Protokoll der Sitzung vom 26.09.2017

(Zuruf des Abg. Günter Rudolph (SPD))

Schauen wir einmal nach Niedersachsen. Über die Schulpolitik dort wird in drei Wochen abgestimmt. Hier wurden zu Schuljahresbeginn Hunderte Gymnasiallehrer an die Grundschulen geschickt. An manchen Gymnasien wurde teilweise jeder zweite Lehrer ausgeliehen. Im letzten Schuljahr waren von 3.500 Neueinstellungen – wohlgemerkt: Neueinstellungen – rund 430 Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung. Das entspricht einem Anteil von 12 %. Zum fünften Mal in Folge ist auch die Unterrichtsversorgung weiter gesunken.

Wir gewährleisten dafür weiterhin die durchschnittlich 105-prozentige Lehrerversorgung, und wir arbeiten mit aller Kraft daran, alle diese Stellen auch tatsächlich mit voll qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern zu besetzen. Das ist, wie Sie alle wissen, im Grund- und Förderschulbereich nicht ganz einfach. Aber genau deswegen richten wir unseren Blick schon jetzt in die Zukunft. Ich darf auf die Antwort auf die Frage vorhin verweisen: auf die 50-prozentige Steigerung der Ausbildungskapazitäten im Grund- und Förderschullehramt. Die Universitäten signalisieren uns, sie werden diese Stellen besetzen können. Auch diese Maßnahme erweist sich also als erfolgreich.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Die genannten Erfolge sind nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis kluger Reformen und großer finanzieller Anstrengungen des Landes.

Der nationale Bildungsbericht hat uns letztes Jahr bescheinigt, dass es Hessen als einzigem Bundesland gelungen ist – darauf, das sage ich ganz ehrlich, bin ich besonders

stolz –, den Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht zu halbieren.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Damit erfüllen wir das, was von den Ländern in der Qualifizierungsoffensive 2006 vereinbart wurde. Der nationale Bildungsbericht belegt auch noch etwas anderes: Wir haben eine überdurchschnittlich junge Lehrerschaft. 59 % der hessischen Lehrerinnen und Lehrer sind unter 50 Jahre alt, wir haben ein Durchschnittsalter von 46 Jahren. Das sind 5 Prozentpunkte mehr oder fünf Jahre weniger als im Durchschnitt der Länder.

Das verdanken wir der offensiven Einstellungspolitik der vergangenen Jahre, weil wir im Gegensatz zu anderen Bundesländern eben nicht zurückgehende Schülerzahlen dazu genutzt haben, Lehrerstellen aus dem System zu nehmen, sondern weil wir kontinuierlich weiter eingestellt haben, jede Stelle nachbesetzt haben und, als die Schülerzahlen gestiegen sind, zusätzliche Stellen geschaffen haben. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir jetzt eine richtige Altersmischung in den Kollegien haben und vor keiner übermäßigen Pensionierungswelle stehen. All das wird der Qualität des Unterrichts weiterhin zugutekommen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss den englischen Kunstkritiker, Sozialökonomen und Sozialreformer John Ruskin zitieren:

Qualität ist kein Zufall, sie ist immer das Ergebnis angestrengten Denkens.

Und ich möchte selbst hinzufügen: und harter Arbeit.

Diese Anstrengungen und diese Arbeit leisten unsere Schulen tagtäglich vor Ort, aber auch wir in der hessischen Bildungspolitik zu ihrer Unterstützung, zum Wohl unserer Schülerinnen und Schüler und zur Sicherung ihrer Bildung als Schlüssel zum Erfolg für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft. Das ist unsere zentrale Leitidee, und auf diesem Weg werden wir weitergehen. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der CDU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abg. Degen für die Fraktion der SPD.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kultusminister hat seine, zugegebenermaßen etwas verspätet gehaltene, Regierungserklärung

(Michael Boddenberg (CDU): Die hättet ihr gern beim letzten Mal schon gehört, so gut, wie die war!)

wir haben fast schon Herbstferien, Herr Boddenberg – unter das Motto der Bildungsqualität gestellt. Das halte ich, ehrlich gesagt, für mutig.

(Beifall bei der SPD und des Abg. René Rock (FDP))

Dabei war diese Erklärung exemplarisch für die Bildungspolitik dieser Landesregierung: Erst kommt sie bildungs

politisch gar nicht in die Gänge, dann sind die vorgestellten Maßnahmen ungenügend, halbherzig und einfach zu spät.

(Beifall bei der SPD)

Das beste Beispiel dafür ist der Lehrermangel; darauf werde ich gleich noch eingehen.

Meine Damen und Herren, diese Regierungserklärung war nichts anderes als der Beipackzettel einer Packung Beruhigungspillen mit dem Zweck, die eigentlichen Krankheiten in Hessen zu kaschieren.

(Beifall bei der SPD – Michael Boddenberg (CDU): Ach, du lieber Gott!)

Herr Kultusminister, ich finde es fast schade: Die Landesregierung scheint nicht gelernt zu haben, dass sie mit dem gebetsmühlenartigen Wiederholen von statistischen Mittelwerten und Prozentwerten und einem virtuellen Allzeithoch keinen Blumentopf an den Schulen in Hessen gewinnen kann.

(Beifall des Abg. Stephan Grüger (SPD))

Denn die Realität spricht eine ganz andere Sprache. Den Schulen ist es ziemlich wurscht, wie die durchschnittliche landesweite Lehrerversorgung ist. Denen ist egal, wie die Lehrerversorgung ist, wenn Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen, wenn gerade wieder über die WhatsappGruppe in der Klasse in der 6. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums Bilder von grausamen Enthauptungen verschickt werden – und das in aller Härte Auswirkungen auf das Lernen und Leben in der Schule hat.

Schulen sind damit konfrontiert, dass sie trotz Raumnot neue Intensivklassen aufmachen müssen und andere Schulen gar keine haben. Wir haben vorhin die Aufstellung gehört, wie diese Klassen in Hessen verteilt sind. Lehrkräfte haben kein Verständnis für Ihre statistischen Zahlen, wenn sie ungenügend auf den Jungen im Elektrorollstuhl mit Tetraspastik und geistiger Behinderung vorbereitet werden – von Unterstützung ganz zu schweigen. Lehrkräfte, die immer mehr Förderpläne schreiben müssen, ohne dass dies in irgendeiner Form honoriert wird – auch das hat nichts mit der 105-prozentigen Lehrerversorgung zu tun. Genauso verstehen Lehrkräfte es nicht, wenn Salafismus und Islamismus auch am Schultor nicht haltmachen. Das alles sind Realitäten und Herausforderungen an Schulen, auf die Sie nach wie vor keine Antworten geben.

(Beifall bei der SPD)

Wenn gleich noch mehrere Stellen an Schulen nicht besetzt sind, ist das besonders bitter.

(Alexander Bauer (CDU): Das alles war früher nicht!)

Meine Damen und Herren, das alles hat sehr viel mit dem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Da bin ich dem Minister dankbar, dass er in der Tat den gesellschaftlichen Wandel angesprochen hat. Nur, besonders ironisch ist es dann, wenn sich Schulen gerade wegen dieses Wandels mit Überlastungsanzeigen an das Kultusministerium wenden und diese Überlastungsanzeigen dann abgetan werden, und all die Sonderprogramme, die genau bei diesen Problemstellungen helfen sollen, zusammengestrichen werden, weil die Lehrerversorgung für die Grundunterrichtsversorgung umgelenkt werden muss und die Schulen, die Schulleitungen vor Ort aufgrund des Lehrermangels in Hessen ge

zwungen sind, genau diese Sonderprogramme zusammenzustreichen, damit der Grundunterricht gehalten werden kann.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, das ist Schulqualität à la Schwarz-Grün.

Der Lehrkräftebedarf, der Lehrermangel ist nicht erst zu Schuljahresbeginn akut geworden. Wir haben immer wieder davor gewarnt, allen voran im Förderschulbereich. Denn die Landesregierung hat schlicht und einfach vergessen oder übersehen, im Gespräch mit den Universitäten frühzeitig ausreichend in die Lehrerausbildung zu investieren. Seit sechs Jahren ist es keine Überraschung, dass die Geburtenzahlen steigen, und genauso keine Überraschung, dass Lehrkräfte in Hessen pensioniert werden. Das alles hat sehr wenig mit Flüchtlingen zu tun; das hat man auch dem Haushaltsplan entnehmen können. Selbst die Stellen, die für Intensivklassen geschaffen wurden, sind gar nicht alle verausgabt worden.

Meine Damen und Herren, das Einzige, was die Landesregierung in den letzten Jahren getan hat: Sie hat den Grundschullehrern angeboten, sich zu Förderschullehrern weiterzuentwickeln. Sie hat den Mangel von der einen Tasche in die andere Tasche verschoben und damit die ganze Lage noch schlimmer gemacht.

(Beifall bei der SPD)

Genauso hat die Landesregierung die Ausbildungskapazitäten an den Studienseminaren reduziert und den Mangel noch verschärft.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Faktencheck. Ich bin dem Minister dankbar, dass er die 6.000 angesprochen hat. Das sind 6.000 Personen, zu denen uns der Minister auf unsere Frage bisher keine Antwort geben konnte, welche Qualität da hinterlegt ist. Es geht ja heute um Qualität. 5.500 sind mit einer sogenannten Unterrichtserlaubnis eingetragen, zu 500 kann man gar keine Angabe machen.

Daher sind wir wirklich sehr auf die Antwort auf unseren Berichtsantrag gespannt. Es scheint so zu sein, dass hier Lehrkräfte tätig sind, die keine pädagogische Qualifikation haben. Herr Kultusminister, ich rede nicht von den Lehrkräften an beruflichen Schulen, die durch ihre Berufsausbildung und ihre berufliche Tätigkeit den Schülerinnen und Schülern hilfreiche Hinweise in Bezug auf ihre spätere Berufstätigkeit geben. Ich rede auch nicht von den Religionslehrkräften. Ich rede von Lehrkräften, die kein Hochschulstudium absolviert haben, die möglicherweise ein Lehramtsstudium abgebrochen haben. Die Schulen suchen solche Leute aber händeringend, weil sie in großer Not sind und die Unterrichtsversorgung anders nicht abgedeckt bekommen – insbesondere an den Grundschulen und an den Förderschulen. Die finden heute nicht einmal mehr jemanden für „Verlässliche Schule“, weil der Markt an möglichen Leuten, auch an Studierenden, abgegrast ist, weil die Leute auf ordentlichen Stellen nur befristete Verträgen bekommen. So drastisch ist der Lehrermangel in Hessen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kultusminister, wenn Hessen in bundesweiten Vergleichen mit seinen angeblich nur 100 an den Grundschulen unbesetzten Stellen relativ gut abschneidet, dann liegt das nur daran, dass Hessen durch die Einstellung von Leuten ohne pädagogische Ausbildung den eigentlich vor

handenen Lehrermangel besonders dreist kaschiert und durch unehrliches Gebaren den Eindruck erweckt, alle Lehrerstellen in Hessen seien mit qualifizierten Personen besetzt. – So viel zur Schulqualität in Hessen.

(Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU)

Eine der „Nebenwirkungen“ ist übrigens, dass die Vertretungsreserve in Hessen quasi nicht mehr existiert. Erst gestern hat mir eine Lehrkraft berichtet, es gebe Klassen, die bislang keinen Mathematik-, Deutsch- und Sportunterricht bekommen haben, weil die eingeplanten Lehrkräfte langzeiterkrankt oder in Elternzeit seien und man keinen Ersatz für sie finde; es sei damit zu rechnen, dass Langzeiterkrankungen, Mutterschaften und Elternzeiten den Unterrichtsbetrieb künftig zusammenbrechen lassen werden. Mit diesem Problem ist diese Schule nicht alleine; es sind einige Schulen davon betroffen.

(Holger Bellino (CDU): Das waren die HolzapfelZeiten, von denen Sie reden!)

Herr Bellino, damals hatten wir wirklich einige Probleme, aber sicherlich keinen Lehrermangel.

(Lebhafter Widerspruch bei der CDU)