ich das ausdrücklich seitens meiner Fraktion als Angebot auch in Ihre Richtung formuliert. Ja, es ist richtig: Wir müssen in der Bildungspolitik aus einer Situation heraus, in der wir immer wieder gegenseitig die Ideologievorwürfe erheben. Ich glaube, auch ein Teil der Reaktionen der Presse und der Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktionen hat etwas damit zu tun, dass ich dieses Angebot sehr offensiv formuliert habe. Denn es gibt Herausforderungen des Bildungssystems, die nicht einfach nur mit Systemfragen zu beantworten sind.

Sie haben zwei genannt, zum einen das Thema selbstständige Schule, das ein Riesenthema ist. Ich kenne viele Lehrerinnen und Lehrer und Schulleitungen, die ein Stückchen Sorge davor haben, dass Sie etwas auf die Schulen abwälzen, auf das sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Deswegen ist es richtig, dass es wachsen muss. Man muss auf der anderen Seite aber auch einen Anspruch der Schule formulieren dürfen, dass diese Selbstständigkeit auch wahrgenommen wird. Es muss eine Anspruchssituation durch die Schule formuliert werden können,und man darf es nicht einfach von oben definieren.

Eine der größten Herausforderungen ist ganz sicherlich das Thema Inklusion, die Integration von Menschen mit Behinderungen in der Schule. Wir haben internationale Vorgaben. Denen werden wir im Moment nicht gerecht. Frau Henzler,es wird eine der großen Herausforderungen sein, das im Schulgesetz zu verankern. Wir haben dazu Vorstellungen formuliert.

Herr Bouffier, natürlich ist das kein Thema, das man auf eine Schulorganisationsfrage reduzieren kann. Es wird unglaublicher Anstrengungen im gesamten Schulsystem bedürfen, bei Lehrerschaft, bei Eltern, bei den Kindern selbst, bei der Schulverwaltung.Wir sind bereit, dabei mitzumachen, weil es um die Schülerinnen und Schüler geht. Alle diejenigen, die mit Schülerinnen und Schülern zu tun haben, wissen auch aufgrund der Erfahrungen beispielsweise bei der Umstellung im Kindergartenbereich, dass das alles keine einfachen Themen sind und dass es gut ist, wenn wir das aus dem parteipolitischen Streit herausholen können.

Wir müssen dabei aufpassen, dass es nicht zu Überforderungen an den Schulen kommt, dass es auch nicht zu Überforderungen der Eltern kommt. Sie sind schon in einer schwierigen Situation. Wie gesagt, daran wollen wir mittun.

Jenseits davon, dass Sie sagen, dass das Thema selbstständige Schule bearbeitet werden muss, dass das Thema Inklusion bearbeitet werden muss, sagen Sie aber nicht konkret, was Sie in der Schule machen wollen, was das für die Bildungspolitik heißt. Sie haben keine einzige Vorgabe gemacht.

Wir haben am vergangenen Freitag ein Bildungskonzept vorgelegt, einen Gesetzentwurf für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in Hessen, weil es eine Reihe von Anforderungen gibt, die mit dem derzeitigen Schulgesetz nicht oder nur unzureichend geregelt werden.

Herr Bouffier, wenn Sie von staatlicher Zwangsbeglückung reden und ich mir dann anschaue, was Sie mit G 8 in den Schulen angerichtet haben,

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

dann glaube ich wirklich nicht, dass Sie ernsthaft verstanden haben, worüber Sie dort geredet haben. Denn diese Form der Zwangsbeglückung bei einem Bildungsgang ist nicht von den Oppositionsfraktionen durchgedrückt worden,

(Zuruf des Abg. Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU))

sondern diese Form des G 8 mit allen Problemen, die an den Schulen entstanden sind, haben Sie von oben durchgesetzt, weil es Ihnen ideologisch wichtig war.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Zurufe von der CDU)

Herr Wagner, deswegen bieten wir Ihnen an, über diese Frage zu reden. Ja, es gibt Schulen, die das weiter so wollen. Es gibt Anpassungen bei den Lehrplänen. Da muss noch viel passieren.

Es gibt genügend Schulen, die das gar nicht wollen, die aber gleichzeitig eine Möglichkeit wollen, dass Kinder trotzdem in zwölf Schuljahren ihr Abitur machen können, wenn sie das wollen. Ich finde, dass unser flexibles Modell dazu eine gute Möglichkeit gibt.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben von der Durchlässigkeit gesprochen. Lieber Herr Bouffier, wer hat denn die Durchlässigkeit im Schulgesetz in den letzten elf Jahren im Kern abgeschafft? Das waren doch Sie mit Ihrer Regierung, mit Ihrer Koalition und im Übrigen auch mit Ihrer Stimme.

(Beifall bei der SPD)

Wenn dort jetzt Einsicht einkehrt und wir beim Thema Durchlässigkeit eine große Öffnung hinbekommen, dann soll uns das sehr recht sein. Ich habe Ihnen, wie Sie wahrscheinlich wissen,weil es Ihnen von Ihrem Büro mitgeteilt wurde, mein Gesprächsangebot, das ich am vergangenen Freitag allen Fraktionen und Ihnen als Person, als Ministerpräsident – denn Gespräche werden ohne Sie als Person keinen Sinn machen; das sage ich vorneweg – und der Kultusministerin, ohne die Gespräche genauso wenig Sinn machen,

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Das entscheidet er!)

ein Schulfriedensangebot dergestalt gemacht, dass ich gesagt habe:Wir haben einen Vorschlag.Wir finden, dass der Vorschlag gut ist; sonst hätten wir ihn nicht gemacht. Wir bieten Ihnen an, wie das in anderen Bundesländern auch möglich war, gemeinsam über die Herausforderungen des Bildungssystems zu reden, damit wir nicht ständig in De

batten kommen über Organisationsveränderungen, Strukturveränderungen, Personalzuweisungen, Dienstrecht, und was alles an Themen dazu aufzurufen wäre.

Denn ich glaube, es wäre des Schweißes der Edlen wert, wenn wir uns gemeinsam hinsetzten und schauten, was denn geht, wie viele Unterschiedlichkeiten wir im Bildungssystem zulassen wollen, um dem Elternwillen, mit dem einmal Wahlen gewonnen wurden, wirklich zum Durchbruch zu verhelfen, damit wir ein pluralistisches Bildungssystem bekommen und nicht weiter in den Organisationsstrukturen verharren.

Die Einladung habe ich Ihnen heute Mittag schriftlich in die Staatskanzlei geschickt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das Gesprächsangebot der sozialdemokratischen Fraktion alsbald annähmen, damit wir möglichst schnell zu gemeinsamen Terminen und Gesprächen kommen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Bouffier, ich sage das auch, weil Sie richtigerweise ein Beispiel angesprochen haben, wo Schulpolitik grandios gescheitert ist, weil zu wenig geredet wurde, nämlich in Hamburg. Natürlich ist dort zu wenig geredet worden. Aber ich will nur darauf hinweisen: In Hamburg regiert im Moment auch nicht die Sozialdemokratie. Das finden wir sehr bedauerlich, aber es war nicht unser Vorschlag, der dort gegen die Wand gelaufen ist.

(Dr. Christean Wagner (Lahntal) (CDU): Daraus können Sie auch lernen!)

Wir haben am Ende versucht, Herr Wagner, mit Ihnen gemeinsame Lösungen zu finden. Das hat sich im Kern auch gelohnt, weil wesentliche Elemente, wie Sie wissen, trotzdem umgesetzt werden – jenseits der Frage der sechsjährigen Grundschule, zu der man sehr unterschiedlicher Auffassung sein kann.

Insofern noch einmal meine herzliche Einladung, Herr Bouffier: Nehmen Sie unser Gesprächsangebot an. Wir nehmen Ihr Angebot zu mehr Miteinander offensiv auf. Das ist aber auch ein Lackmustest, ob Sie den Worten Taten folgen lassen und ob Sie Ihre Kooperationsangebote ernst meinen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das wird der Fokus sein, an dem sich dann allerdings die Bildungspolitik ausrichten muss: Wir dürfen in der Tat kein Kind zurücklassen.Wir wollen, dass kein Talent mehr ungefördert ist. Das bedeutet, dass sich die Gesamtphilosophie von Bildung verändern muss. Darin liegt die Chance gemeinsamer Gespräche: dass wir aus gegenseitigen Vorhaltungen herauskommen, wer sozusagen die bessere oder schlechtere Bildungspolitik macht.

Denn diese Anstrengungen,die im Bildungssystem vorzunehmen sind, werden wir nur gemeinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern, mit den Eltern, mit der Schulverwaltung und natürlich auch mit den Schülerinnen und Schülern leisten können. Aber ich glaube, dass diese dafür einen möglichst breiten Konsens in der Bildungspolitik im Hessischen Landtag brauchen. Wie gesagt: Sie sind herzlich eingeladen. Machen Sie mit.