Es schwächt uns, wenn wir das tun. Wir müssen geschlossen auftreten, um deutlich zu machen, was eine freie Demokratie ausmacht. Wir müssen allerdings auch deutlich machen, dass wir es nicht einfach hinnehmen können, wenn sich jemand von unserer Haltung und unseren Werten entfernt, und das direkt vor unserer Haustür, vor der europäischen Haustür. Wir müssen reagieren, und wir müssen deutlich machen, wofür wir stehen. Wir dürfen nichts tun, was dieses Regime stützt. Wir dürfen das nicht tun, auch im Sinne der Bürgerinnen und Bürger, die in der Türkei leben, und ihrer Verwandten in unserem Land.
Darum ist es gut, das Deniz Yücel frei ist. Aber es ist der Anfang von vielen weiteren Anstrengungen – diplomatischen Anstrengungen, politischem Auftreten, gemeinsamem Auftreten der Demokraten – gegen ein Regime, das die Demokratie in der Türkei aus meiner Sicht beendet hat.
Darum ist es gut, dass wir uns hier öffentlich bekannt haben, dass wir hier wieder deutlich gemacht haben, wo wir stehen, weil das unsere stärkste Waffe ist: die Menschen nicht zu vergessen, die Geiseln dieses Regimes sind, Opfer und Mittel zur Abschreckung für eine freie Gesellschaft.
Darum lasst uns hier zusammenstehen, und lasst uns weiter daran arbeiten, dass die Türkei wieder auf den Weg kommt, den wir uns wünschen würden. – Vielen Dank.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Debatte ist eine gute Gelegenheit, eine Gemeinsamkeit zu demonstrieren, die über den Tag hinaus und im Parteienstaat wichtig ist. Auch die Landesregierung empfindet uneingeschränkte Freude über die Freilassung des hessischen Bürgers Deniz
Yücel. Das eint uns hier, und das ist ein Grund zu ungetrübter Freude für ihn, für seine Familie, aber auch für uns.
Die Debatte hat gezeigt: Damit können wir es nicht bewendet sein lassen. So verstehe ich auch den Antrag und die Beiträge. Es ist gesagt worden – Herr Kollege Schalauske hat darauf hingewiesen –, am gleichen Tag, als Deniz Yücel freikam, sind drei Journalisten in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Die Debatte hat sehr stark Bezug genommen auf Journalisten – zu Recht. Aber ich will nicht vergessen: Seit dem Putsch in der Türkei sind Hunderttausende diesem Regime im Sinne des Wortes zum Opfer gefallen. Man hat sie enteignet. Man hat sie ohne jedes Gerichtsverfahren eingesperrt. Es sind viele Tausende von Lehrern. Es sind viele Hochschulprofessoren. Es sind viele Künstler. Aber es sind auch viele sogenannte ganz einfache Bürgerinnen und Bürger, die sich vermeintlich in irgendeiner Art und Weise schuldig gemacht haben und die wie in jeder Diktatur das Opfer des Klimas der Angst sind, der Denunziation, der Feigheit. Es sind die Namenlosen, an die ich heute erinnern will. Es sind Hunderttausende.
Es sind viele, die auch hier in Hessen Verwandte haben, Freunde haben. Das Thema ist nicht nur Türkei. Das Thema betrifft uns ganz unmittelbar. Es sind viele Menschen in diesem Land, die türkischstämmig sind. Das, was sich dort abspielt, spaltet auch hier diese Gemeinschaft. Erdogan hat es geschafft, nicht nur in seinem Land ein Klima der Angst, der Einschüchterung zu schaffen, sondern er transportiert es auch nach Deutschland, auch nach Hessen.
Jeder, die die Szene ein wenig kennt, weiß, es ist heute nahezu unmöglich, mit türkischstämmigen Familien eine offene Diskussion zu führen, ohne dass der Hinweis kommt: Wir bitten Sie, wir möchten uns dazu nicht äußern.
Dieses Klima der Angst ist das Fundament jeglicher Despotie. Ob das nun Autokraten sind, ob es Despoten sind oder Diktatoren – eines sind sie auf gar keinen Fall, die jetzt dort die Macht haben. Sie sind keine Demokraten, wie wir uns das wünschen.
Wer es schafft, dass z. B. Unterstützer einer Schule in Hessen diese Schule nicht mehr unterstützen mit dem Vorwurf, sie unterstütze die falschen Seite, wer es schafft, dass Einrichtungen geschlossen werden müssen, der hat ein gefährliches Werk betrieben.
Ich bin mit vielem, was hier gesagt wurde, ganz einig. Aber wir müssen den Dingen ins Auge sehen. Die Freude über die Freilassung ist für uns alle immer auch Verpflichtung, nicht die zu vergessen, die noch unter diesem Regime leiden.
Meine Damen und Herren, vor knapp einer Woche haben wir den Hessischen Friedenspreis an Carla del Ponte verliehen. Die Grundbotschaft all derer, die dort gesprochen haben, und auch der Grund, warum wir ihr den Friedenspreis verliehen haben, war das unbeugsame Eintreten für die Grundregeln der Menschenrechte und des internationalen Rechts. Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts – darum geht es. Das ist hochaktuell, und es ist eine gute Gelegenheit, dass wir uns daran immer wieder erinnern.
Dann stellt sich die spannende Frage: Was heißt das in der Umsetzung vom Festvortrag zur praktischen Politik? Wie gehen wir um mit denen, die das Recht des Stärkeren und nicht die Stärke des Rechts in den Vordergrund stellen?
Erinnern Sie sich noch an den Spruch, den der Bundesaußenminister oder damals noch Bundeswirtschaftsminister – ich weiß es nicht mehr – sich in der Türkei durch den türkischen Staatspräsidenten anhören musste: „Wer bist du, dass du sprichst mit dem Präsidenten der Türkei?“ Das Revival des Führerkults greift in dieser Welt überall Platz nach dem Motto „starke Männer“, „Einigkeit“, „diese komischen Paragrafen weg“. So sind dann die Antworten bei dem Krieg in Afrin. Da wird plötzlich alles zur Terrorabwehr. Jeder, der nicht mehr in dieses System passt, ist nicht Mitbewerber, ist auch nicht Gegner, sondern der wird zum Feind erklärt. Genau das ist die Melodie, bei der wir keinen Millimeter nachgeben dürfen.
Dann stellt sich die Frage: Wie geht man mit den Potentaten dieser Welt um? – In der UNO sind zwei Drittel der Länder keine Demokratien, wie wir sie uns vorstellen. Trotzdem müssen wir irgendwie mit ihnen umgehen.
Herr Kollege Schalauske, ich bitte Sie, sich noch einmal deutlich zu überlegen, ob das klug war. Meine Antwort ist: Ich halte das nicht für klug. – Ich jedenfalls kenne die einzelnen Umstände, die für die Freilassung des Herrn Yücel notwendig waren, nicht. Ich habe größten Respekt vor den Leistungen derer, die dafür gesorgt haben, dass er freigelassen wurde. Ich habe Vertrauen in unser Land und in diejenigen, die dafür Verantwortung tragen, dass sie sich sehr sorgfältig überlegt haben, was zu tun ist, was man tun kann und was man unterlassen muss.
Das ist kein Thema, das uns allein betrifft. Wenn Sie sich zurzeit einmal in der Welt umschauen, dann sehen Sie, dass es neben Australien noch viele andere Länder gibt, die es immer wieder mit denselben Herausforderungen zu tun haben.
Ich war 1987 zum ersten Mal in Regierungsverantwortung und erbte gleich einen Fall mit zwei Geiseln aus Hessen, die in West-Beirut von der Hisbollah festgesetzt worden waren. Sie wollten einen Mörder freipressen.
Das hat mich immer wieder sehr beschäftigt, nicht nur von Amts wegen. Ich habe viel gelernt. Deshalb weiß ich, dass es da keine einfachen Antworten gibt. Deshalb sollten wir auch und gerade als Mitglieder des hessischen Parlaments Zurückhaltung üben, wenn wir die Arbeit beurteilen, die dort geleistet wird, ob es die des Bundesaußenministers, der Kanzlerin oder von wem auch immer ist.
Mein Vertrauen gilt uneingeschränkt denen, die diese Arbeit geleistet haben. Ich freue mich nicht nur über seine Freiheit, sondern ich habe auch Vertrauen in die kluge und aus meiner Sicht uneingeschränkt gesetzmäßige Haltung der Bundesregierung in dieser Frage.
Ich will eine letzte Bemerkung machen. Herr Kollege Schalauske, Sie haben geschrieben, wir sollten mehr tun. Ich habe den Brief heute gesehen. Sie haben an Frau Kolle
gin Puttrich geschrieben. Sie hat Ihnen geantwortet. Das ist die Brücke zu dem, was Herr Kollege Utter und andere gesagt haben.
Ja, auch Herr Kollege Rock. – Wir wollen zwischen den Menschen und dem System unterscheiden. Wir wollen Freunde der Türkei sein. Die vorhergehende Landesregierung hat insbesondere auf starkes Betreiben des Kollegen Hahn als erste in Deutschland eine Partnerschaft mit einer türkischen Region geschlossen, und zwar mit Bursa.
Das führen wir fort und erfüllen es mit Leben. Deswegen war Kollegin Puttrich zweimal dort, obwohl sie jedes Mal ausgeladen wurde. Sie ist trotzdem hingefahren.
Ganz nebenbei will ich sagen: Der uns allen bekannte damalige Gouverneur sitzt bis heute ein. Ich bekomme regelmäßig keine Antwort von der Türkei. Aber nicht nur er, auch sein Stellvertreter und diejenigen, die uns dort betreut haben, sind uns nicht egal. Ich hänge das nicht jeden Tag an die große Glocke. Aber wir lassen da nicht nach.
Wir sind dorthin gefahren. Wir haben die Vertreter aller Parteien eingeladen, auch die der HDP. Das wissen Sie. Sie konnten nicht kommen, oder wir haben sie nicht erreicht.
In einem sollten wir uns einig sein: Wir tun alles, was wir können. Manches muss man nicht an die große Glocke hängen. Wenn es um die Frage der Beobachtung des Prozesses geht, der jetzt stattfindet, dann muss ich sagen, dass ich das, was Frau Kollegin Puttrich gemacht hat, für richtig halte. Sie hat sich mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt. Darauf legen wir größten Wert.
Es geht da um einen türkischen Staatsbürger. Wenn das Auswärtige Amt sagt: „Wir konzentrieren uns bei der Frage der Prozessbeobachtung und Ähnlichem zunächst einmal auf die deutschen Staatsbürger, die dort sind“, dann vermag ich das nicht zu kritisieren. Das ist kein Weniger an Einlassen für Freiheit auch für ihn, auch wenn er nicht deutscher Staatsbürger ist.
Ich lege schon Wert darauf, dass sich die Hessische Landesregierung bei diesen Fragen im Einklang mit der Bundesregierung und insbesondere mit dem Bundesaußenministerium verhält. Denn ich glaube, für unser Anliegen sowohl in Bursa wie für Deutschland insgesamt ist es klug, dass wir dort keine Wege gehen, die nicht abgestimmt sind. Wir können das alleine nicht besser als die Bundesrepublik Deutschland in Summe beurteilen.
Deshalb bitte ich Sie, überlegen Sie sich noch einmal, ob die diesbezüglichen Überlegungen und Vorwürfe gerechtfertigt sind. Ich halte sie nicht für gerechtfertigt.
Wir werden an drei Dingen festhalten. Wir werden versuchen, unsere Partnerschaft am Leben zu erhalten, so gut uns das diese Despotie dort möglich macht.
Das ist mir wichtig. Zweitens werden wir die Gespräche auch mit denen führen, die die demokratischen Grundüberzeugungen mit Füßen treten.
Wir werden aber nicht zuletzt wegen derjenigen, die hier leben und deren Herz ein gutes Stück in der alten Heimat oder bei ihren Vorfahren ist, die sich der Türkei emotional sehr verbunden fühlen, etwas sagen müssen. Teilweise geht der Riss mitten durch die Familien hinsichtlich der Frage, wie man mit solchen Verhältnissen umgehen soll.
Wir müssen denjenigen klar sagen: Wir können verstehen, dass euch das zerreißt. Aber ihr müsst verstehen: In Deutschland kann es kein Pardon für Diktatur, Unfreiheit und Missachtung der Menschenrechte geben. Das ist es, was in diesem Land die Gesellschaft beieinanderhält.
Wir können Gespräche führen. Wir werden aber nicht klein beigeben. Wir werden das Unrecht beim Namen nennen. Das zeichnet Demokraten aus. – Vielen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der CDU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)
Antrag der Fraktion DIE LINKE betreffend eine Aktuelle Stunde (Bundesregierung erwägt kostenlosen ÖPNV – Hessen muss Vorreiter sein, statt zu bremsen) – Drucks. 19/6093 –
Ich weise darauf hin, dass wir nach dieser Aktuellen Stunde über den Dringlichen Antrag der Fraktion DIE LINKE unter Tagesordnungspunkt 62 abstimmen werden.