Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass diese Debatte heute besser nicht stattgefunden hätte, dann ist er eben vorgelegt worden.
Wir haben dem Versuch der LINKEN beigewohnt, nach Thomas Müntzer auch Martin Luther und eigentlich auch Bismarck zu beerben – ein Versuch, den schon die DDR im Rahmen ihrer Vergangenheitspolitik unternommen hatte, der aber dadurch, dass ihn der Kollege Schaus jetzt wiederholt hat, keinen Deut realitätsnäher geworden ist.
Es ist mit dieser Rede ein bisschen wie mit der einleitenden Bemerkung von Marx in „Der achtzehnte Brumaire“: Alle großen Ereignisse wiederholen sich – einmal als Tragödie und einmal als Farce.
Eine Rede zu halten, in der man Martin Luther zum Ahnherrn des modernen Sozialstaats macht, das ist so daneben, wie es nur irgendetwas sein kann.
diese Massenschlächterei, auf die Martin Luther unter Berufung auf die christliche Freiheit und in Abgrenzung der Vorstellung der Bauern von einer staatlichen Verantwortung und einer Befreiung von der Leibeigenschaft, von dem Kirchenzehnten geantwortet hat: „Das heißt, christliche Freiheit ganz fleischlich machen und aus dem Reich Christi ein äußerliches, weltliches machen, was unmöglich ist“, das ist geschichtsklitternd, wie ich selten etwas erlebt habe.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe schon gemerkt, dass die Unruhe während meiner Rede bei der SPD am größten war.
In der Tat kann man sich dem Thema Luther auf unterschiedliche Art und Weise nähern. Als Erstes habe ich bei der Vorbereitung meiner Rede an Thomas Müntzer gedacht, auch an die Bauernkriege.
Wir haben uns aber gemeinsam mit meinen Genossinnen und Genossen von der Landesarbeitsgemeinschaft Linke Christinnen und Christen in Hessen – die gibt es nämlich auch innerhalb der LINKEN – darauf verständigt, uns ausschließlich auf den Text des Antrags zu beziehen; denn die Dimension, die Sie, Herr Merz – jetzt sage ich bewusst „Herr Merz“ –, jetzt sozusagen in die aktuelle Politik getragen haben, mir vorzuwerfen, finde ich geradezu grotesk. Ich kann nur sagen: Wir nähern uns auf unterschiedliche Art und Weise, und uns geht es um die Betonung des Sozialstaats in dieser Debatte, der im Antrag der CDU in keinster Weise erwähnt wurde. Darum geht es, und nicht darum, sozusagen 500 Jahre Geschichte in zehn Minuten aufzuarbeiten. Diesen Ansatz hatten weder Sie noch wir.
Meine lieben Kollegen, wenn Sie Ihre Debatten beendet haben, sage ich auch ein paar Worte zu dem Thema. – Liebe Frauen, verehrten Kollegen! Ich wundere mich ein bisschen über die bisherige Debatte. Einige der Männer, die hier geredet haben, scheinen unangenehm davon berührt zu sein, sich mit dem Thema Reformation befassen zu müssen, einem Thema, das mit Kirche und Glauben zu tun hat. Herr Greilich stellt gar infrage, ob man überhaupt theologische und politische Aussagen irgendwie miteinander besprechen kann.
(Zuruf des Abg. Dr. Frank Blechschmidt (FDP) – Vizepräsidentin Ursula Hammann übernimmt den Vorsitz.)
Ich möchte nur einmal darauf hinweisen, dass etwa 60 % der Inhalte von Luthers Schriften politisch waren.
Er hat die politischen Zustände seiner Zeit in seinen Schriften immer beschrieben. Deswegen wäre es ein bisschen absurd, heute infrage zu stellen, dies auch einmal zusammen in einer Debatte behandeln zu können.
Was Herr Schaus aus dem Thema macht, dazu hat Herr Merz schon etwas gesagt. Das lassen wir einfach einmal dahingestellt.
Ich stehe hier als Mitglied der evangelischen Kirche und als Mitglied der evangelischen Kirchensynode. Das veranlasst mich aber in keiner Weise dazu, irgendwie missiona
risch auf Sie einwirken zu wollen, sondern ganz im Gegenteil versetzt es mich in die Lage, sehr entspannt über ein solches Thema, auch völlig konträr, im Hessischen Landtag zu reden.
Ich denke, wir könnten uns einmal damit befassen, was Luther und die Reformation eigentlich bewirkt haben, was wir bis heute spüren. Dazu gehört unbedingt die Bibelübersetzung. Nachdem über Luther die Reichsacht verhängt und er für vogelfrei erklärt wurde, als er als Junker Jörg auf der Wartburg verbannt war, griff er zur Feder. – By the way: Luther war ein Mensch, der wirklich Humor hatte. Vielleicht sollten wir uns dem ganzen Thema mit ein bisschen Humor nähern. Das will ich jetzt einmal versuchen.
Als er im Jahr 1521 an einem Adventssonntag zur Feder griff, plagten ihn nach eigenen Worten „Langeweile und Darmträgheit“. So widmete er sich einer Last, die er eigentlich über seine Kräfte sah: Er übersetzte das Neue Testament.
Wie war das, gab es vorher schon Übersetzungen? Es gab welche, es gab schon 15 Übersetzungen des Neuen Testaments. Aber das waren vor allem Argumentationshilfen für Geistliche, die fast nicht verständlich und in Latein verfasst waren und die sich auf eine 1.000 Jahre alte Übersetzung des ursprünglich griechischen Textes bezogen. Luther nahm den Urtext und übersetzte ihn. Sein Anliegen war es, für die Menschen bzw. die Gläubigen die Bibel in einen verständlichen, bildhaften Text zu übersetzen, sodass jeder ihn verstehen und jeder Gläubige auch damit arbeiten konnte.
Das hat er auf eine ganz wunderbare Art getan; denn seine Sprachgewalt war so lebensnah, volkstümlich und bildhaft wie nichts zuvor. Er hat poetische Bilder erfunden, von denen ich einige zitieren möchte. Zum Beispiel wird im Matthäus-Evangelium das Wort „proskairos“ verwendet – unstet, vergänglich –, woraus er „wetterwendisch“ macht – ein Wort, das heute nicht mehr verwendet wird, aber unheimlich bildhaft ist.
Seine Ausdrücke wie die „Feuertaufe“, der „Bluthund“, „Selbstverleugnung“, „Machtwort“, „Schandfleck“ oder auch seine Metaphern wie „Perlen vor die Säue werfen“, ein „Buch mit sieben Siegeln“, „die Zähne zusammenbeißen“ oder der „Wolf im Schafspelz“ sind uns bis in den heutigen Sprachgebrauch erhalten geblieben. Luthers Übersetzung hat die Sprache tatsächlich bis in die heutige Zeit hinein verändert – das kann man doch einmal ganz entspannt in einer solchen Debatte erwähnen.
Es ist auch erwähnenswert – jetzt kommen wir auch ein bisschen zu Hessen –, dass in der Zeit der Reformation die Grundlage für unser heutiges System der freien Bildung, Wissenschaft und Forschung gelegt wurde; denn bis zur Reformation gab es nur das mittelalterliche Schulsystem, und bis dahin existierten vor allem kirchlich getragene Schulen. In der Zeit der Reformation und danach waren viele Schulen verwaist. Martin Luther und Philipp Melanchthon erkannten eine Gefahr. Sie erkannten die Gefahr, dass die Schulbildung darniederliegt, weswegen sie den
Beginn einer staatlichen Bildung forderten. Sie forderten, dass die Städte bzw. der Staat die schulische Bildung übernehmen sollten. Das war tatsächlich der Beginn der allgemeinen staatlichen Schulbildung, wie sie dann ganz konsequent erst im 20. Jahrhundert umgesetzt und verwirklicht wurde.
Außerdem hat Melanchthon durch sein Wirken an der Universität Wittenberg viele Bildungsreformen vorangetrieben, vor allem im deutschen Universitätswesen. Dem humanistischen Ideal folgend, forderte er eine universelle Bildung, die wir noch heute haben. Dazu gehörten neben den sieben traditionellen Studienfächern – Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik usw. – auch Theologie, Geschichte und die Naturwissenschaften. Dies war tatsächlich der Beginn der freien Universitäten, Wissenschaft und Forschung, wie wir sie heute kennen.
Zum Lande Hessen – der Kollege Utter hat es bereits erwähnt – gehört das Marburger Religionsgespräch zwischen Luther und Zwingli, das leider erfolglos, aber immerhin friedlich verlief – sie konnten sich nicht auf ein gemeinsames Verständnis des Abendmahls bzw. der Wandlung verständigen.
Eine ganz wesentliche Rolle aber hat Landgraf Philipp I., genannt der Großmütige, aus dem Haus Hessen gespielt. Es gibt da eine ganz nette Anekdote. Er war verheiratet, und das wohl ganz glücklich – er hatte mit seiner Frau zehn Kinder –, und diese Frau hatte einen kleinen Hofstaat. Nun geschah es, dass Philipp ein Auge auf eine dieser Hofdamen warf. Auch sie war ihm in Liebe und Zuneigung zugewandt. Nun befand sich Philipp in einem Dilemma: Einerseits war er einer der Fürsten, die sich gegen den Kaiser wandten und die Reformation befürworteten. Es war ja faktisch ein Aufstand, den die deutschen Fürsten damals betrieben. Andererseits war es mit seinem Glauben nicht vereinbar. Also wandte er sich an Luther und Melanchthon und fragte, was er denn nun tun könne. An dieser Stelle war Luther sehr politisch; denn ihm war völlig klar, dass er diese Fürsten brauchte, um den Protestantismus durchzusetzen. So erlaubte er ihm die „Ehe zur zweiten Hand“, eine ganz uralte Geschichte. Er erlaubte ihm tatsächlich, eine Zweitfrau zu nehmen, sodass Philipp am Ende Luther weiterhin gegen den Kaiser unterstützte und Luther ihm im Gegenzug gewährte, eine zweite Frau zu ehelichen. Das hat Philipp in der Folge noch große Schwierigkeiten gebracht, aber daran sieht man, dass die ganze Geschichte tatsächlich hochpolitisch war. Das geschah hier in Hessen.
Übrigens existiert noch heute ein Brief dieser Geliebten und Zweitfrau im Museum in Marburg, man kann ihn sich im Original ansehen. In diesem schreibt diese Frau an Philipp, es sei ein großes Unglück, dass sie in solche Umstände geraten seien – man kann ich denken, in welche –, aber es sei ein großes Glück, dass sie durch diesen geliebten Mann in diese Umstände geraten sei. – Das ist auch ein Stück hessische und ganz interessante Geschichte.
Die Gründung der ersten evangelischen Universität in Marburg sollte auch nicht unerwähnt bleiben; denn das ist auch ein Stück hessische Reformationsgeschichte.
Ganz interessant ist auch ein Blick auf Luther und die Frauen. Die Frauen hatten eine klare Rolle. Luther hat es so formuliert:
Ein Weib ist ein freundlicher, holdseliger und kurzweiliger Lebenskamerad. Weiber tragen Kinder und ziehen sie auf, regieren das Haus und teilen ordentlich ein, was der Mann heimbringt, … dass nichts unnütz vertan wird und jeder bekommt, was ihm gebührt.
Na ja, das könnte man auch auf die Fünfzigerjahre anwenden. Da war die Haltung der Frau gegenüber genauso. Heute sind wir zum Glück ein Stückchen weiter. Interessant ist aber, dass Luther seiner Frau Katharina durchaus gewährte, den gesamten Hof zu führen. Sie machte daraus ein florierendes Wirtschaftsunternehmen; vorher war das ein ziemlich verrotteter Hof. Die beiden haben wohl in einer relativ guten Partnerschaft auf Augenhöhe gelebt, was für die damalige Zeit ziemlich ungewöhnlich war.