Protokoll der Sitzung vom 04.05.2017

(Beifall der Abg. Nicola Beer (FDP))

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema Kinderarmut geht alle an. Vor allem geht es auch die Mitglieder des Hessischen Landtags etwas an. Wir glauben, dass es notwendig ist, sich diesem Thema zu stellen.

Frau Schott, ich hätte mir gewünscht, dass Sie, wenn Sie über das Thema Armut sprechen, zumindest ein Stück weit die Zuhörer darüber informieren, wie denn die Armut in Deutschland gemessen wird. Bei armen Menschen hat man sofort eine Vorstellung im Kopf. Wir haben in Deutschland einen ausgeklügelten Sozialstaat. Da gibt es schon einen kleinen Unterschied. Ich will nicht sagen, dass diese Familien viel Geld haben. Ich möchte trotzdem einmal darauf hinweisen, dass unser System die Familien schon absichert, auch wenn es wirklich nicht viel Geld ist.

(Beifall der Abg. Jürgen Lenders und Nicola Beer (FDP))

Ich will Ihnen deshalb einmal eine Zahl nennen. Dann ist das nicht so theoretisch. Eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren hat nach den Berechnungen aus dem Jahr 2015 – diese Zahl hatte ich gerade da, da passiert nicht so viel – knapp 2.000 € netto. Das ist nicht viel. Man kann damit weniger machen, wenn man in einer Großstadt lebt. Es ist aber auch nicht viel, wenn man auf dem Land lebt. Ich wollte das nur einmal sagen, damit man ein Gefühl dafür bekommt, über welche Summe man da redet. Ich glaube, das sollte man einfach einmal dazusagen.

Ich glaube, die Analyse ist ansonsten richtig. Das ist extrem unangenehm für uns alle und insbesondere für die betroffenen Familien, wenn Kinder in Armut aufwachsen müssen und ihre Chancen im Leben deshalb eingeschränkt sind. Das ist eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen.

(Beifall der Abg. Jürgen Lenders und Nicola Beer (FDP))

Es ist aber auch wichtig, sich diese Gruppe einmal genauer anzuschauen. Wie setzt sich diese Gruppe zusammen? Wo kommen diese Familien her? Aus welcher Gruppe kommen sie? Da gibt es etwas, von dem ich glaube, dass es einem noch einmal ganz deutlich gemacht werden muss. 45 % der Kinder, für die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II bezogen werden, sind die der Alleinerziehenden. Das ist eine große Gruppe, über die wir uns schon oft unterhalten haben. Hinsichtlich der Frage der Armut haben sie immer noch völlig unverschuldet eine ganz spezielle Belastung. Ich glaube, bei der Gruppe der Alleinerziehenden muss man hinschauen. Das ist ein ganz großes Thema.

Bei der zweiten signifikanten Größe, die einem, wenn man sich damit beschäftigt, sofort ins Auge fällt, geht es um die Frage: Haben die Familien einen Migrationshintergrund oder nicht? – Auch hier gibt es einen signifikanten Unterschied hinsichtlich der Menschen, die von Armut betroffen sind.

Diese zwei signifikanten Gruppen muss man sich genau ansehen. Denn wenn man bei den Lebensumständen dieser Menschen etwas nachhaltig verbessern will, dann muss man natürlich versuchen, die Instrumentarien darauf abzustimmen.

Deshalb wäre es natürlich schön gewesen, wenn der Landessozialbericht schon vorgelegen hätte. Dann hätten wir uns vielleicht auch mit deutlich mehr Zahlen und ein bisschen mehr Schärfe mit dem Thema auseinandersetzen können.

(Beifall der Abg. Jürgen Lenders und Nicola Beer (FDP))

Statistik ist immer etwas Schönes. Sie hilft einem manchmal, an seinen Argumenten festhalten zu können. Man muss aber natürlich schon sagen, dass auch in Hessen die Armut zugenommen hat, auch wenn wir, gemessen an dem bundesdeutschen Durchschnitt, gut dastehen.

Die Analyse liegt relativ klar auf der Hand. Dazu brauche ich gar nicht in die statistischen Zahlen zu schauen. Das hängt natürlich auch ein Stück weit mit der Flüchtlingssituation zusammen. Sie spielt da eine maßgebliche Rolle.

Man kann da jetzt noch tiefer bohren und fragen: Wie ist das denn mit einer Beschäftigung für die Frauen, die zu uns geflohen sind? – Ich weiß nicht, wer von Ihnen beim Flüchtlingsgipfel war. Ich glaube, es war Ihr Fraktionsvorsitzender. Da hat der Chef der Bundesarbeitsagentur einmal ausgeführt, wie problematisch es ist, geflüchteten Frauen diese Beschäftigungsangebote überhaupt nahezubringen. Er zeigte auf, was es da an Hemmschwellen gibt. Die Männer kommen einfach mit und sagen: Nein, sie geht jetzt wieder mit. – Das ist kein Einzelfall. Vielmehr ist das ein signifikantes Problem. Das ist vielfältig.

Meiner Ansicht nach gibt es zwei wichtige Punkte, die wir im Auge behalten müssen. Es geht um die Alleinerziehenden. Das ist ein ganz großes Thema. Es geht natürlich auch um Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Wenn man sich die Zahlen anschaut, erkennt man, dass bei den Familien ohne Migrationshintergrund der Anteil der Kinderarmut zwar nur marginal, aber doch leicht gesunken ist.

Wie gesagt, es ist der Blick von oben drauf. Da lässt sich leicht argumentieren. Wenn man ein bisschen in die Tiefe geht, sieht man, dass es da entsprechende Handlungsfelder gibt.

Jetzt möchte ich noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen, was man da denn tun kann. Wir haben das beim Bildungspaket erlebt. Da ging es um die Frage, was das richtige Instrumentarium ist, um zu unterstützen. Ich bin nicht mit allen Vorschlägen, die DIE LINKE macht, einverstanden. Denn wir alle wissen, dass kostenlose Kindertagesstätten jetzt nicht gerade das Thema für die Gruppe ist, über die wir gerade reden.

(Zuruf von der SPD)

Nein, das ist es nicht.

(Zuruf)

Darauf bin ich schon gespannt. – Ich glaube, da gibt es eine Herausforderung, der wir uns hier stellen wollen. Da geht es um die Frage, wie wir sicherstellen können, dass unabhängig davon, mit welchem Einkommen die Familien ausgestattet sind, jedes Kind in Hessen die Chance hat, et

was aus einem Leben zu machen. Das muss die oberste Zielmarke sein.

Wir als Staat kommen da schon intensiv ins Spiel, weil es natürlich eine große Korrelation zwischen der Bildungsherkunft der Eltern und dem Bildungsweg der Kinder gibt. Das gefällt uns vielleicht nicht, aber das ist ein Fakt, den wir nicht wegdiskutieren können. Darum kommt natürlich unserem Bildungssystem eine zentrale Rolle bei der Frage zu: Wie kann man Kindern diese Chance ermöglichen? Wenn man sich die Entwicklung anschaut, stellt man fest, dass die Kinder immer häufiger und länger in Betreuungseinrichtungen sind – unabhängig davon, ob einem das politisch gefällt oder nicht. Ich habe grundlegend nichts dagegen, aber es mag andere Parteien geben, die etwas dagegen haben. Das Statistische Bundesamt hat Betreuungseinrichtungen schon unter Bildungseinrichtungen subsumiert, d. h., dort sind die Krippe und die Kindertagesstätte schon unter dem Label „Bildungseinrichtungen“ erfasst. Ich glaube, wir haben da noch einen ziemlich weiten Weg vor uns.

(Beifall bei der FDP – Vizepräsident Dr. Ulrich Wil- ken übernimmt den Vorsitz.)

Den Weg müssen wir gehen. Ich hoffe, dass wir diese Überlegung dann auch gemeinsam hier im Landtag vertreten werden, wenn wir den Landesozialbericht auswerten. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist – auch wenn Eltern der deutschen Sprache vielleicht nicht so mächtig sind oder ihre Bildungsaffinität nicht im Zentrum steht –, dass wir Kindern aus diesen Familien trotzdem ausreichend Lebenschancen ermöglichen sollten, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Da darf Geld keine Rolle spielen. Das ist unsere feste Überzeugung. Ich glaube, das ist auch eine wichtige politische Aussage.

(Beifall bei der FDP)

Ob man jetzt 100 € mehr oder weniger hat – was für die betroffenen Familien natürlich wichtig ist – und ob das am Ende entscheidend ist, um nachhaltig Armut zu bekämpfen, oder ob auch andere wichtige Dinge, gerade bei den Alleinerziehenden, eine Rolle spielen, das diskutieren wir hier nicht zum ersten Mal. Darum glaube ich auch, dass man ganz genau hinschauen muss.

Ich finde es gut, dass wir eine Plattform haben, um uns an diesem Thema hier abzuarbeiten. Aber Respekt: Den Antrag der LINKEN hat man relativ schnell fertiggestellt, nicht weil er möglicherweise falsche Dinge enthält, sondern er schreibt sich einfach so herunter. Wenn man das Thema ernst nimmt – und Sie nehmen es sicherlich ernst –, sollte man da vielleicht doch ein bisschen konkreter werden. Man sollte nicht einfach sagen: Landesregierung, mach doch bitte einmal einen Aktionsplan, und dann wird alles gut.

(Beifall bei der FDP)

Ich erkenne das Thema an, das Sie hier gesetzt haben. Ich weiß auch, dass wir uns in meiner Fraktion intensiv mit diesem Thema beschäftigen. Wir werden dazu auch initiativ werden. – Aber einfach eine Überschrift mit ein paar Punkten aufzuführen: Das kann man natürlich machen. Wir haben es nicht gemacht. Sie haben es gemacht. Wir werden es in der Form allerdings nicht unterstützen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Danke Herr Rock. – Für die SPD-Fraktion hat sich Herr Merz zu Wort gemeldet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als ich gelesen habe, dass die Fraktion DIE LINKE ihren Setzpunkt „Für einen Aktionsplan gegen Kinderarmut“ nennen würde, und der Antrag noch nicht vorlag, habe ich gedacht: Ich bin jetzt einmal gespannt, was da kommt. Dann habe ich gelesen, was da kam, und ich hätte darauf gewettet, dass es den üblichen, reflexartigen Gegenantrag der Koalition dazu gibt. Deswegen ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass diese Debatte über ein Thema, das an Wichtigkeit eigentlich kaum zu überbieten ist, innerhalb von 20 Minuten auf dem üblichen Niveau von zwei sich widersprechenden Anträgen zweier sich widersprechender Fraktionen geführt worden ist. Das ist extrem schade.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Kollege Rock hat jetzt einen – wie ich finde – guten Versuch gemacht, um zumindest einmal darüber zu reden, worum es in der Sache geht, und um einen differenzierten Blick auf das Thema werfen zu können. Ich will das nachher fortführen. Ich möchte aber vorher ein paar Dinge, eigentlich Selbstverständlichkeiten, sagen, die in der Debatte in ein paar Sätzen anklangen und die ich nicht so einfach stehen lassen will.

Erstens. Kinderarmut ist immer und überall ein Skandal – und in einem reichen Land noch viel mehr. Dazu brauche ich nicht den Blick über die Grenzen auf die Elendslager in Libyen oder auf dem Balkan zu werfen, auf die das UNKinderhilfswerk heute wieder hingewiesen hat. Vielmehr ist es in einem reichen Land wie der Bundesrepublik ein Skandal, dass hier Kinder mindestens in relativer Armut leben. Es ist für die Beurteilung dieses Sachverhalts relativ unerheblich, ob wir jetzt von 18, 19 oder 20 % reden oder ob wir an dritter, vierter oder vorletzter Stelle im Bundesranking stehen. Jedes Kind, das in Armut lebt, ist eines zu viel.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Zweitens. Ich weiß nicht, wer es nebenher gesagt hat, dass sie unverschuldet in Armut seien. – Ja, was denn sonst? Womit könnte ein Kind Armut verschuldet haben? Ich will das einfach nur einmal sagen, damit wir solche Dinge nicht so ganz gedankenlos nebenbei sagen.

Drittens. Frau Kollegin Ravensburg, natürlich ist Kinderarmut immer Familienarmut. Wie sollte es auch anders sein? Wo kämen denn all diese Kinder her, wenn nicht aus Familien, die in Armut leben? Selbstverständlich leben dann diese Kinder – und das macht das Unverschuldete daran aus – in Armut. Das ist der Punkt, der nicht hinzunehmen ist.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Es ist der oberste Auftrag jeder staatlichen Ordnung, dafür zu sorgen, dass dieser Zustand zu einem Ende kommt. Das gilt insbesondere für das, was die Kollegen von den LINKEN in Punkt 1 c „gewaltfreie Erziehung/Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ ansprechen. Ein Staat, der die Kinder nicht schützt und nicht schützen kann, ist es nicht wert, ein Staat genannt zu werden. Das haben wir hier in

vielen Debatten auch zu dem Thema Schutz von Kindern vor Gewalt und sexuellem Missbrauch erarbeitet. Ich will an dieser Stelle einmal darauf hinweisen: Wir haben hierfür einen Aktionsplan. Es gibt einen Aktionsplan gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch. Herr Minister, zumindest heißt er doch so, oder nicht?

(Minister Stefan Grüttner: Doch, doch!)

Gut. Ich wundere mich, weil Sie den Kopf geschüttelt haben. – Es gibt einen, der auch auszuwerten und zu evaluieren wäre. Ich kenne aber keine Zahlen, die darauf hindeuten, dass die Situation wegen dieses Aktionsplans grundlegend anders geworden wäre. Ich will damit keinen Vorwurf verknüpfen. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Existenz eines Aktionsplans oder eines Papiers, auf dem „Aktionsplan“ steht, noch nichts darüber aussagt, ob damit tatsächlich ein Beitrag zur Lösung des Problems geleistet wird, von dem die Rede ist.

(Beifall bei der SPD – Marjana Schott (DIE LIN- KE): Doch!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, umgekehrt heißt die Tatsache, dass man an der einen oder anderen Stelle auch schon teilweise erfolgreiche Programme und Ansätze hat, noch nicht, dass dem Problem ernsthaft zu Leibe gerückt wird. Die Frage bliebe bestehen. Wenn das alles so ist, wie Sie es beschreiben – es ist nicht ganz falsch, es gibt alle diese Ansätze, wir könnten im Einzelnen über vieles streiten und haben auch schon über vieles gestritten, insbesondere was die Kinderbetreuung angeht und manches andere mehr –, so hat dies auch nicht dazu beigetragen, dass die Kinderarmut in Hessen nennenswert abgenommen hätte. Also gäbe es doch sehr viel Anlass, jenseits Ihres Antrags darüber zu reden, warum alle diese Ansätze offensichtlich noch nicht so erfolgversprechend sind, wie sie sein müssten, damit der Skandal der Jugendarbeitslosigkeit aufhört.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt sozusagen auch den umgekehrten Denkfehler auf beiden Seiten dieses Hauses. Wir hätten ein lebhaftes Interesse daran, dass wir darüber reden – Kollege Rock hat es eben stark vertieft –: Wie ist die Gruppe der Kinder und Jugendlichen? Von Jugendlichen ist in Ihrem Antrag im Grunde nicht die Rede. Sie haben jetzt in der Debatte ein bisschen dazu gesagt, wie sich die Gruppe der Kinder und Jugendlichen überhaupt zusammensetzt. Es ist ein großer Unterschied, ob ich über unter Dreijährige, über 16- bis 18-Jährige oder über Kinder nach dem schulpflichtigen Alter rede. Ich müsste dort mit ganz unterschiedlichen Ansätzen herangehen. Bei den einen geht es darum, dass das Kind nicht in den Brunnen fällt, und im anderen Fall ist der junge Mann oder die junge Frau schon längst in den Brunnen gefallen oder halbwegs auf dem Weg nach ganz unten. Das sind ganz unterschiedliche Ansätze.

Also ist darüber zu reden, wen das betrifft, in welcher Lebenssituation sich diese Menschen befinden und welche Schwerpunkte es gibt. Darauf aufbauend ist darüber zu reden, welche Daten wir hierzu benötigen.

An dieser Stelle wiederhole ich das, was René Rock gesagt hat. Ich fand das ein bisschen ärmlich. Selbstverständlich müsste dies alles in einer Landessozialberichterstattung berücksichtigt werden. Ein paar Hinweise, was dabei zu bedenken gewesen wäre oder noch zu bedenken ist, wären