Protokoll der Sitzung vom 01.03.2018

Ich weise darauf hin, dass wir nach dieser Aktuellen Stunde über den Dringlichen Antrag der Fraktion DIE LINKE unter Tagesordnungspunkt 62 abstimmen werden.

Das Wort erhält Frau Kollegin Janine Wissler. Bitte sehr.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Im Frankfurter Oberbürgermeisterwahlkampf wurde ich lange für unsere Forderung nach einem Nulltarif für Busse und Bahnen belächelt. Es wurde gesagt, das sei ja völlig unrealistisch.

Das änderte sich vor zwei Wochen, als mehrere Bundesminister den kostenlosen ÖPNV in einem Brief nach Brüssel als eine mögliche Maßnahme zur Luftreinhaltung in den Städten bezeichneten. Da zeigt sich, wie schnell sich der politische Wind drehen kann und aus unrealistischen oder utopischen Vorstellungen eine ernsthaft diskutierte Idee wird. Das zeigt: Was unrealistisch ist und was nicht, ist eben vor allem eine Frage des politischen Willens.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn in Deutschland Fahrverbote drohen, wird man plötzlich erstaunlich kreativ. Schön wäre es aber auch, wenn man nach dem Dieselskandal endlich einmal die Autoindustrie zur Rechenschaft ziehen würde, damit sie für die Folgen ihres Betrugs geradestehen muss und nicht die betrogenen Autofahrer.

(Beifall bei der LINKEN)

Plötzlich wurde die Idee des Nulltarifs ernsthaft diskutiert. Über die Frage hinaus, ob das möglich ist, kam man zu der Frage, wie das möglich wäre. Viele Menschen finden diese Idee als Beitrag zu einer sozial-ökologischen Verkehrswende sinnvoll.

Aber leider tun das nicht alle. Unter den Ersten, die erst einmal kräftig auf die Bremse traten, war der hessische Verkehrsminister Al-Wazir. Statt das als GRÜNER zu begrüßen, es positiv aufzunehmen und Geld zur Umsetzung von der Bundesregierung zu fordern, hat er die ganze Idee sofort als nicht durchdacht und unrealistisch verworfen,

obwohl gar nicht mehr von der Bundesregierung kam als die Möglichkeit, das einmal in Erwägung zu ziehen. Herr Minister, man könnte die Idee doch erst einmal diskutieren, statt sie abzuwürgen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man erinnert sich wehmütig an Zeiten zurück, in denen die GRÜNEN noch Visionen hatten und über den Tag hinausdachten. Als die GRÜNEN Anfang der Achtzigerjahre den Atomausstieg gefordert haben, wurden sie als Spinner abgetan – zu Unrecht. Ich finde, auch heute sollten Sie mehr darüber nachdenken, wie man gute Ideen umsetzen kann, statt umgehend Argumente zu ihrer Verhinderung zu entwickeln.

(Beifall bei der LINKEN)

Mittlerweile ist die Bundesregierung wieder zurückgerudert; denn eigentlich sollte Brüssel ja auch nur davon abgehalten werden, die deutschen Diesel-Pkw zu gefährden und die Menschen auf Ideen zu bringen.

Ein Nulltarif ist aber sinnvoll, wenn auch nicht von heute auf morgen. Man könnte die Preise langsam senken und gleichzeitig das Angebot ausbauen,

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

barrierefrei und mit guten Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten.

Gesundheitsschädliche Schadstoffe in den Städten könnten so reduziert werden, Pendler aus dem Umland müssten nicht mit dem Auto in die Innenstädte fahren – gäbe es einen Nulltarif statt der 90-€-Monatskarte. Das wäre auch ein Beitrag, um die Klimaziele noch einhalten zu können, statt sie immer weiter nach hinten zu verschieben.

Es wäre natürlich auch eine wichtige sozialpolitische Maßnahme, die Menschen mit schmalem Geldbeutel von Mobilitätskosten entlastet und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sollten den ÖPNV als gesellschaftliche Aufgabe betrachten, statt den Nutzern die Ticketkosten aufzubürden. Bereits heute wird in Hessen fast die Hälfte der Kosten für den ÖPNV-Betrieb aus Steuermitteln gedeckt. Die Ticketerlöse machen die andere Hälfte aus. Anderswo ist das deutlich weniger, z. B. in Berlin.

Durch die Erhöhung des Steueranteils an der Finanzierung könnte man die Fahrpreise in einem ersten Schritt schon einmal deutlich senken. Die Spielräume auf Bundesebene sind da; wir haben doch hohe Haushaltsüberschüsse.

Bei den zweistelligen Milliardenbeträgen für die Subventionen von Diesel, Kerosin und Dienstwagen fragt nie jemand, wie das finanziert wird. Meine Damen und Herren, dieses Geld könnte man komplett in den ÖPNV umleiten.

(Beifall bei der LINKEN)

Zudem könnte man Unternehmensabgaben erheben. Die Stadt Wien erhebt beispielsweise eine U-Bahn-Steuer von 2 € pro Arbeitsplatz und Woche, die zweckgebunden in den ÖPNV-Ausbau fließt.

Wir wollen, dass viel mehr Menschen als heute Busse und Bahnen nutzen. Dazu brauchen wir einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur und des Angebots. Das muss mit Preissenkungen einhergehen. Das darf doch nicht gegen

einander ausgespielt werden. Eine ähnliche Debatte hatten wir übrigens bei den Kitas: Jahrelang haben Sie erzählt, die Qualität und der Ausbau des Betreuungsangebots seien wichtiger als die Kostenfreiheit; diese sei völlig unrealistisch. Und auf einmal geht es doch – zumindest ein bisschen.

(Zuruf von der SPD: Na ja!)

Es gibt den Nulltarif bereits in der Praxis: In Estland, in französischen Gemeinden, in Melbourne ist die Straßenbahn kostenlos mit der Begründung, dass die Stadt so Geld spare. Es fahren weniger Pkw durch die Stadt, die Straßen halten länger, Unfälle sind seltener, die Luft ist besser, es muss keine Fahrkartenkontrolleure mehr geben, und die kostspieligen Strafverfahren gegen Schwarzfahrer fallen weg.

Ich komme zum Schluss. Über die Möglichkeiten einer anderen Finanzierung möchten wir mit Fachleuten und Zuständigen diskutieren. Daher schlagen wir eine Anhörung im Landtag vor zu der Frage, wie alternative Finanzierungskonzepte und ein Nulltarif aussehen könnten. Meine Damen und Herren, vor Erkenntnisgewinn muss sich wirklich niemand fürchten. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Wissler. – Das Wort hat Frau Abg. Karin Müller, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Titel der Aktuellen Stunde lautet „Bundesregierung erwägt kostenlosen ÖPNV – Hessen muss Vorreiter sein, statt zu bremsen“. Da kann man erst einmal festhalten: Hessen ist bereits Vorreiter bei guten und innovativen Angeboten des ÖPNV. Das Schülerticket und die Freifahrtberechtigung für die Landesbediensteten sind ein voller Erfolg.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Dann machen Sie da doch weiter!)

Ich bin doch gerade dabei. – Sie ermöglichen einen kostengünstigen und einfachen Zugang zum ÖPNV und leisten damit einen Beitrag, dass die Menschen vom Individualverkehr auf Busse und Bahnen umsteigen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)

Im Falle der Schülerinnen und Schüler und Auszubildenden sollte man einfach dabei bleiben, weil sie das gute Angebot genutzt haben und sehen, wie praktisch es ist.

Damit ist ein großer Beitrag zum Klimaschutz geleistet, ein großer Beitrag zu einem bezahlbaren ÖPNV und damit zur Teilhabe, aber auch ein Beitrag zur Stauvermeidung. Wenn diejenigen, die nicht unbedingt müssen oder wollen, nicht das Auto nutzen, haben die anderen mehr Platz, und die Situation auf den Straßen entspannt sich. Das Angebot kostenloser ÖPNV klingt im ersten Augenblick verlockend. Wer möchte nicht möglichst viel kostenlos haben? Das geht ja jedem von uns so. Aber gerade der konkrete Vorstoß der drei Minister Hendricks, Schmidt und Altmaier war alles andere als durchdacht, sondern nur eine Maßnahme – das haben sie auch gesagt –, um Fahrverbote zu ver

meiden und Strafzahlungen an die EU zu verhindern. Mittlerweile hat sich das auch erledigt, da die vorgeschlagenen Städte gar nicht mitmachen wollen.

Nichtsdestotrotz ist es gut, dass verstärkt über Busse und Bahnen diskutiert und über eine andere Verkehrspolitik geredet wird; auch über kostenlosen ÖPNV.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Diskussion ist ja nicht neu. Sie kommt immer wieder. Bereits in den Sechzigerjahren haben wir darüber diskutiert – also ich noch nicht, aber andere. Auch das Thema Umlagefinanzierung kommt immer wieder. Dann wird immer das Beispiel Frankreich genannt. Aber es gab dafür gute Gründe, weil in Frankreich die Situation anders ist und es dort andere Abgaben gibt als in Deutschland. Auch darüber wird schon unendlich lange diskutiert, und immer wieder gab es gute Gründe, das eine oder andere nicht zu tun.

Deswegen ist der Weg, den wir gehen und den die Landesregierung auch weiterhin umsetzt, nämlich Angebote auf freiwilliger Basis zu machen, genau der richtige. Dass sich etwas in der Verkehrspolitik ändern muss, ist unstrittig. Die Menschen sind da viel weiter als die Politik – natürlich nicht als die hessische, sondern als die Bundespolitik.

In der letzten Hessen-Umfrage gab es eine deutliche Mehrheit – egal welcher Parteienanhängerschaft – für den Ausbau des ÖPNV. Das ist auch der Weg, den wir als Erstes gehen müssen. Da muss der Bund erheblich mehr investieren. Wir erinnern uns alle an die zähen Verhandlungen zu den Regionalisierungsmitteln, zu den mageren GVFG-Mitteln für die Großprojekte. Da bewegt sich jetzt endlich etwas. Sollte die GroKo zustande kommen, wird das Geld ja erhöht. Aber da muss noch viel mehr passieren; das reicht bei Weitem nicht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Prof. Ringat vom RMV antwortet auf die Frage, was für einen kostenlosen ÖPNV benötigt wird:

Eine Regionaltangente Ost, eine Regionaltangente Süd. Eine gemeinsame parteiübergreifende Vision davon, wie wir die Herzkammer der europäischen Wirtschaft zu einer klimaneutralen Region gestalten.

Das ist der Weg. Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Attraktivität des Angebots muss stimmen, und die Preise müssen bezahlbar sein. Wir haben die Preissteigerungen beim RMV jedes Mal kritisiert. Es muss auch einfache Zugänge zum ÖPNV geben. Die Menschen wollen sich nicht mit Tarifen und Verbundgrenzen auseinandersetzen, sondern einfach einsteigen und losfahren. Das ist der Weg, den wir gehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wir wollen als nächsten Schritt – auch aus Klimaschutzgründen – ein Seniorenticket für ganz Hessen ab 9 Uhr morgens. Die Seniorinnen und Senioren wollen im Alter mobil sein. Deswegen sind sie die Gruppe, die am meisten das Auto benutzt. Wenn wir ihnen demnächst ein attraktives Angebot schaffen, könnte das den einen oder anderen zum Umstieg bewegen. Ein langfristiges Ziel muss ein Bürgerticket sein, das für alle bezahlbar ist. Also: Schritt für Schritt das Angebot sowohl bei den Tickets als auch beim Ausbau verbessern – das ist der Weg, den wir gehen

wollen. Ich hoffe, viele Menschen gehen diesen Schritt mit und setzen sich für einen guten, bezahlbaren ÖPNV, gute Rad- und Fußwege und gute sanierte Straßen und Brücken ein.