Protokoll der Sitzung vom 04.02.2015

Meine Damen und Herren, lebendiges Erinnern bedeutet auch, dass wir die authentischen Orte erhalten müssen, denn auch sie sind Zeugen der Zeit. Viele authentische Orte sind vom Verfall bedroht. In Auschwitz-Birkenau, der Mordfabrik der Nazis, sind nur wenige der Baracken für Besucher zugänglich. In allen anderen droht Einsturzgefahr. Die Nationalsozialisten haben vor ihrer Flucht die Krematorien und Gaskammern gesprengt, weil sie sich ihrer Taten bewusst waren und nicht für sie einstehen wollten. Diese Ruinen sind komplett vom Verfall bedroht. Es ist schlimm, dass für den Erhalt der Gedenkstätten die finanzielle Unterstützung lange fehlte. Die Stiftung Auschwitz-Birkenau, die 2009 gegründet wurde, ist immer noch nicht mit den erforderlichen Mitteln ausgestattet, um den Erhalt dieses Ortes dauerhaft zu sichern. Auschwitz verfällt jedes Jahr, jeden Tag ein bisschen mehr. Das ist eine Schande. Hier braucht es größere Anstrengungen, meine Damen und Herren.

(Allgemeiner Beifall)

Wenn die Erinnerung lebendig bleiben soll, wenn wir die Erinnerung weitergeben wollen, müssen alle gesellschaftlichen Kräfte an diesem Ziel mitarbeiten. Ich fand es gut, dass anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz im Fernsehen der beeindruckende Dokumentarfilm „Night will fall“ mit dem Untertitel „Hitchcocks Lehrfilm für die Deutschen“ in der ARD gezeigt wurde. Allerdings könnten die Medien ihren Programmauftrag zu einem so wichtigen Anlass noch besser wahrnehmen, wenn solche Filme nicht um 23:30 Uhr, sondern zu einer Sendezeit gezeigt würden, zu der sie viel mehr Menschen erreichen.

(Allgemeiner Beifall)

Sehr verehrte Damen und Herren, es darf nie wieder passieren, dass Menschen anderen Menschen das antun, was in den Verbrechen von Auschwitz gipfelte. In Auschwitz wurden alle menschlichen Werte zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die demokratischen Kräfte daran gearbeitet, die menschlichen Werte wieder aufzubauen. Vieles hat aber sehr lange, zu lange gedauert, bis es wiedergutgemacht wurde. Manches wurde nie wiedergutgemacht, manches kann überhaupt nicht wiedergutgemacht werden. Norbert Wollheim hat für eine Wiedergutmachung für die Zwangsarbeiter der I.G. Farben des KZ Buna/Monowitz gekämpft. Heute – endlich – findet die Einweihung des Norbert-Wollheim-Platzes in Frankfurt statt. Der Grüneburgplatz wird endlich in Norbert-Wollheim-Platz umbenannt. Das geschieht spät – aber es gut, dass es passiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Meine Damen und Herren, wir dürfen es uns auch nicht so einfach machen, an Gedenktagen unsere gute Gesinnung zu zeigen. Wir dürfen es uns nicht bequem machen mit einer guten und richtigen Gesinnung. Wir müssen dafür sorgen, dass der Zivilisationsbruch von Auschwitz nie wieder geschehen kann. Das liegt in unserer Verantwortung als Politiker, aber es liegt auch an jedem Einzelnen, für Demokratie und eine offene Gesellschaft ohne Ausgrenzung einzutreten, damit so etwas wirklich nie wieder geschehen kann.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP)

Die Verantwortung zur Menschlichkeit ist in unserem Grundgesetz in Art. 1 als Konsequenz aus den nationalsozialistischen Verbrechen formuliert:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Ich komme zum Ende. – Es gibt keinen Schlussstrich in der Geschichte – oder, wie Anja Reschke in ihrem Kommentar in der ARD sagte: „Dieser Teil unserer Geschichte ist in seiner Abartigkeit so einzigartig, dass er gar nicht vergessen werden kann.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Frau Kollegin Feldmayer. – Für die Landesregierung spricht nun Staatsminister Wintermeyer. Bitte schön, Herr Minister, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Landesregierung begrüßt ausdrücklich, dass der Hessische Landtag heute der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz

gedenkt. Der Landtag unterstreicht damit, wie wesentlich die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist, und er verstärkt das Anliegen, das der Ministerpräsident bei der zentralen Gedenkveranstaltung unseres Landes am 27. Januar 2015 in Kassel für die Landesregierung formuliert hatte. Er sagte in Kassel:

Wir gedenken der Opfer des Nationalsozialismus, um davor zu warnen, welches unfassbare Leid Ablehnung und Ausgrenzung auslösen können. Wir wollen gerade auch junge Menschen darauf aufmerksam machen und wachsam machen für das gefährliche Spiel mit Ängsten und Vorurteilen.

Meine Damen und Herren, zu diesem gemeinsamen Interesse haben meine Vorredner bereits Wesentliches vorgetragen. Wesentlich ist, dass heute ausgesprochen wird, worüber in den Jahren der NS-Diktatur verordnete oder gar gleichgültige Sprachlosigkeit herrschte. Sprachlosigkeit, Gleichgültigkeit, das bewusste Wegsehen, das Leugnen haben Auschwitz erst ermöglicht. Auschwitz steht heute als Synonym für millionenfachen Völkermord. Gleichgültigkeit, Wegsehen und Leugnen waren und sind die Wegbereiter der Entmenschlichung. Sie sind der Boden, auf dem ideologisch motivierter Hass, ja Mord aus Gründen der Religion, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, der Weltanschauung, der politischen Haltung oder der sexuellen Orientierung überhaupt erst entstehen kann.

Unser vor wenigen Tagen verstorbener Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dies in seiner viel beachteten und auch heute viel zitierten Rede vom 8. Mai 1985 unmissverständlich ausgedrückt. Ich darf zitieren:

Die Ausführung des Verbrechens lag in der Hand weniger. Vor den Augen der Öffentlichkeit wurde es abgeschirmt. Aber jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Bürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass.

Meine Damen und Herren, der Antisemitismus fand in jener Zeit seinen Niederschlag in der planmäßigen Entrechtung, in einer brutalen Stigmatisierung und in zunehmender Gewalt, und er fand sein schreckliches Fanal in dem historisch beispiellosen Verbrechen des Holocaust, dem geradezu industriell durchgeführten Völkermord durch die Nationalsozialisten, ihre Helfer und auch ihre Helfershelfer.

Meine Damen und Herren, wenn in der heutigen Debatte übereinstimmend und zutreffend festgestellt wird, dass die Erinnerung nicht enden darf, dann geht es darum, auch heute wachsam zu sein und allen Tendenzen entgegenzutreten, die in unserer Gesellschaft in Deutschland, aber auch weltweit den Boden für Antijudaismus, für Antisemitismus, für Fremdenfeindlichkeit und für die Verfolgung sogenannter Andersdenkender bereiten. Das ist unsere ureigenste Verantwortung, die uns aus der deutschen Geschichte erwächst.

Es darf daher keine Sprachlosigkeit herrschen, wenn in unserem Land Ressentiments gegen Gruppen aus Gründen der Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung geschürt werden. Es darf keine Ausgrenzung geben, wenn Menschen nach Deutschland kommen, um hier Schutz vor Verfolgung gerade aus diesen Gründen zu suchen.

(Allgemeiner Beifall)

Für die Hessische Landesregierung gilt aber auch: Wer unter dem Dach unserer Verfassung lebt, muss deren Grundwerte anerkennen und sich in diesem Rahmen bewegen. Unsere geschichtliche Verantwortung muss jedem – ich wiederhole es: jedem – bewusst sein, der hier in Deutschland lebt. Jeder, der hier lebt, sollte – dies ist mein Appell – hierauf besondere Rücksicht nehmen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Über den Blick nach innen hinausgehend entspricht es unserer Verantwortung, neben dem unbedingten Eintreten für das Existenzrecht Israels auch international gegen Rassismus, Fremdenhass und Verfolgung einzutreten. In dieser Überzeugung sieht die Landesregierung die Erinnerung an Auschwitz, den Holocaust und die Verbrechen der Nationalsozialisten als Auftrag und wichtigen Bestandteil der Erinnerungskultur, der Kultur unserer demokratischen Verantwortung heute, hier und überall.

Für uns ist wesentlich, dass der Holocaust sowie seine Ursachen und Folgen nicht nur in abstrakten unfassbaren Zahlen und Schilderungen in Geschichtsbüchern gegenwärtig werden. Das Unfassbare muss auch für die heutige Generation nachvollziehbar werden. Gerade jungen Menschen müssen die damaligen Ereignisse buchstäblich nahegebracht werden. Wer jemals vor den Kinderschuhen im Eingangsbereich von Auschwitz stand, den packt es emotional. Es wird fühlbar, was damals geschah und welch unschuldige, wehrlose Menschen die Vernichtungsmaschinerie unbarmherzig traf.

Meine Damen und Herren, daher kümmert sich die Landesregierung um eine sichtbare und begreifbare Erinnerungskultur. In den hessischen Schulen erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Judenverfolgung und Holocaust im Unterrichtsfach Geschichte, insbesondere innerhalb der Themenschwerpunkte totalitäre Systeme, Nationalsozialismus und Schoah. In der Sekundarstufe II ist der Themenkomplex verbindlich vorgeschrieben. Auch in weiteren Fächern, wie Politik und Wissenschaft, Religion, Ethik oder Deutsch, ist eine Behandlung des Themas üblich. Die Schulen sind außerdem gehalten, aktuelle Gedenktage, wie diesen, im Unterricht zu thematisieren, und nehmen diese Verpflichtung dankenswerterweise eigenverantwortlich wahr.

Wir fördern die Erinnerungskultur erheblich. Mit einem Gesamtbetrag von über 2,1 Millionen € für die Jahre 2011 bis 2015, einer jährlichen Rate von mehr als 430.000 €, beteiligt sich unser Bundesland an der Stiftung AuschwitzBirkenau. Das Land Hessen ist eines der wenigen Bundesländer – auch darauf möchte ich hinweisen –, das die Besuche auch in den Einrichtungen fördert, die außerhalb der eigenen Landesgrenzen liegen.

Herr Minister, ich muss Sie auf die Redezeit der Fraktionen aufmerksam machen.

Danke, Frau Präsidentin. – Hessische Gruppen führen sowohl eintägige Studienfahrten als auch mehrtägige Seminare in verschiedenen Gedenkstätten für die Opfer des Na

tionalsozialismus durch. Es kommt sehr oft zum Austausch mit polnischen Schülerinnen und Schülern. Es finden Zeitzeugengespräche mit Auschwitz-Überlebenden und deren Angehörigen statt. Alleine in den letzten drei Jahren gab es 37 Fahrten mit rund 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach Auschwitz. In vielen hessischen Schulen ist eine solche Studienfahrt bereits wichtiger Bestandteil des Unterrichtsangebots.

Um diese Tendenz zu verstärken und der anhaltend großen Nachfrage nach solchen Angeboten gerecht zu werden, stimmen Landesregierung und Landtag daher in der Aufstockung der dafür bereitgestellten finanziellen Mittel um 100.000 € im Haushalt überein, den wir vorhin beschlossen haben.

Die Arbeit unseres Bundeslandes für die Gedenkstätten und für die Opfer des Nationalsozialismus ist bekanntermaßen bei der Landeszentrale für politische Bildung angesiedelt. Das Land fördert hierüber die vier hessischen Gedenkstätten Guxhagen, Hadamar, Schwalmstadt-Trutzhain und Stadtallendorf. Zudem besteht seitens unserer Landeszentrale eine Zusammenarbeit mit 60 weiteren Gedenkstätten in Hessen, die ehrenamtlich geführt werden.

Ferner stehen die Aufklärung über den Nationalsozialismus und seine Verbrechen im Mittelpunkt zahlreicher wissenschaftlicher Fachtagungen, Seminare, öffentlicher Vorträge und im Zentrum der Zeitzeugengespräche der Landeszentrale. Derzeit wird in unserer Landeszentrale eine Ausstellung unter dem Titel „Es gibt hier keine Kinder. Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald“ gezeigt, die mit Kinderzeichnungen an das Schicksal der Kinder in den Konzentrationslagern erinnert.

Lassen Sie mich zusammenfassen. Zeitzeugen und Gedenkstättenarbeit sind neben der reinen Vermittlung von historisch-politischem Wissen zwei wesentliche Elemente der hessischen Erinnerungskultur.

Ein letztes Zitat:

Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.

Auch das sind Worte von Richard von Weizsäcker. Sie machen aus meiner Sicht eines deutlich: Aus der Erinnerung ergibt sich für uns alle ein Auftrag. Wir können nicht ungeschehen machen, was in der Vergangenheit passiert ist. Aber wir können stetig dafür Sorge tragen, dass nicht nur wir, sondern auch die folgenden Generationen aufmerksam, tolerant und weltoffen dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft gegenüber Hass und Verfolgung nicht sprachlos und vor allem nicht tatenlos bleibt. In dieser Verantwortung werden wir unsere Bemühungen fortsetzen. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Allgemeiner Beifall)

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Es liegen keine weiteren inhaltlichen Wortmeldungen vor. Herr Kollege Rudolph, bitte schön.

Frau Präsidentin, wir bitten darum, über den Antrag, Tagesordnungspunkt 33, jetzt abzustimmen. Das ist der gemeinsame Antrag der Oppositionsfraktionen.

Vielen Dank. – Frau Kollegin Dorn.

Auch wir bitten darum, über unseren Antrag abzustimmen.

Vielen Dank. – Dann handhaben wir das so.

Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 33 auf: Antrag der Fraktionen der SPD, DIE LINKE und der FDP betreffend 70 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee – Gedenken der Opfer bleibt Auftrag für die Zukunft, Drucks. 19/1523. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen von SPD, DIE LINKE und FDP. Wer ist dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Das sind die Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Somit ist dieser Antrag angenommen worden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf: Dringlicher Antrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend 70 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 – Gedenken an die Opfer bleibt Auftrag für die Zukunft, Drucks. 19/1535. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Fraktionen von CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, FDP. Wer stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Das sind die Fraktionen von SPD und DIE LINKE. Somit ist dieser Antrag angenommen worden. Ich danke Ihnen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf.

(Zurufe von der SPD)

Einen Moment bitte. Herr Kollege Rudolph.