Protokoll der Sitzung vom 14.04.2011

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich bin der Fraktion der GRÜNEN für diesen Antrag sehr dankbar. Ich finde es ausgesprochen wichtig, dass wir uns mit diesem Thema hier wieder befassen.

Seit den Ergebnissen des runden Tisches sind mittlerweile einige Monate vergangen. Deshalb ist es wirklich notwendig, dass wir jetzt beginnen, uns zu überlegen, wie wir diese Ergebnisse und die Forderungen, die im Abschluss

bericht des runden Tisches festgehalten sind, in praktisches Handeln umsetzen können, und zwar in solches Handeln, das den Menschen hilft: schnell, unbürokratisch, und ohne dass sie dabei viele und schwierige Hürden überwinden müssen.

Wenn ich mir anschaue, was wir im letzten Jahr dazu hier bereits gemeinsam beschlossen haben, dann stellen sich einige Fragen, von denen ich hoffe, dass die Landesregierung darauf antworten kann.

Wir haben gesagt, wir wollen die noch vorhandenen Akten sichern. Wir wollen, dass damit behutsam umgegangen wird, dass sie irgendwo zentral und gut zugänglich gelagert sind. Ich würde gerne wissen: Ist das geschehen? Wo lagern diese Akten jetzt? Wie haben die Menschen, die davon betroffen sind, davon erfahren?

Ich habe versucht, auf der Website des Sozialministeriums einen Hinweis darauf zu finden – wenn ich Betroffene wäre, Verwandte oder Freundin, und jemandem weiterhelfen wollte. Wohin kann der Mensch sich wenden? Welche Möglichkeiten gibt es in Hessen? – Ich habe nichts dazu gefunden.

Nun kann es durchaus sein, dass ich nicht geschickt genug gesucht habe. Aber dann wird es auch noch anderen Menschen genauso gehen. Ich vermute aber eher: Man findet dort auch nichts.

Nachdem wir diese Anhörung hier hatten, hätte ich schon erwartet, dass man mindestens in dem Ministerium, das dafür zuständig ist, einen Stab, eine Stelle einrichtet, einen Menschen damit beauftragt, erster Anlaufpunkt zu sein, bis es weitere Schritte, weitere Ideen gibt. Ich habe nicht den Eindruck, dass das geschehen ist.

In unserem gemeinsamen Antrag haben wir auch festgehalten, dass wir nicht einschätzen können, wie weit die fehlende unabhängige Heimaufsicht Ursache der Situation war und wie sinnvoll oder nicht sinnvoll die heutige Regelung ist, ob man daran etwas ändern muss, ob es Verbesserungsbedarf gibt. Auch hierzu habe ich seither – und das ist nun ein Jahr her – nichts Neues gehört.

Nicht zuletzt haben wir unter Punkt 7 unseres Antrags vom letzten Jahr festgestellt, dass es in den Einrichtungen genügend Personal geben muss, damit eine vernünftige und sinnvolle Arbeit im Sinne der Kinder, die in Einrichtungen untergebracht werden, gewährleistet ist. Auch hier konnte ich noch nicht sehen, dass unserem Beschluss Taten gefolgt sind.

Insgesamt ist das eine Lage, die ich zumindest als unbefriedigend bezeichne.

Der runde Tisch hat seine Arbeit abgeschlossen. Gleichzeitig gab es von den Betroffenen viel Kritik an der Art und Weise, wie da gearbeitet worden ist – nicht nur an den finanziellen Beträgen, über die gesprochen wurde und die als deutlich zu niedrig eingestuft worden sind. Wenn jemand eine verpfuschte Kindheit hatte – ich will das hier einmal so flapsig und ein bisschen verniedlichend sagen; eigentlich müsste man es drastischer charakterisieren –, dann ist ein Betrag zwischen 1.000 und 4.000 € keine Entschädigung, die ich als angemessen betrachten kann.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb – aber nicht nur deshalb – gibt es von den Betroffenen viel Kritik an der Arbeit des runden Tisches. Trotzdem bin ich froh, dass er das, was er geleistet hat, geschafft hat und dass es diesen Abschlussbericht gibt, an dem man sich entlanghangeln kann.

Ich denke, wir brauchen ganz zügig Anlaufstellen, auch hier in Hessen, bundesweit, wohin die Menschen sich wenden können. Das ist eine der Forderungen, die wir sehr schnell und ohne großen Aufwand umsetzen können, genau wie die mit den Curricula. Auch die ist ohne großen Aufwand umzusetzen.

Ich sehe das mit den Finanzen vor dem Hintergrund von Schuldenbremse und Haushalt als eine ausgesprochen schwierige Geschichte. Aber der Betrag, der eben genannt wurde, reicht eigentlich nicht aus, wenn man wirklich eine faire und angemessene Entschädigung schaffen will.

Im Übrigen waren andere schon wieder durchaus schneller als die Landesregierung. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat bereits einen Betrag in ihrem Haushalt festgesetzt, den sie in den Fonds einfließen lassen will. Ich finde, es steht uns an, hier ganz schnell ebenfalls zu handeln. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Schönen Dank, Frau Schott. – Für die CDU-Fraktion spricht Frau Ravensburg.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Jürgens hat es bereits ausgeführt, dass uns im Ausschuss und auch in der ganztägigen Anhörung das Schicksal der Heimkinder in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sehr betroffen gemacht hat. Wir wurden mit Schicksalen konfrontiert, die wir uns vorher nicht vorstellen konnten. Wir mussten erfahren, welch physischer und psychischer Gewalt die Heimkinder auch in hessischen Heimen ausgesetzt waren, dass sie emotionale Kälte statt liebevolle Aufnahme von Erziehern erfuhren und dass solche Erziehungsmethoden von der Heimaufsicht bestätigt wurden.

Viele dieser Menschen leiden noch heute an den Folgen der Traumatisierung. Deshalb möchte ich noch einmal das bestätigen, was auch Sie, Herr Dr. Jürgens, gesagt haben: Es war gut, dass sich der Hessische Landtag in einem Entschließungsantrag im Frühjahr 2010 im Namen des hessischen Volks für dieses erlittene Unrecht entschuldigt hat. Es war uns auch damals bewusst, dass das nur der erste Schritt war. So haben wir gemeinsam beschlossen, den runden Tisch Heimkinder auf der Bundesebene zu bitten, bundeseinheitliche Regelungen insbesondere zum Thema Entschädigung und Berücksichtigung bei den Rentenzeiten zu erarbeiten. Uns war es wichtig, dass es ein einheitliches Verhalten von allen beteiligten Bundesländern, dem Bund, aber auch Kommunen und den Kirchen geben muss.

Der Abschlussbericht des runden Tisches liegt nun vor, und es gilt, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Einer besonderen Aufforderung zum Handeln gegenüber der Landesregierung bedarf es dabei aber nicht. Die Landesregierung hat immer angekündigt, dass sie ihrer Verpflichtung aus den gemeinsamen Beschlüssen des runden Tisches Heimerziehung nachkommen wird. Daher verstehe ich den Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute so, die öffentliche Diskussion im Plenum wachzuhalten, und das können wir nur unterstützen. Wir halten es für legitim und folgerichtig.

Bereits in der Anhörung haben sich diese drei in Ihrem Antrag erwähnten Handlungsfelder auf der Landesebene ergeben. Das sind zum einen die Einrichtung des Fonds und die Beteiligung daran. Wir müssen uns gemeinsam dieser Verantwortung stellen. Die finanziellen Mittel sind notwendig, um den einzelnen Betroffenen, die noch heute unter dem Heimaufenthalt leiden, eine Behandlung zu ermöglichen und auch eine individuelle Entschädigung zu geben. Eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen ist aber die nach der Angemessenheit.

Das zweite Handlungsfeld ist die Einrichtung einer oder mehrerer Anlauf- oder Beratungsstellen für die betroffenen Heimkinder in Hessen. Das ist richtig und wichtig so.

Das dritte Handlungsfeld ist die Berücksichtigung der Geschichte der Heimerziehung in der Ausbildung der Menschen, die heute in den Heimen arbeiten. Meine Damen und Herren, das ist ein Thema, über das wir uns detailliert im Ausschuss informieren lassen sollten. Wir wollen klären, was bereits umgesetzt ist und welcher Handlungsbedarf besteht.

Im Zusammenhang mit der Anhörung ist mir persönlich noch einmal dringlich bewusst geworden, welch hohe Verantwortung der Staat übernimmt, wenn er ein Kind in seine Obhut nimmt. Deshalb sollten wir im Ausschuss darüber sprechen, ob wir in der Heimaufsicht und der Jugendhilfe einige Verbesserungen oder Präzisierungen vornehmen sollten.

Ich hoffe sehr, dass es uns in der Beratung im Ausschuss wieder gelingt, einen Konsens über die Fraktionsgrenzen hinweg beizubehalten. Wir, die CDU-Fraktion, werden konstruktiv daran mitwirken.

Nun gilt es, den Betroffenen zu helfen, soweit dies nach der langen Zeit noch möglich ist. Es gilt, die Verantwortung für die Vergangenheit, aber auch für die Zukunft in der Heimerziehung zu tragen, und es gilt, unsere gemeinsame Verantwortung für die Kinder, die heute in den Heimen in Hessen leben, sehr ernst zu nehmen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist der Sache wert, dass wir hier im Konsens handeln. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Schönen Dank, Frau Kollegin Ravensburg. – Für die FDPFraktion spricht jetzt Herr Mick.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Heimerziehung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ist sicherlich ein sehr düsteres Kapitel der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Zwangsarbeit, Demütigungen, fehlende Fürsorge, Zwangsernährung oder Essensentzug, Gewalt, auch sexualisierte Gewalt, waren an der Tagesordnung. Zur Aufarbeitung dieser Missstände wurde auf Bundesebene durch einen einstimmigen Beschluss des Bundestages vom 4. Dezember 2009 ein runder Tisch Heimerziehung eingerichtet, der am 13. Dezember 2010 seinen Abschlussbericht vorgelegt hat.

Der Bericht dokumentiert sehr eindrücklich die menschenunwürdigen Verhältnisse in der damaligen Heimer

ziehung. In der Anhörung, die wir im Ausschuss für Arbeit, Familie und Gesundheit durchgeführt haben – das ist schon erwähnt worden –, wurden uns diese Schicksale und Erlebnisse durch die Betroffenen selbst hautnah geschildert. Auch das ist schon angesprochen worden: Wir alle waren sehr tief bewegt und sehr erschüttert von der Schilderung dieser persönlichen Schicksale der ehemaligen Heimkinder.

Gleichzeitig hat uns dieser Abschlussbericht einen möglichen gangbaren Weg aufgezeigt, wie wir mit dem Leid der ehemaligen Heimkinder angemessen umgehen können. Die Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN haben in ihrem Antrag drei dieser Punkte aufgegriffen. Dazu gehören neben den Maßnahmen der Entschädigung auch Maßnahmen der Prävention.

Ich möchte kurz zu den Punkten Stellung beziehen. Die Einrichtung regionaler Anlauf- und Beratungsstellen ist sicherlich ein ganz wichtiger Punkt. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir in Hessen schon einige niedrigschwellige, überkonfessionelle Angebote haben, z. B. die überkonfessionelle und kostenlose Heimkinderhotline der Katholischen Kirche und auch die Betreuungsstellen der Diakonie und den Verein der ehemaligen Heimkinder.

Ich denke, wir sollten bei der Diskussion, welche weiteren Angebote geschaffen werden müssen, an diese Angebote anknüpfen und sie auf diese Angebote aufsetzen. Wir sollten schauen, was konkret verbessert werden muss und wie wir bereits vorhandene Strukturen nutzen können. Wir haben demnächst noch eine Anhörung, die sich mit dem Thema sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen befassen wird. Vielleicht ergeben sich auch in dieser Anhörung noch einige Hinweise, was wir besser machen können.

Was den vom runden Tisch vorgeschlagenen Entschädigungsfonds angeht, so ist dort eine Drittellösung vereinbart. Der Bund, die westlichen Bundesländer und die Kirchen sollen zu gleichen Teilen in diesen Fonds einzahlen. Ich gehe davon aus, dass sich die Hessische Landesregierung dort angemessen beteiligen und ihre Zusage einhalten wird.

Ein letzter Punkt, den Sie ansprechen, ist die Vermittlung der Geschichte der Heimerziehung in den Curricula der Studiengänge der sozialen Arbeit. Ich habe in Vorbereitung dieser Aussprache bei den Pädagogen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis herumgefragt. Die haben mir berichtet, dass dieses Thema in ihrem Studium teilweise schon aufgegriffen wurde. Unter dem Stichwort der schwarzen Pädagogik werden die Geschehnisse in den Heimen der Fünfziger- und Sechzigerjahre dort bereits in Teilen angesprochen, sozusagen als mahnendes Gegenbeispiel. Wir müssen ganz konkret schauen, was da noch zu verbessern ist. Aber es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die jetzige Pädagogengeneration, die ausgebildet wird, mit diesen Themen in ihrer Ausbildung nicht konfrontiert wird.

Zum Glück, kann man sagen, ist die heutige Pädagogik, von den Inhalten her gesehen, die vermittelt werden, ein ganzes Stück weiter als das, was damals vermittelt wurde. Gott sei Dank, kann man da nur sagen.

Als letzten Punkt möchte ich etwas aufgreifen, was Frau Schott angesprochen hat. Ich denke, kein Betrag wird jemals hoch genug sein, um die Kindheit dieser Menschen „wiedergutzumachen“, um die Vorgänge ungeschehen zu machen. Wie hoch der angemessene Betrag ist, kann ich nicht beurteilen. Ich denke, wir alle sind aufgefordert, al

les Mögliche zu tun, um den Betroffenen zu helfen, das Leid, so gut es geht, zu lindern und die Erinnerung an diese Geschehnisse wachzuhalten. Vor allem sind wir aber aufgefordert, sicherzustellen, dass solche Dinge in Hessen niemals wieder passieren können. Dazu sind wir alle gemeinsam aufgerufen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Schönen Dank, Herr Kollege Mick. – Für die SPD-Fraktion, Herr Merz.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es ist in dieser Aussprache schon mehrmals auf die Anhörung im Jahr 2009 Bezug genommen worden. Ich will für mich und auch für die sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss erklären, dass uns diese Anhörung außerordentlich berührt und mit Trauer erfüllt hat. Für mich persönlich zählt diese Anhörung zu den bewegends ten Momenten in meiner Zeit im Hessischen Landtag, denn es ist das eine, zu wissen, was in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in deutschen Heimen im Rahmen der Jugendhilfe geschehen ist, aber etwas ganz anderes, mit konkreten Schicksalen konfrontiert zu werden. Die konkreten Schicksale, von denen wir gehört haben, haben das konkretisiert, was der Abschlussbericht des „Runden Tisches Heimerziehung“ festgehalten hat.

Ich will aus diesem Abschlussbericht zwei Passagen zitieren. Der runde Tisch hält fest,

dass es in der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik zu zahlreichen Rechtsverstößen gekommen ist, die auch nach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mit dem Gesetz und auch nicht mit pädagogischen Überzeugungen vereinbar waren. Elementare Grundsätze der Verfassung wie das Rechtsstaatsprinzip, die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und körperliche Integrität fanden bei Weitem zu wenig Beachtung und Anwendung.

Weiter hinten heißt es:

Vielmehr waren es die gesellschaftlichen Bedingungen, problematische Menschenbilder bei den Handelnden und ein schlechtes und an vielen Stellen demokratisch unreifes System, die das ihnen Angetane bewirkt haben. Die Kindheit und das weitere Leben vieler Heimkinder hätten unter den Bedingungen des heutigen Kindschafts-, Kinder- und Jugendhilferechts und den Sicht- und Handlungsweisen heutiger Sozialpädagogik auch einen ganz anderen, sehr viel positiveren, Verlauf nehmen können.

Ich habe diese Zitate vorgetragen, weil ich darauf hinweisen will, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz, wie wir es kennen, in der Tat einen elementaren Fortschritt in der Kinder- und Jugendhilfelandschaft darstellt und dass mit Blick auf den Unterricht und die Aufnahme der Historie, über die wir jetzt und hier geredet haben, in den Mittelpunkt gestellt werden muss, dass das nicht selbstverständlich ist und dass die Prinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, wie sie auch als Antwort auf die Situation in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in den Heimen entstan

den und auch ein Resultat der Heimbewegung der späten Sechzigerjahre sind, immer wieder neu erkämpft und errungen werden müssen. Ich glaube, das muss man festhalten, sowohl auf der Positivseite wie auf der Seite der Verpflichtung.