Protokoll der Sitzung vom 23.03.2017

Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden rund 150 Medien geschlossen und weit über 100 Journalisten verhaftet – nicht zuletzt Deniz Yücel von der Tageszeitung „Die Welt“. Von der deutschen Bundesregierung verlangen wir ein entschiedenes Eintreten für Presse- und Meinungsfreiheit sowie für die Freilassung aller inhaftierten Autoren, Journalisten und auch gewählter Abgeordneter und Bürgermeister.

Meine Damen und Herren, die Repression des ErdoganRegimes richtet sich nicht zuletzt gegen die HDP. Gegen die meisten der 59 HDP-Parlamentsabgeordneten ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Terrorverdachts. Zehn HDPAbgeordnete sind in Untersuchungshaft, unter ihnen die beiden Kovorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas – Letzterer soll zu einer Haftstrafe von 142 Jahren verurteilt werden.

Im Rahmen unserer Delegationsreise besuchte ich Bursa, Hessens Partnerprovinz in der Türkei. Während meiner Zusammenkunft mit der HDP habe ich erfahren, dass von den 400 Mitgliedern unserer Schwesterpartei HDP 60 Mitglieder im Gefängnis sitzen. Mitglieder unserer Schwesterpartei sind dafür belangt worden, dass sie gegen die geplante Verfassungsänderung öffentlich auftreten. Die Anwälte von Inhaftierten werden festgenommen. In diesem Klima der Angst kann von einer freien und fairen Abstimmung über das Verfassungsreferendum keine Rede sein. Dennoch haben die Genossen gestern in zehn Stadtteilen in Bursa für ein Nein demonstriert. – Ich bewundere den Mut der Aktivisten in unserer Partnerstadt.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, der Versuch der Öffnung gegenüber den ethnischen Minderheiten der Kurden ist längst Geschichte. Im Osten der Türkei tobt ein blutiger Bürgerkrieg, die politische Lösung der Kurdenfrage ist noch immer offen, wie auch die Anerkennung der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihres Führers. Die kurdische Stadt Cizre, in der vor Kurzem noch 100.000 Menschen lebten, liegt in Trümmern. Große Teile der Altstadt in Diyarbakir sind zerstört. In mehr als 40 Städten und Bezirken wurden die gewählten kurdischen Bürgermeister abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt.

Mit dem Verfassungsreferendum will Erdogan seine Herrschaft ausbauen und zementieren.

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Er wird dann die Gewaltenteilung verwehren und sie persönlich verkörpern. Der aktuelle Ausnahmezustand wird dann zum Normalzustand.

Die Position unserer Fraktion in dieser Frage ist eindeutig: Wir sind solidarisch mit den aktiven fortschrittlichen Kämpfern für eine demokratische Türkei. Wir sagen Nein zur Autokratie in der Türkei. Wir fordern die türkische Regierung auf, alle politisch zu Unrecht Inhaftierten freizulassen und rechtsstaatliche Grundsätze wiederherzustellen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Danke, Herr van Ooyen. – Als Nächster spricht zu uns Herr Rentsch, Vorsitzender der FDP-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Komplex Türkei, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist auf der einen Seite – danke an die Kollegen der SPD, die die Initiative ergriffen haben – auf einen Punkt zu konzentrieren, das ist sozusagen die Inhaftierung von Herrn Yüksel als Journalist – –

(Turgut Yüksel (SPD): Ich bin noch da! – Günter Rudolph (SPD): Yücel!)

Yücel, Entschuldigung.

(Günter Rudolph (SPD): Ist mir auch schon passiert!)

Auf der anderen Seite erleben wir die Ausfälle des Ministerpräsidenten, Herrn Erdogan, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, aber auch gegenüber anderen EU-Vertretern.

Ich glaube, man kann das eine nicht ohne das andere diskutieren. Letztendlich erleben wir hier eine Entwicklung, die sich seit Jahren ankündigt. Wer schaut, wie die AKP über Jahre dieses Land umgebaut und demokratische Strukturen verändert hat, Verlage gekauft und Journalisten entlassen hat, Strukturen an den Schulen bzw. Religionsschulen wieder eingeführt hat usw., der wundert sich heute nicht über das, was wir dort erleben – aber der kann trotzdem schockiert sein über die Entwicklung in einem Land, das eine wichtige Bedeutung für uns hat, mit dem wir bisher eine gute Partnerschaft hatten. Ich glaube, gerade das Land Hessen hatte mit seiner Partnerregion Bursa eine sehr gute Partnerschaft. Da kann es Demokraten wie uns nicht egal sein, was dort passiert, im Gegenteil.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der CDU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (frakti- onslos))

Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, wenn wir einen Bürger unseres Landes in dieser Frage verteidigen und klarmachen, dass wir es nicht akzeptieren, dass hier nicht rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt werden. Es ist ein Unding, was dort passiert – dass der Mann nicht weiß, wie es weitergeht, wann überhaupt möglicherweise eine Verhandlung durchgeführt wird, das ist unfassbar. Genauso unerträglich aber ist es, wenn Herr Erdogan die Bundeskanzlerin in einen historischen Kontext stellt, der alles andere als angemessen ist. Das ist eine Unverschämtheit, und es ist richtig, dass der Hessische Ministerpräsident es auch so formuliert hat. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.

(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der CDU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie der Abg. Mürvet Öztürk (frakti- onslos))

Ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem wir neu über das Verhältnis mit der Türkei nachdenken müssen. Ich sa

ge auch klar, dass die Türkei ein wichtiger Partner für uns ist.

Viele Türken bzw. Deutschtürken leben in unserem Land. Zudem gibt es Freundschaften, die sind Bürger unseres Landes, die fühlen sich auch in vielen Fällen als Deutsche. Ich erlebe aber auch Fälle, in denen diese Menschen hinund hergerissen sind zwischen einer Loyalität zu Ministerpräsident Erdogan und unseren Werten, die wir hier leben. Ich darf aber allen Menschen sagen: Man sollte nicht aus Deutschland – ein freies Land, in dem freie Meinungsäußerung und andere Rechte grundgesetzlich gewährleistet werden und wo wir alles dafür tun, dass dies auch so bleibt – die Unfreiheit in der Türkei unterstützen, indem man Herrn Erdogan sozusagen, egal in welcher Form, Unterstützung angedeihen lässt. Das ist nicht in Ordnung. Wir sollten eher alles dafür tun, dass diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit in der Türkei ausleben wollen, eine Chance dazu haben, aber nicht, dass derjenige gewinnt, der zum Schluss diese Meinungsfreiheit und alle anderen demokratischen Rechte bekämpft. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Wir sind an einem Punkt, an dem wir klarmachen müssen, dass es für Herrn Erdogan auch einen Tag nach dem Wahlkampf gibt. Dieser Tag wird kommen und ist nicht mehr lange hin. Anscheinend ist er auch nicht mehr ganz so siegesgewiss, ansonsten könnte man gar nicht erklären, was er zurzeit durchführt. Er muss ja auch wissen, dass man sich danach noch in die Augen schauen können sollte.

Wichtig ist auch, ihm klarzumachen, dass wir nicht erpressbar sind. Nur, weil es im Rahmen der Flüchtlingspolitik eine Vereinbarung gab, heißt das nicht, dass wir uns hier alles gefallen lassen. Es heißt auch nicht, nur weil wir ein Interesse daran haben, die Türkei auch als NATO-Mitglied nicht zu verlieren, dass wir uns in dieser Frage alles gefallen lassen. Das heißt auch nicht, dass wir uns in einer Art und Weise beleidigen lassen, die in der Europäischen Union eher ungewöhnlich ist, weil sie nicht mit unseren Werten zusammenfällt, dass wir auf der anderen Seite diese Beitrittsverhandlungen weiter führen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Ich glaube, dass das mittlerweile eine Phantomdebatte ist und man den türkischen Kollegen auch sagen muss, diese Debatte kann ad acta gelegt werden; denn so weit, wie sich die Türkei mittlerweile ins Abseits gestellt hat, ist es ausgeschlossen, dass die Türkei noch Mitglied der Europäischen Union werden kann. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch das gehört zur Wahrheit dazu.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb habe ich es auch für richtig gehalten, dass Ministerpräsident Rutte in den Niederlanden klargemacht hat, dass das für ihn nicht in Ordnung ist, dass er das auch nicht akzeptiert – genauso wie Volker Bouffier. Ich glaube, deshalb sollte der Hessische Landtag auch heute bei den vielen Anträgen, die es gibt, versuchen, gemeinsam zu votieren, weil klar ist: Dieses Parlament hat dort keine parteipolitische Funktion, sondern eine insgesamt demokratiestärkende Funktion. Deshalb sollten wir zu diesen Anträgen gemeinsam votieren.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Letzter Punkt dazu, meine Damen und Herren: Ich glaube, Herr Ministerpräsident, dass wir unsere Partnerschaft mit Bursa nutzen sollten. Ich fand es richtig, dass Frau Kollegin Puttrich mit ihrer Delegationsreise noch einmal versuchte, den Kontakt zu unserer Partnerregion zu stärken, aber auch den Dialog zu führen.

Sie müssen den Punkt kurz machen.

Vielen Dank. – Ich finde, es ist jetzt der richtige Moment, dass wir auch den Gouverneur von Bursa hierher einladen, damit er sich einmal davon überzeugen kann, wie mittlerweile die Stimmung gegenüber der Türkei ist. Ich glaube, dass wir diesen Dialog auch hier mit den türkischen Freunden aus Bursa führen sollten. Wir sollten jetzt nicht aufgeben. Ich halte auch das für richtig, was Herr Schäfer-Gümbel dazu gesagt hat, jetzt in die Türkei zu reisen. Aber ich glaube, es wäre der richtige Zeitpunkt, eine Einladung auszusprechen, den Gouverneur von Bursa hierher einzuladen und die Diskussion hier zu führen. Denn, ehrlicherweise gesagt, wenn der merkt, welche Stimmung hier ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass das spurlos an ihm vorbeigeht. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Thorsten Schäfer- Gümbel (SPD))

Danke, Herr Rentsch. – Für die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN spricht ihr Vorsitzender, Herr Wagner.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir sind in den letzten Tagen mit ungeheuerlichen Entgleisungen des türkischen Staatspräsidenten konfrontiert. Da werden NaziVergleiche angestellt, was die Niederlande angeht, was die Bundesrepublik Deutschland angeht, aber auch was einzelne Mitglieder der Bundesregierung persönlich angeht. Diese Vergleiche sind unverschämt, sie sind ungeheuerlich, und sie sind völlig inakzeptabel.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Mehr noch: Sie verhöhnen die Opfer des Holocaust. Und das weisen wir in aller Form und mit aller Schärfe zurück.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Was der türkische Staatspräsident hier tut, ist der klassische Fall einer Projektion. Er wirft anderen diktatorisches und undemokratisches Verhalten vor, um von dem abzulenken, was er selbst im eigenen Land tut.

(Zuruf von der CDU: Sehr richtig!)

Und das, was er dort tut, erfüllt uns mit tiefer Sorge, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der CDU: Jawohl!)

Es hat nichts mehr mit Demokratie, mit Rechtsstaat, mit Presse- oder Meinungsfreiheit zu tun. Wir sehen, dass unliebsame Bürgerinnen und Bürger, Beamtinnen und Beamte oder kritische Journalistinnen und Journalisten willkürlich inhaftiert werden. Das akzeptieren wir nicht. Deshalb fordern wir eindeutig und einmütig in diesem Landtag die Freilassung von Deniz Yücel und von allen anderen zu Unrecht inhaftierten Menschen in der Türkei.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU, bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN sowie des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Das Handeln von Herr Erdogan trifft auf unseren entschiedenen Widerstand. Auf die Infragestellung von Freiheitsrechten antworten wir entschieden und entschlossen mit der Verteidigung unserer Freiheit. Dem autokratischen Gehabe stellen wir unsere demokratischen Werte entgegen. Und auf die Maßlosigkeit dieses Staatspräsidenten antworten wir mit Entschlossenheit, aber eben auch mit Augenmaß, meine Damen und Herren.

Wir halten die türkische Regierung nicht für die Türkei, wir halten die türkische Regierung nicht für die Türkinnen und Türken. Wir machen die Menschen, die bei uns leben und türkischstämmig sind, nicht für das verantwortlich, was Herr Erdogan tut.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Wir haben klare Botschaften, weil wir entschlossen, aber eben mit Augenmaß reagieren. Wir haben eine klare Botschaft, was das Verhältnis zwischen der Türkei und der Europäischen Union angeht. Wir wollen die Perspektive nach Europa für die Türkei erhalten. Das setzt aber eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei voraus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten CDU, der SPD und der LIN- KEN)

Wir haben eine klare Botschaft an die Menschen, die in der Türkei leben: Wir kritisieren eure Regierung, aber wir wollen weiter ein partnerschaftliches und freundschaftliches Verhältnis mit der Türkei.