Ein Moment, Kollege Boddenberg. – Meine Damen und Herren, bitte beruhigen Sie sich wieder. Herr Kollege Boddenberg hat das Wort, bitte sehr.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, dass ich es tatsächlich für sehr notwendig halte, dass wir heute hier im Hessischen Landtag auch einmal außerhalb der landespolitischen Themen, die wir gestern und vorgestern hatten und heute Nachmittag haben werden, über das Ergebnis dieser Bundestagswahl reden. Das wird wahrscheinlich nicht das letzte Mal sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, freie, gleiche und geheime Wahlen sind das höchste Gut einer Demokratie. Ich glaube, zu diesem höchsten Gut gehört dazu, dass wir zunächst einmal dieses Wahlergebnis akzeptieren, so wie es ist. Das wiederum heißt nicht, dass wir alles inhaltlich akzeptieren müssen, was Menschen möglicherweise motiviert hat, ihr Kreuz hier oder dort zu machen. Es heißt zunächst einmal, zu akzeptieren, dass es offensichtlich Menschen gibt – das ist das, worüber am heutigen Tag und in den letzten Tagen gestritten und gesprochen wurde –, die ihr Kreuz bei einer Partei gemacht haben, weil sie ihren Unmut zum Ausdruck bringen wollten – einer Partei, über die wir uns hier bezüglich der Frage der Qualität, aber auch der Inakzeptabilität nicht unterhalten müssen. Ich will noch einmal daran erinnern: Die meisten Demoskopen sagen, dass drei Viertel derjenigen, die ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, nicht deren Inhalte gewählt haben, sondern ein Zeichen, ein Signal setzen wollten. Ich selbst habe diese Erfahrung in vielen Wahlkampfveranstaltungen gemacht. Aus meiner Sicht wäre es klüger, sein Kreuz an an
Apropos Denkzettel: Es stellt sich natürlich für uns alle die Frage, weshalb wir ein solches Wahlergebnis in einer Zeit haben, in der es den Menschen in diesem Land so gut geht wie nie zuvor – ich schränke immer gleich ein: den meisten so gut geht wie nie zuvor –, und weshalb die Große Koalition bei einem solchen Zustand der Republik nicht erfolgreich war, sondern beide Parteien, beide Koalitionäre in dieser Wahl verloren haben. Sie mussten deutliche Stimmenverluste hinnehmen.
Dann komme ich schon zu der Frage: Wie ist denn dieser Wahlkampf verlaufen? Die SPD wird es mir als früherer Koalitionspartner der CDU sicher nicht übel nehmen, wenn ich sage, dass wir auch darüber reden sollten, wenn es einem Land gut geht. Wir sollten nicht versuchen, wie Herr Schulz es gemacht hat, aus einem eigentlich guten Zustand dieses Landes einen Zustand herbeizureden, als stünden wir kurz vor dem Abgrund.
Zurück zu denen, die sagen: Obwohl es so ist, bin ich mit vielem unzufrieden. – Ja, da bin ich bei all denen, die sagen: Lass uns doch darüber reden, was diese Menschen bewogen hat, ihr Kreuz an einer Stelle zu machen, an der wir es gemeinsam außerordentlich bedauern. Wollen wir uns doch nichts vormachen: Es geht in allererster Linie darum, einer Gesellschaft, die in weiten Teilen von sehr viel Unsicherheit und Ängsten geprägt ist, Antworten darauf zu geben, wie die Politik mit diesen Ängsten umgeht und wie es die Politik möglich macht, dass Menschen diese Angst genommen wird.
Da ist man sehr schnell bei dem Stichwort Globalisierung. Da ist man sehr schnell bei dem Stichwort Digitalisierung. Ich selbst habe bei jeder Gelegenheit – ich war in der Programmkommission der Bundes-CDU, als wir darüber gesprochen haben, wie die Zukunft der Arbeit aussieht – immer wieder an verschiedenen Stellen gesagt: Vorsicht, wenn aus der Zukunft der Arbeit 80 oder 90 % Digitalisierung wird; dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn viele Menschen sagen: Oh, da komme ich vielleicht gar nicht mehr mit. Wie wird es meinen Kindern in einer digitalisierten, anonymisierten Welt gehen, in der die Automatisierung und der Computer das Leben bestimmen und nicht mehr das Menschliche im Vordergrund steht?
Daran mache ich viele Unsicherheit in dieser Zeit fest. Daran mache ich fest, dass Menschen Sorge haben, die im Internet oder der „Bild“-Zeitung gelesen haben, dass wir demnächst kein Bargeld mehr in der Tasche haben werden. – Ja, diese Meldung hat es gegeben. Es gab Grund dazu, darüber zu diskutieren, wie wir mit digitalisiertem Zahlungsverkehr umgehen. Ich habe mich sehr darüber geärgert, auch über meine eigenen Parteifreunde, die nicht in der Sekunde eingeschritten sind, als daraus bei Oma Lena die Erkenntnis wurde – Sie wissen, bei der hessischen CDU heißt diese Dame immer so –: Die nehmen mir mein Bargeld weg. – Das können Sie in einer ganzen Reihe von Lebensbereichen durchdeklinieren, wo Menschen schlichtweg sagen: Da läuft etwas in einer Eigendynamik ab, was mir große Sorge, ja Angst macht.
Deswegen müssen wir darüber reden. Wir müssen natürlich auch darüber reden, dass es weitere Gründe für Ängste gibt: die Angst vor Terror. Die Menschen glauben, dass wir unsere kulturelle Identität – in Klammern: unsere Heimat – verlieren. Das können wir doch nicht als unbegründete Angst abtun in einer Zeit, in der das Thema der kulturellen Identität und der Heimat so wichtig geworden ist, gerade angesichts einer globalisierten Welt, die so viel Anonymität mit sich bringt.
Lieber Mathias Wagner, ich habe zu Herrn Habeck gesagt – nachdem er bei euch im letzten Jahr beim Neujahrsempfang gesprochen hat –: Ich hätte nie gedacht, dass einmal ein grüner Spitzenpolitiker in einer Rede von 20 Minuten achtmal das Wort Heimat benutzt. – Ja, ich glaube, es ist parteiübergreifend angekommen, dass wir uns darum kümmern müssen, dass sich Menschen auf dieser Welt wohlfühlen wollen
und dass sie das Gefühl haben wollen, dass es nicht nur so etwas wie eine solche Identität und eine menschliche Nähe und Heimat gibt, sondern dass sie natürlich auch noch ein paar andere Dinge erwarten.
Das ist mein letzter Punkt in der kurzen Zeit, die wir heute haben, um darüber zu reden. – Die Menschen erwarten, dass die Regierungen dieses Landes am Ende des Tages einerseits bereit sind, mit ihnen über diese Dinge zu reden, anderseits Lösungen anbieten und am Ende diese Lösungen auch durchsetzen, sodass die Menschen das Gefühl haben, es gibt keinen Kontrollverlust in diesem Land, sondern es gibt klare Regeln, die wir am Ende durchsetzen müssen und von denen die Menschen auch das Gefühl haben müssen, dass sich alle an diese Regeln halten.
Lieber Kollege Wagner, ich stehe Ihrer Bemerkung kritisch gegenüber, die Sie in Bezug auf die Frage des Populismus gemacht haben. Ich glaube, es ist notwendig, dass man immer wieder daran erinnert, dass es diese Regeln gibt. Hierbei ist Herr de Maizière angesprochen worden. Ich glaube, dass es notwendig ist, dass man Menschen sagt: Ja, wir sind der Meinung, dass wir die Regeln, die wir haben, auch durchsetzen müssen.
Da immer gleich mit der Populismuskeule zu kommen, ist mir ein bisschen zu kurz gesprungen. Ich sage aber auch ausdrücklich, dass wir darüber reden müssen, wie man an dieser Stelle intoniert. Nun bin ich bei all denjenigen, über die wir im Hessischen Landtag gesprochen haben. Wie intoniert man solche Vorstellungen und solche Forderungen der Politik?
Nun zu meiner letzten Bemerkung. Über die LINKEN wollte ich heute eigentlich nicht reden. Liebe Frau Wissler, Ihre heutige Rede, gespiegelt mit den Interviews von Sahra Wagenknecht der vergangenen Jahre, führt DIE LINKE ad absurdum. Das führt zu dem Ergebnis, das Herr Rock vorhin angesprochen hat. Sie sind nämlich diejenigen, die die mit Abstand meisten Stimmen an die Rechtspopulisten verloren haben.
ob der Kontrollverlust, der viele Menschen umtreibt, nicht auch in Ihrer Verantwortung liegt. Ich erinnere noch einmal an die Ereignisse, bei denen Sie ganz vorne mit dabei waren, wenn es darum ging, die Regelmechanismen und Gesetze unseres Landes außer Kraft zu setzen und zu hinterfragen.
Ich erinnere an Blockupy. Ich erinnere an G 20. Meine sehr geehrten Damen und Herren, da haben die Menschen auch Sorge gehabt, dass die Regierung nicht mehr in der Lage ist, dieses Land geordnet und in klaren Strukturen zu gestalten und zu regieren. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Boddenberg. – Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, Kollege Schäfer-Gümbel.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bisher verläuft die Debatte in etwa so, wie ich es erwartet habe. Wechselseitig wird erklärt, warum der jeweils andere die Verantwortung dafür trägt, dass es in der Tat bei der Bundestagswahl am vergangenen Sonntag zu einem Rechtsruck kam.
Ich will ganz bewusst anders anfangen. Die deutsche Sozialdemokratie hat am vergangenen Sonntag eine sehr bittere und schwere Niederlage erlebt. Die Sozialdemokratie ist am vergangenen Sonntag von den Bürgerinnen und Bürgern trotz der aus unserer Sicht vernünftigen Arbeit der Großen Koalition schlicht abgewählt worden.
Wir akzeptieren dieses Wahlergebnis, weil wir das Vertrauen, das wir erreichen wollten, um die nächste Bundesregierung anzuführen, nicht nur nicht erreicht haben, sondern auch deutlich weniger Stimmen erreicht haben als das, was wir in die Große Koalition eingebracht haben. Wir sind davon überzeugt, dass es ein Akt staatspolitischer Verantwortung ist, dieses Wahlergebnis nicht nur zu reflektieren, sondern auch anzunehmen, die Konsequenzen zu ziehen und in die Opposition zu gehen.
Ja, es gibt allen Anlass, über das Ergebnis der Rechtsnationalisten zu reden. Zumindest hin und wieder ist in den bisherigen Redebeiträgen herausgeblitzt, um was es dabei geht. Ja, es ist eine Zäsur, dass erstmals seit 1949 eine Partei in den Deutschen Bundestag einzieht, die offen Rechtsextremisten und Neonazis hofiert und in ihren Reihen toleriert. Die Herausforderung, die sich uns jetzt und in den nächsten Jahren stellt, wird sein, ein vernünftiges Verhältnis zu finden: auf der einen Seite die ganz bewusste Strategie der Rechtsnationalisten, rote Linien zu überschreiten und mit Provokation den gesellschaftlichen Diskurs in unserem Land zu bestimmen und zu prägen, auf der anderen
Seite genau die roten Linien, deren Überschreitung wir nicht bereit sind zu akzeptieren. Gleichzeitig dürfen wir nicht zulassen, dass sie diesen gesellschaftlichen Diskurs bestimmen.
Dazu gehört auch, keine Wählerin und keinen Wähler, auch nicht diejenigen, die aus Protest – dazu werde ich gleich noch einige Bemerkungen machen – die AfD gewählt haben, aus ihrer Verantwortung zu entlassen, dass sie durch ihren Protest eine in Teilen rechtsextremistische Partei gewählt haben. Das gesellschaftliche Klima, das dazu beigetragen hat, ist vorhin schon mehrfach angesprochen worden.
Ja, wir erleben in Teilen eine Debatte, die wohlstandschauvinistisch ist. Diese wohlstandschauvinistische Position wird nicht nur von der AfD vorgetragen. Keine der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien ist frei davon, Personen in ihren Reihen zu haben, die mit wohlstandschauvinistischen Positionen blinken. Thilo Sarrazin, Markus Söder, Herr Palmer, Frau Wagenknecht und andere
haben in den vergangenen Jahren immer wieder dazu beigetragen, den gesellschaftlichen Diskurs zu verschieben.
Angesichts der humanitären Krise im Jahr 2015 – ich glaube, dass wir an dieser Stelle auch staatspolitische Verantwortung übernommen haben – haben wir gemeinsam entschieden, dafür zu sorgen, niemanden gegen einen anderen auszuspielen. Das war das Kernversprechen des gemeinsamen Pakets, das wir hier auf den Weg gebracht haben.
In diesem Wahlkampf ist mir oft die Position begegnet: Das mag ja sein. Aber erst angesichts dieser Aufgabe ist auf einmal Geld da für alles Mögliche. – Diesen Hinweis muss man ernst nehmen, wenn Leute darüber reden, dass in diesem Land etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich etwas zu diesem Bundestagswahlkampf sagen. Ja, dieser Bundestagswahlkampf war in weiten Strecken eigenartig. Ich will mich ausdrücklich nicht mit Ihnen über Martin Schulz und über unsere Kampagne unterhalten. Ich will aber den Versuch unternehmen, anzuregen, dass auch andere darüber nachdenken sollten, welchen Anteil am Wahlergebnis sie haben. Die Entpolitisierung dieses Wahlkampfs als bewusste Strategie ist Teil des Problems.
Ich will das offen sagen: Es wird nicht besser, wenn man nach der Wahl mit allen möglichen flotten Sprüchen, man sei der Bestimmer, in der staatsautoritären Art der vergangenen Jahre weitermacht. Das gilt auch für andere, auch für diejenigen, die nach der letzten Bundestagswahl bei 8,4 % ihren Spitzenkandidaten vom Feld gejagt haben