Protokoll der Sitzung vom 16.07.2014

36 Staaten waren involviert, 66 Millionen Soldaten, 10 Millionen tote Soldaten gab es, 20 Millionen Verletzte. Auch bei der Zivilbevölkerung gab es 6 Millionen Tote – Auswirkungen, die man sich 1912, 1913, 1914 noch nicht hätte vorstellen können, sowohl in der Art als auch in der nahezu unfassbaren Quantität dieser Zahlen, die doch eine Addition von Einzelschicksalen sind, die Zivilbevölkerung mit einbezogen. Es war eine Entmenschlichung, die nachher zu Abstumpfung und Verrohung in der Auseinandersetzung führte. Dort, wo man sich in den Weihnachtstagen 1914 über die Schützengräben hinaus während des Waffenstillstands noch die Hände gereicht hat, ist dies 1915 und die folgenden Jahre nicht mehr vorstellbar gewesen.

Es wurde Hass gesät, auch für die weiteren Jahrzehnte, und aus dieser Zeit eben nichts gelernt, auch für die Jahrzehnte, die dann Mitte des Jahrhunderts kamen. Das ist erstaunlich, wenn man betrachtet, wie viele Persönlichkeiten auf beiden Seiten – Montgomery, de Gaulle, Patton – beide Kriege erlebt haben und entsprechend eingesetzt, verwundet und gefangen genommen waren.

Ich finde, deswegen kann man es eigentlich nicht hoch genug einschätzen, welche Leistung der Friede in Europa seit nunmehr annähernd 70 Jahren ist. Frau Kollegin Wolff hat schon auf das Juncker-Zitat hingewiesen im Hinblick auf den Gegensatz, der nicht stärker sein könnte: ein Kontinent im Frieden, über die Soldatenfriedhöfe hinweg. Welch ein Segen für alle, die in der heutigen Zeit hier aufwachsen, hier leben dürfen. Welch ein Segen, dass Anfang der Fünfzigerjahre Frauen und Männer den Mut hatten, trotz all dieser Gräuel einen anderen Weg zu gehen, und das so kurz nach dem Albtraum, der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.

Einheit in Vielfalt trägt heute, da Verhandlungen und Kompromisssuche ausschlaggebend für den Umgang der Völker und Kulturen sind und eben nicht die Dominanz des Gegenübers. Es ist ein Zusammenleben, das die Herrschaft des Rechts und nicht die Herrschaft des Stärkeren in den Mittelpunkt stellt und das es uns ermöglicht hat, in diesen multinationalen, supranationalen Zusammenschlüssen letztendlich auch die Teilung Deutschlands und etwas später, 2004, die Teilung Europas zu überwinden.

Es ist ein Kontinent, der wieder von Westen bis Osten reicht, auch wenn wir noch gemeinsam zu definieren haben, wie weit in den Osten wir dies ausdehnen können. Aber aus meiner Sicht ist es eine Situation, gerade wenn man aus diesen fürchterlichen Kriegen lernen will, lernen muss, diese europäischen Errungenschaften nicht hoch genug einschätzen zu können. Wir müssen immer wieder darauf verweisen, dass sie keine Selbstverständlichkeit sind.

Insofern meine ich, dass es mit der heute schon angesprochenen Erinnerungskultur untrennbar verbunden bleiben muss, dass unsere Menschen- und unsere Freiheitsrechte ebenso wie unsere Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, sondern tagtäglich verdient und geschützt werden müssen.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau deswegen ist es auch wichtig, diese Erinnerungskultur immer wieder in die Zukunft zu führen, gemeinsam Anlässe zu finden, um die richtigen Schlussfolgerungen auch für die nachfolgenden Generationen in die Zukunft zu verlängern. Unsere Schulen, die Landeszentralen und auch die Bundeszentrale für politische Bildung, Forschungsinstitute, Archive, Museen und Bibliotheken leisten hier bereits eine vielfältige Arbeit. Das gilt es in meinen Augen auch für die Zukunft zu unterstützen, um die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht nur zu fördern, sondern auch dafür zu sorgen, dass die Erinnerung nicht in der Vergangenheit verhaftet bleibt, sondern vor allem auch eine Ermahnung an die Herausforderungen der Zukunft ist.

Ich würde es sehr begrüßen – ich denke, wir sind mit einzelnen Beispielen gerade hier in Hessen auf einem guten Weg –, wenn dieses Erinnern, diese Erinnerungskultur nicht eine der Nationen, sondern auch eine europäische würde. Jugendliche gemeinsam in Einsätzen, Jugendliche gemeinsam in der Diskussion, etwa so wie in der von uns in Italien unterstützten Friedensschule Monte Sole, sind genau der richtige Nährboden für die supranationalen Organisationen, die uns helfen, solche Zeiten, egal auf welchem Kontinent, möglichst nie wieder zu sehen.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, insofern wäre dann die gemeinsame Erinnerung an diesen kollektiven Albtraum, an seine Ursachen und seine Auswirkungen auch Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses, aus der Erinnerung einen Auftrag für die Zukunft mitzunehmen. Ich glaube, es gibt genug aktuelle Beispiele, wenn wir heutzutage in die Nachrichten schauen: Afghanistan, Syrien, die Auseinandersetzung zwischen Israel und dem Gazastreifen, die Ukraine ist auch schon genannt worden.

Kollegin Beer, kommen Sie bitte zum Ende.

Ich komme zum Schluss. – Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen im Namen von Nationen, von Religionen, immer wieder sprechen die Waffen statt Argumente und Worte. Aber wenn man einmal alles zusammennimmt, dann bleibt doch immer die Menschlichkeit auf der Strecke. Genau deswegen sollten wir mit dem europäischen Ansatz auch sonst auf der Welt dafür sorgen, dass nicht die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, sondern dass wir die Nationen in eine Zukunft führen, und zwar in eine gemeinsame.

(Beifall bei der FDP, der CDU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank. – Als Nächste spricht Frau Kollegin Feldmayer für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich habe einmal meine Erinnerungen bemüht. Eine Übermittlung von Überlieferungen aus dem Ersten Weltkrieg meiner Familie ist weitgehend unterblieben. Von meiner um 1900 geborenen Urgroßmutter – ich hatte das Glück, sie noch kennenzulernen – habe ich viel von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs gehört und was danach passiert ist. Ich hätte von ihr noch erfahren können, welche Erlebnisse sie von dem Ersten Weltkrieg hatte.

(Vizepräsident Frank Lortz übernimmt den Vorsitz.)

Aber durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sind die des Ersten Weltkriegs weitgehend verblasst. Ich glaube, es geht vielen so, dass durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die – mit dem Holocaust, mit der Zerbombung der Städte – so schlimm waren, vieles aus dem Ersten Weltkrieg, was noch an meine Generation hätte weitervermittelt werden können, sehr verblasst ist.

Aus Erzählungen weiß ich, dass mein Großvater im Ersten Weltkrieg im Stellungskrieg gewesen und verwundet oder krank zurückgekommen ist, auch krank an der Seele. Von diesem Stellungskrieg hat er sich nicht mehr erholt. Die ganz junge Generation kennt jetzt keine Zeitzeugen mehr, wie wir sie vermittelt bekommen konnten.

Meine Damen und Herren, deshalb ist es auch gut, dass es solche Erinnerungstage wie heute gibt. Aber das darf nicht alles sein; darauf werde ich gleich noch zurückkommen. Wir dürfen diesen Ersten Weltkrieg nicht vergessen. Wir wollen an die Millionen von Opfern und an die Verantwortung erinnern, die wir jetzt tragen.

Mit dem deutschen Angriff auf das neutrale Belgien wurde aus einem europäischen Konflikt ein Weltkrieg. In Belgien beging die deutsche Armee schreckliche Gräueltaten, auch gegen die Zivilbevölkerung.

Das schlimmste deutsche Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg in Belgien fand wohl in Dinant an der Maas statt. Dort wurden in der letzten Augustwoche 1914 von ungefähr 6.000 Einwohnern 674 von deutschen Soldaten ermordet und Hunderte in ein Lager verschleppt.

Für uns ist es heute unverständlich, dass unsere Vorfahren vor 100 Jahren derart euphorisiert in dem Glauben in diesen Krieg gezogen sind, ihn schnell gewinnen zu können. Es ist für uns unverständlich, mit welcher Kriegsbegeisterung die Menschen in den Krieg gezogen sind, der unverantwortlicherweise vom Kaiserreich und dem Militär geplant und vorangetrieben wurde. Und es ist für uns heutzutage unverständlich, wie die Massenmedien noch in den Chor der Kriegsbegeisterten einstimmen konnten.

Eine einzelne kritische Stimme hat Herr van Ooyen vorhin schon genannt; ich möchte eine andere Stimme nennen, die von Hermann Hesse. Die wurden niedergeschrien. Diese Menschen wurden als Vaterlandsverräter niedergeschrien und konnten in dieser Kriegsstimmung nicht durchdringen.

Der Erste Weltkrieg kostete Millionen Opfer, Soldaten wie Zivilisten. Er war der erste industriell geführte Krieg mit

Einsatz von Giftgas. Der Stellungskrieg forderte Millionen von Toten. Er war ein zynischer, menschenverachtender Auswuchs der Kriegsführung, wo Menschen zu Material wurden.

Die Überlebensdauer der Soldaten in den Gräben von Verdun lag bei höchstens zwei Wochen. Wir können uns kaum vorstellen, welche unvorstellbaren Grauen die Soldaten dort erleben mussten.

Wir blicken auf die beiden Weltkriege zurück und sind dankbar, dass uns Deutschen nach dem Leid, das unsere Nation über die anderen Völker gebracht hat, die Hand gereicht wurde. Das Jahr 1914 ist ein Jahr des Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, aber auch des Zweiten Weltkriegs.

Wie man angemessen mit solchen Jahrestagen umgeht, müssen wir uns fragen. Gedenktage sind dazu da, um das Geschehene zu reflektieren, um aus der Rückschau noch einmal anders zu bewerten. Ich will mich auch nicht in den Historikerstreit einmischen, der um die Frage entbrannt ist, was der Auslöser des Ersten Weltkriegs war. Das sollen einmal die Experten machen.

Was wir als Abgeordnete im Hessischen Landtag zu tun haben, ist, dafür zu sorgen, dass die Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen werden und der europäische Gedanke der Demokratie, der Freiheit und des Friedens verinnerlicht und verbreitet wird.

Ein kluger Mensch sagte einmal: Nur wer weiß, wo er herkommt, weiß auch, wo er hingehen soll. – Der europäische Einigungsprozess hat uns Frieden und eine europäische Wertegemeinschaft gebracht. Aber leider erleben wir nun mit dem aktuellen Ukrainekonflikt – ein Krieg in Europa mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland – wieder einmal einen Rückfall.

Die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, ist doch das Wichtigste. Deshalb ist es auch richtig, dass Europa die Verletzung der territorialen Grenzen der Ukraine nicht akzeptiert, gleichzeitig aber deeskalierend auf die Parteien einwirkt, und dass versucht wird, über die Diplomatie eine Lösung der Krise zu erreichen.

Was wir als Abgeordnete auch tun können, ist, dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wachgehalten wird, damit die jüngere und die nachfolgende Generation erfährt, welches Leid dieser Krieg gebracht hat. Erinnerung und Friedensarbeit vieler Organisationen – Frau Kollegin Beer hat es schon angesprochen –, die Landeszentrale für politische Bildung, die Aufrechterhaltung von Gräbern als Gedenkstätten gehören dazu, dieses Wissen zu vermitteln.

Ich habe, und ich glaube, der jüngeren Generation geht es vielleicht auch so, ein durchaus merkwürdiges Gefühl beim Anblick von Kriegsdenkmälern, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, wo Soldaten als Helden verehrt werden oder wurden und zu lesen ist: Sie starben fürs Vaterland.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Allerdings!)

Diese Kriegsdenkmäler sind sicherlich im historischen Kontext zu sehen. Aber wir brauchen – und das geschieht bereits durch viele Organisationen, wie beispielsweise die Kriegsgräberfürsorge – eine Auseinandersetzung mit diesen historischen Stätten, mit diesen Kriegsdenkmälern, mit den Kriegsgräbern und eine weitere Entwicklung der Erin

nerungskultur, der Erinnerungsarbeit – durchaus nicht nur die Deutschen, sondern durchaus auch mit den anderen europäischen Jugendorganisationen zusammen.

Denn wenn die Erinnerung nur noch staatlich verordnet wird, geht sie verloren. Deshalb ist es auch gut, dass die Regierungskoalition – ich gehe aber davon aus, dass das alle Fraktionen im Hessischen Landtag unterstützen – die Erinnerungskultur fördern und stärken will, um sie an die nächste Generation weiterzuvermitteln.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gedenktage dürfen nicht zu einem starren Ritual werden. Sie sind mehr als eine Erinnerung an die Toten. Sie müssen vom Blick zurück auch in die Gegenwart und Zukunft führen, zu einer permanenten Arbeit an dem fragilen Gebilde Frieden. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber dazu beitragen, dass die Zukunft besser. – Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU, der SPD und dem BÜNDNISS 90/DIE GRÜ- NEN)

Vielen Dank. – Für die Landesregierung spricht Herr Staatsminister Wintermeyer.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Landesregierung begrüßt, dass der Hessische Landtag auf der Grundlage des vorliegenden Antrags hier einen Setzpunkt macht und des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren gedenkt. Genauso sehen wir mit besonderem Interesse dem heutigen Vortrag des Historikers Prof. Münkler entgegen, den wir in der Mittagspause hier im Hessischen Landtag als Gemeinschaftsveranstaltung des Hessischen Landtags und der Hessischen Landesregierung durchführen.

Ich möchte den Kollegen Wolff, Spies, Beer und Feldmayer ausdrücklich für ihre Redebeiträge danken – das kann ich nur teilweise beim Kollegen van Ooyen –, weil ich mich diesen, auch seitens der Landesregierung, vollumfänglich anschließen kann.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir alle zeigen damit auch heute die Verantwortung für das Wachhalten der Erinnerung; wir zeigen eine Kultur des Erinnerns. Wir sind alle angehalten, die politisch-historische Bildungsarbeit – auf die möchte ich auch den Fokus meines Beitrags legen – vor allem für junge Menschen um diese Aspekte, die wir heute erörtert haben, weiterzuentwickeln.

Wir alle – damit meine ich letztlich die Gemeinschaft der freien Völker insgesamt – sind aufgerufen, die Lehren aus dieser ersten Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Wer die zurzeit wohl größte Ausstellung zum Ersten Weltkrieg im Deutschen Historischen Museum in Berlin besucht, bekommt diese politische, militärische und mensch

liche Katastrophe brutal, unerbittlich und anschaulich vor Augen geführt.

Es ist das Gedenken an diese Katastrophe vor 100 Jahren, die uns das deutlich macht, was unsere Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, im Mai dieses Jahres vor jungen Menschen aus ganz Europa, wie ich meine, prägnant auf den Punkt brachte. Ich zitiere:

Der Erste Weltkrieg hat sich ausgebreitet wie ein Flächenbrand. Er riss ein Land nach dem anderen in die Katastrophe. Tiefe Feindschaften, jahrelang gesät, keimten auf und trugen abscheuliche Blüten. Deutschland hatte daran seinen entscheidenden und traurigen Anteil. Europa stürzte in einen fürchterlichen Strudel der Gewalt. Ein rücksichtsloses und menschenverachtendes Ausspielen technischer und militärischer Möglichkeiten begann.

Das stammt aus der Rede unserer Bundeskanzlerin zur Eröffnung der Veranstaltung „Europe 14/14 – History Campus Berlin“ am 7. Mai dieses Jahres.