Protokoll der Sitzung vom 13.09.2018

Ich gebe Ihnen ein Beispiel dafür, Herr Rock. Stellen Sie sich einen Journalisten vor, der über die Demonstrationen für soziale Rechte im Jahre 2017 in Marokko berichtet hat, deswegen festgenommen wurde, in der Haft Folter erleiden musste, es irgendwie nach Deutschland schafft und hier Asyl beantragt. Er würde hier in eine besondere Aufnahmeeinrichtung kommen und würde einem Arbeitsverbot unterliegen. Ein Zugang zu Deutsch- und Integrationskursen würde nicht bestehen. Das sind die Lebensbedingungen in Deutschland für Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern. Sein Asylantrag würde in einem verkürzten Eilverfahren geprüft und voraussichtlich als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen; denn durch die Einstufung als sicheres Herkunftsland gilt die Regelvermutung, dass es in Marokko keine Verfolgung gibt.

Nun hätte dieser Journalist eine Woche Zeit, um jemanden zu finden, der ihm den Ablehnungsbescheid übersetzt und erklärt, und um einen Anwalt zu finden, der innerhalb dieser Woche Widerspruch einlegt. Diese Rechtsmittelfrist von einer Woche ist die kürzeste im ganzen Verwaltungsrecht.

Wenn die Behörde dem Widerspruch nicht stattgibt, hat er eine weitere Woche Zeit, um Klage einzureichen – dies allerdings ohne aufschiebende Wirkung. Er kann trotz der laufenden Klage nach Marokko zurückgeführt werden, von wo aus er dann angeblich das Verfahren weiter betreiben könnte – was meistens nicht geht.

Meine Damen und Herren, seien wir ehrlich: Durch das Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten wird das Asylrecht für Menschen aus diesen Staaten faktisch abgeschafft.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit rechtsstaatlichen Verfahren und mit Einzelfallprüfungen hat das gar nichts zu tun. Das hat auch nichts damit zu tun, dass der eine oder andere kriminell wird. Das ist eine ganz andere Sache. Die „sicheren Herkunftsstaaten“ sind vielmehr ein Konstrukt, das mit dem individuellen Recht auf Asyl unvereinbar ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, es gibt einen konkreten Anlass, sich über dieses Konstrukt Gedanken zu machen. Ende dieses Monats muss die Hessische Landesregierung nämlich Stellung beziehen, wie sie zum Grundrecht auf Asyl steht. In der nächsten Sitzung des Bundesrates wird nämlich erneut über die Einstufung von Marokko, Tunesien, Algerien sowie Georgien als sichere Herkunftsstaaten entschieden. Die Bundesregierung möchte trotz der Berichte über Verfolgung, Folter und Verbrechen gegen die Menschenrechte so etwas wie alternative Fakten schaffen und diese Länder als sicher einstufen. Zur Bedrohungslage können Sie in den Länderberichten von Amnesty International, aber auch in den „Herkunftsländerleitlinien“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge selbst nachlesen, wie die Lage wirklich ist.

Meine Damen und Herren, ein Land wird nicht zum sicheren Herkunftsland, weil man beschließt, es sei sicher. Schon vor eineinhalb Jahren hat die Bundesregierung versucht, Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, und ist damit zum Glück am Bundesrat gescheitert. Daran hatte auch Hessen einen Anteil; denn Sie haben sich damals enthalten. Wir möchten heute darauf drängen, auch dieses Mal nicht zuzustimmen, sondern das Asylrecht zu verteidigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Faulhaber. – Das Wort hat der Abg. Mathias Wagner, Fraktionsvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir sollten bei einem sensiblen Thema darauf achten, wie wir mit Sprache umgehen und welche Aussagen wir hier vom Rednerpult aus treffen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Kollege Rock hat in seiner Rede von der „Zerlegung unseres Rechtsstaates“ gesprochen. Unser Rechtsstaat zerlegt

sich nicht, Herr Kollege Rock, sondern unser Rechtsstaat funktioniert. Und er funktioniert besonders dann, wenn ihn Minister der FDP in Nordrhein-Westfalen durch ein gefühltes Rechtsempfinden ersetzen wollen, Herr Kollege Rock.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wir sollten sensibel mit dem Thema umgehen und darauf achten, welche Aussagen wir treffen. Die Aktuelle Stunde, die die FDP-Fraktion beantragt hat, ist damit überschrieben, dass Hessen „endlich Vorreiter für Vernunft in der Flüchtlingspolitik werden“ müsse. Herr Kollege Rock, ich finde, dieser Titel ist eine unglaubliche Ignoranz dem gegenüber, was in den vergangenen drei Jahren, seit dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung, in unserem Land von vielen Ehrenamtlichen, von vielen Hauptamtlichen und auch von der Regierung geleistet wurde.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Kollege Wagner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rock?

Nein. – Es ist eine unglaubliche Ignoranz, wenn Sie hier den Eindruck erwecken wollen, in der Flüchtlingspolitik herrsche keine Vernunft. Darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, was wir und viele Menschen in diesem Land in diesen drei Jahren geleistet haben?

Wir haben es geschafft, dass keiner der Menschen, die zu uns gekommen sind und Asyl beantragt haben, obdachlos geworden ist – zu keinem Zeitpunkt, selbst bei den größten Zahlen an Flüchtlingen, die wir hatten. Die Lage in anderen Bundesländern hat gezeigt, dass das keine Selbstverständlichkeit war. Das beweist, wie vernünftig wir hier in Hessen mit diesem Thema umgegangen sind.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wir haben mit großem Aufwand die Sprachförderung an unseren Schulen ausgebaut. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben mit riesigem Engagement, anfangs buchstäblich mit Händen und Füßen, die Menschen, die zu uns kamen, willkommen geheißen, haben ihnen die deutsche Sprache beigebracht, weil es eben um eine vernünftige Flüchtlingspolitik in diesem Lande ging und geht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Wir haben uns von Anfang an intensiv und vernünftiger als andere um die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt und in Ausbildung gekümmert: „Wirtschaft integriert“, „Sozialwirtschaft integriert“. In Hessen hat ein Drittel der Flüchtlinge feste Jobs. Da kann man doch nicht davon reden, hier sei keine vernünftige Flüchtlingspolitik gemacht worden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

4,4 % aller Ausbildungsverträge in Hessen wurden mit Flüchtlingen geschlossen, weil wir uns auch bei den jungen Menschen von Anfang an um ihre Integration in Ausbildung und Arbeit gekümmert haben. Bundesweit beträgt der Prozentsatz nur 3 %. Es war maßgeblich die Hessische Landesregierung, die die 3+2-Regelung im Bund auf den Weg gebracht haben, also dass Flüchtlinge eine Ausbildung machen und danach zwei Jahre lang beschäftigt werden können, damit die Arbeitgeber und die Betroffenen Sicherheit haben. Das alles ist doch Ausdruck einer vernünftigen Flüchtlingspolitik, Herr Kollege Rock.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Ein „Spurwechsel“, wie Sie es nennen – über Begriffe kann man immer reden –, ist aber sinnvoll.

(Demonstrativer Beifall bei der FDP)

Es macht nämlich keinen Sinn, dass wir im Ausland nach Fachkräften suchen und die Fachkräfte, die wir vielleicht schon im Land haben und die gut integriert sind, wieder nach Hause schicken. Das macht einfach keinen Sinn. Deshalb sollten wir darüber reden, wie wir beides zusammenbringen.

Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir dürfen in dieser Debatte – darauf hat Kollege Boddenberg völlig zu Recht hingewiesen – die Grenzen zwischen Asylrecht und Einwanderungsrecht nicht vermischen. Da müssen wir aufpassen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zuruf des Abg. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP) – Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

Das Menschenrecht auf Asyl darf sich niemals am Fachkräftebedarf der Bundesrepublik Deutschland orientieren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn (FDP): Hat keiner gesagt!)

Umgekehrt darf das Einwanderungsrecht niemals das Menschenrecht auf Asyl ersetzen. Deshalb ist das richtig, worauf Kollege Boddenberg hingewiesen hat: Wir müssen auch in diesem Bereich mit Sprache sensibel umgehen, kluge Lösungen finden und das weitermachen, was wir in Hessen tun, nämlich eine vernünftige Flüchtlingspolitik zu betreiben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU – Zuruf des Abg. René Rock (FDP))

Herzlichen Dank, Kollege Wagner. – Das Wort hat Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel, Fraktionsvorsitzender der SPD.

Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist das ein Thema, das nicht nur hohe Sensibilität erfordert, sondern das auch erfordert, dass man die Sachen voneinander trennt. Es geht in dieser Debatte um eine Haltung, es geht um eine Sache, aber am Ende auch um eine taktische Aufstellung.

Ich will zunächst zum Inhalt etwas sagen. Es geht in der Tat – da bin ich sehr bei Herrn Wagner – um die Trennung

der beiden Großthemen politische Verfolgung und Grundrecht auf Asyl auf der einen Seite und Arbeitsmigration auf der anderen Seite. Ich will für meine Fraktion und auch für eine qualifizierte Minderheit in meiner Partei sagen, dass die Einführung des Konstrukts der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten durch die Änderung des Art. 16a Grundgesetz Anfang der Neunzigerjahre nach wie vor mit viel Unbehagen begleitet wird.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Mürvet Öztürk (fraktionslos))

Diese Konstruktion ruft ein hohes Unbehagen hervor, weil es immer wieder die Sorge gibt, dass diese Konstruktion auch missbraucht wird. Den Eindruck kann man bei der einen oder anderen Debatte bekommen. Ich will offen gestehen, dass ich zu dieser Minderheit gehöre. Dennoch werbe ich abermals – wie bei den Nachfolgestaaten Jugoslawiens – für die Anwendung des Art. 16a Grundgesetz, bezogen auf die Länder Marokko, Tunesien, Algerien und Georgien. Dies hat etwas mit der Sache zu tun.

Im aktuellen Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wird für den Zeitraum vom 01.01.2018 bis zum 31.08.2018 Folgendes ausgewiesen: Aus Algerien kamen 1.164 Menschen, die nach Art. 16a Grundgesetz null Chance auf Anerkennung haben. Nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz sind neun Personen anerkannt, und subsidiären Schutz bekommen ebenfalls neun Personen. Aus Marokko kamen 993 Menschen. Davon ist einer nach Art. 16a Grundgesetz anerkannt, sowohl im ersten als auch im zweiten Verfahren; das hätte ich vielleicht gleich dazusagen müssen. 26 Personen sind es nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz, und fünf Personen bekommen subsidiären Schutz. Aus Tunesien kamen 478 Menschen, davon sind drei nach Art. 16a Grundgesetz anerkannt, vier nach § 3 Abs. 1 Asylgesetz, und fünf erhalten subsidiären Schutz. Aus Georgien kamen 4.121 Menschen, davon sind zwei nach Art. 16a Grundgesetz anerkannt, sechs nach dem § 3 Abs. 1 Asylgesetz, und acht bekommen den subsidiären Schutz.

Ich will dazusagen, dass, anders als es die Linkspartei hier formuliert, durch das Konstrukt der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten ausdrücklich nicht der individuelle Grundrechtschutz nach Art. 16a Grundgesetz gestrichen wird. Es beschleunigt das Verfahren. Es gibt trotzdem und ausdrücklich eine individuelle Prüfung. Ich will dazusagen, dass insbesondere die Kompetenz der Entscheider im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei dieser Prüfung entscheidend ist. Darauf müssen wir einen besonderen Blick richten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU und der FDP)

Aber mit Blick auf die eindeutigen Zahlen spricht aus meiner Sicht im konkreten Fall vieles dafür – auch mit Blick auf die Akzeptanz in der Gesamtgesellschaft für Fragen des Art. 16a Grundgesetz, die mir persönlich in meiner politischen Biografie immer besonders wichtig waren. Ich glaube, die Zahlen haben das eindrucksvoll unterstrichen. Übrigens: Die Zahlen aus den Jahren 2017, 2016 und 2015 sind keinen Deut anders. Wir wissen beispielsweise, dass, bezogen auf die Maghreb-Staaten, insbesondere die Frage der Verfolgung aus sexuellen Gründen eine sehr große Rolle spielt.

Zudem geht es um Arbeits- und Sozialmigration und um die Bekämpfung von Fluchtursachen. Da ist der Spurwechsel in der Tat eines der wichtigen und entscheidenden The

men. Wir wissen, dass sich die Union damit aus den unterschiedlichsten Gründen besonders schwertut; es gibt die Angst vor Verwerfung. Ich glaube, dass es richtig ist, Menschen, die sich in Ausbildung befinden und die nachgewiesen haben, dass sie sich integrieren, auch eine Chance zu geben, hierzubleiben.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen muss man die Sachen ordentlich voneinander trennen. Fünf Minuten reichen nicht ganz, um darüber angemessen zu diskutieren. In den letzten 20 Sekunden will ich allerdings noch etwas zur taktischen Aufstellung vor dem 28. Oktober sagen: Sosehr ich auch damit hadere, werbe ich dafür, dieses Gesetz, wenn es denn kommt, auf den Weg zu bringen.