Es gibt sicherlich einige Punkte, über die man sprechen kann. Aber es gibt auch Punkte, bei denen wir überhaupt nicht auf einen Nenner kommen. Wenn ich Ihre Hauptaussage richtig verstehe, geht es im Kern wieder einmal darum, dass Sie auf die Gemeinschaftsschule setzen. Mit anderen Worten: Die Sozialdemokraten sind wieder auf Ypsilanti-Kurs. Frau Ypsilanti hat schon vor drei Jahren öffentlich die Einführung einer Gemeinschaftsschule gefordert.
Die Kollegin Habermann ist sogar etwas weiter gegangen. Sie hat seinerzeit in der Debatte öffentlich erklärt:„Letztlich wollen wir das dreigliedrige System abschaffen.“ So steht es im „Wiesbadener Kurier“. Mit anderen Worten: „Back to the roots – zurück in die Siebzigerjahre“, oder: „Manna fürs Volk – Kaviar für die SPD-Funktionäre“, oder: „Die Gesamtschule predigen und die eigenen Kinder aufs Gymnasium schicken“.
Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass alle Eltern in diesem Land die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, ob sie ihre Kinder in eine integrierte Gesamtschule, in eine kooperative Gesamtschule – die Sie in Ihrem Schulgesetzentwurf im Übrigen abschaffen – oder auf eine Mittelstufenschule mit Haupt- und Realschulzweig schicken,auf welche Schulform auch immer.
Ich bedauere, dass wir diese Diskussion wieder führen müssen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir einmal versuchen könnten, von innen heraus über Schulverbesserungen und Schulveränderungen zu diskutieren, und dass wir versuchen könnten, eine Art Schulfrieden herzustellen. Stattdessen muss ich feststellen, wir haben eine Reideologisierung der Bildungspolitik.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, den Sie vorgestellt haben, ist unseriös, unsolide und unsozial.
Ich will Ihnen das verdeutlichen. Fangen wir mit dem unsolide Gerechneten an. Sie versprechen, wie übrigens auch in der Koalitionsvereinbarung – darüber haben wir gestern gesprochen –, erneut Stellen ohne Ende, ohne dabei eine einzige zu hinterlegen. Die Gemeinschaftsschule soll nach Ihren Vorstellungen als Ganztagsschule in offener oder gebundener Form – § 14 – geführt werden. Ich unterstelle, dass dies ein Einstieg ist, und rechne oppositionsfreundlich aus,dass Sie mindestens 500 bis 1.000 Stellen benötigen. Sie haben nicht die Frage beantwortet, ob diesen Schulen zusätzliche Lehrer zugewiesen würden, wie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung im Zusammenhang mit den alten Schulen stand.
Sie haben die Wiedereinführung des muttersprachlichen Unterrichts in den Grundschulen gefordert. 1.170 Grundschulen haben wir.Wenn wir pro Grundschule eine halbe Stelle dafür ansetzen, ergibt das insgesamt die Zahl von 500 Stellen. Sie wollen die Inklusion als echtes Wahlrecht verankern. Dabei haben Sie nicht gesagt, nach welchem Modell das erfolgen soll. Sie haben einen Mehrbedarf mindestens von 500 bis 1.000 Stellen. Sie fordern für alle Schulen eine individuelle Förderung und vorbeugende Maßnahmen gegen Leistungsversagen. Wenn man bei 2.000 Schulen, die im Schnitt 20 Klassen haben, jeweils eine halbe Stelle annimmt,wird einem klar,dass man auch dort mindestens 1.000 Stellen benötigt.
Abschaffung des G-8-Zweigs,Verlängerung der Schulzeit auf G 9: Ich weise darauf hin, dass Sie die Einführung von G 8 auf Ihrem Bundesparteitag einstimmig beschlossen haben und dass Sie nun in letzter Konsequenz dafür sorgen, dass sich Hessen wieder am unteren Ende der Skala befindet; denn es wäre das einzige Bundesland, das G 8 nicht mehr hätte,sondern nur noch G 9.Darin erkenne ich nicht unbedingt einen Fortschritt.
Im Übrigen haben die Eltern in Hessen die Möglichkeit, zwischen G 8 und G 9 zu wählen. Das ist in Ordnung. Niemand wird gezwungen, G 8 in Anspruch zu nehmen. Wer das nicht will – ich akzeptiere das –, kann einen G-9Schulzweig absolvieren.
Aber das bedeutet einen Stellenmehrbedarf. Schuleingangsstufe als Regelform, Einführung einer flexiblen Oberstufe, Ausweitung der Berufschulpflicht bis zum 18. Lebensjahr – all das kostet Geld. Dafür sind mindestens 6.000 Lehrerstellen erforderlich – umgerechnet 300 Millionen c.Frau Habermann hat in der „FAZ“ auf Nachfrage erklärt, Ihr Projekt koste 40 Millionen c. Ich frage mich wirklich, wie das zu finanzieren ist.
Lassen Sie mich auf das Thema Gemeinschaftsschule eingehen. Es gibt keine äußere Fachleistungsdifferenzierung mehr,das Sitzenbleiben entfällt,und die Lernzeiten sollen dem Lerntempo des einzelnen Kindes angepasst werden. Meine Damen und Herren, spätestens hier merkt man, dass keiner von Ihnen jemals vor einer Klasse gestanden hat.
Ich bitte Sie, sich einmal in aller Ruhe Folgendes zu überlegen. Sie haben einen potenziellen Hauptschüler und einen potenziellen Gymnasiasten in einer Klasse nebeneinandersitzen, und zwar nicht nur eine Stunde, sondern jede Woche. Das geht über Monate und Jahre. Die Lernzeiten sollen dem Lerntempo des einzelnen Kindes angepasst werden. Als jemand, der an einer integrierten Gesamtschule undifferenzierter Form unterrichtet hat, weiß ich, wie unglaublich unterschiedlich die Lerngeschwindigkeiten der Kinder sind.
Ich kann Ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Aber die Lebenswirklichkeit zeigt, dass das überhaupt nicht umgesetzt werden kann.
Damit kommt es nämlich zu einer Überforderung der schwachen und einer Unterforderung der starken Schüler.
Sie negieren sehr bewusst sämtliche Gutachten. Ich erinnere an das des Herrn Prof. Roeder vom Max-Planck-Institut. Er hat eine Untersuchung über die Binnendifferenzierung an integrierten Gesamtschulen gemacht. Das Ergebnis lautete:Durch Binnendifferenzierung sind die Probleme leistungsgemischter Lerngruppen nicht zu bewältigen. Sie taugt nicht als Alternative zur äußeren Differenzierung in Klassen.
Herr Prof. Roeder vom Max-Planck-Institut hatte das Forschungsprojekt „Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter“ durchgeführt. Das ist eine Langzeitstudie mit 9.000 Schülern. Das erste Ergebnis lautet: Realschüler und Gymnasiasten haben am Ende der 10. Klasse gegenüber Gesamtschülern aus NordrheinWestfalen – das waren die Vergleichsschüler – in Mathematik, Englisch und Physik einen Wissensvorsprung von zwei Jahren.
Das zweite Ergebnis war Folgendes. Das wurde mit untersucht. Das ist das, was mich als Pädagoge umtreibt. Das sind für mich alles keine politischen Fragen. Das sind pädagogische Fragen.
Das zweite Ergebnis war Folgendes: Das mit untersuchte Selbstwertgefühl bei leistungsschwächeren Gesamtschülern liegt am Ende deutlich unter dem Selbstwertgefühl vergleichbar begabter Hauptschüler.
Mit anderen Worten: Durch Unterricht in leistungsgemischten Gruppen werden von der Natur oder Herkunft benachteiligte Kinder noch weiter benachteiligt. – Das ist für mich der entscheidende Punkt. Wir haben Hauptschulkinder, die von der Natur oder Herkunft benachteiligt sind. Das will ich gar nicht weiter untersuchen. Sie haben eine besondere Förderung nötig.
Den Interessen dieser Kinder werden Sie nicht gerecht. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Sie wollen die Kinder benachteiligen, bei denen eine besondere Förderung zwingend notwendig ist.
Aber es geht nicht nur um die Kinder in der Anfangsphase. Es gibt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen über die Abiturklausuren. Dabei wurden Gymnasien, Gesamtschulen, Berufskollegien, Weiterbildungskollegien und Waldorfschulen untersucht. Das Ergebnis war:
Die Ergebnisse der Gesamtschulen liegen in allen Fächern deutlich unter den Ergebnissen der übrigen Schulformen.
Da die Schulleistungen vor allem im späteren Kindes- und Jugendalter durch kumulative – auf dem Vorwissen aufbauende – Lern- und Wissenszuwächsen gekennzeichnet sind,werden die Chancen, aufzuholen, für Begabungsschwache in undifferenzierten Lerngruppen zunehmend geringer. Eine Optimierung individueller Entwicklungschancen erfordert somit zwingend ausreichende unterrichtliche und schulische Differenzierungsmaßnahmen.
Die deutsche Gesamtschule rangiert bei PISA 2006 mit 477 Punkten 48 Punkte hinter der Realschule – das entspricht einem Schuljahr – und 121 Punkte hinter den Gymnasien. Das entspricht fast drei Jahren. Sie sollten sich einmal überlegen, ob nicht vielleicht Herr Gabriel recht hat, der in der „Zeit“ erklärt hat:
Und auch den engagiertesten Gesamtschulvertreter darf es nachdenklich stimmen, wenn ausgerechnet das konservative Baden-Württemberg mit seinem dreigliedrigen Schulsystem nicht nur gute Leistungen, sondern auch die geringste Bindung des Bildungsverlaufes an die soziale Herkunft aufweist.
Meine Damen und Herren,ich möchte ein letztes Beispiel nennen. Ich gehöre zu denjenigen, die den Gesamtschulflächenversuch in Wetzlar live als Pädagoge miterlebt haben. Wir waren damals junge Kollegen. Der damals zuständige Professor, Herr Prof. Fend von der Universität Konstanz
ich komme sofort zum Schluss –, war damals der Auffassung, integrierte Gesamtschule bedeute: mehr soziale Kompetenz, weniger Abhängigkeit vom sozialen Status und mehr Leistungsfähigkeit. Der gleiche Prof. Fend hat im Januar 2008 erklärt, all diese Annahmen seien nicht Wirklichkeit geworden. Das hätte sich in das Gegenteil verkehrt.
Meine Damen und Herren, wir sind deshalb mit dieser Gemeinschaftsschule nicht einverstanden. Abschließend möchte ich Ihnen aber einen Vorschlag machen.Herr Präsident, ich möchte nur noch einige Sätze sagen.
Ich sage Ihnen klipp und klar zu:Wenn Sie drei integrierte Gesamtschulen, die eigentlich dafür prädestiniert sind, dazu bringen, dass deren Verantwortliche sagen: „Wir wollen uns von der integrierten Gesamtschule in die Richtung Gemeinschaftsschule ohne Differenzierung und ohne Sitzenbleiben entwickeln“, dann werden wir das unterstützen. Lasst das die Eltern entscheiden. Wenn Sie es wollen, soll das gemacht werden. Auch das ist ein Ausdruck der Liberalität. Das ist ein Angebot, das wir Ihnen gerne machen. Schauen wir einmal, was dabei herauskommt.
Ich habe zwei Wortmeldungen zu Kurzinterventionen zu dem, was eben geäußert wurde. Zunächst spricht Herr Schäfer-Gümbel. Wir fassen die beiden dann zusammen. Herr Irmer hat dann die Gelegenheit, auf beide zu antworten.
Herr Präsident! Herr Irmer, ich habe mich aus drei Gründen zu Wort gemeldet. Ich mache das sehr kurz.
Erstens.Wir erleben seit vielen Jahren in diesem Haus Ihren Kampf gegen alles, was in Richtung Inklusion und Integration geht.Auch in Ihrer jetzt gehaltenen Rede haben Sie möglichst wenig über den eigentlichen Gesetzentwurf gesprochen. Vielmehr haben Sie Ihren ideologischen Kampf gegen alles fortgeführt, was in Richtung Integration und Inklusion geht.
Das gilt insbesondere auch hinsichtlich Ihrer Bemerkungen zu G 8 und G 9. Denn Sie wissen genau, dass das, was im Gesetzentwurf steht, nicht heißt, dass die Kinder nicht nach acht Jahren ihr Abitur ablegen könnten. Aber die Schulzeitverkürzung sollte in der Oberstufe stattfinden und sich nach dem richten,was die Kinder zu leisten in der Lage sind. Das sollte nicht durch staatliche Zwangsbeglückung mit irgendwelchen Schulreformen geschehen, wie Sie sie mit G 8 in der Mittelstufe vorgesehen haben. Das war der erste Punkt.