Hessen hat im NSU-Komplex eine zentrale Bedeutung. Wir wissen längst, dass das NSU-Desaster an Hessen nicht einfach vorbeigegangen ist. Hessen hatte entgegen allen Darstellungen der Regierung und der Regierungsfraktionen ein hochgradig militantes und terroraffines Nazimilieu mit diversen Bezügen zum NSU, mit Bezügen nach Dortmund und Jena, zu Wohlleben, zu Böhnhardt, zu Mundlos und zum Thüringer Heimatschutz.
Beim NSU-Mord in Kassel ereignete sich eine der bizarrsten Geschichten überhaupt. Ein sogenannter Verfassungsschützer am Tatort verhielt sich in jeder Beziehung unfassbar. Die hessische Polizei glaubt Andreas T. bis heute nicht. Auch im Bundestag, im NSU-Prozess und hier im Landtag glaubt niemand Andreas T. Ich frage: Wieso ist er trotzdem noch im Landesdienst? Die Antwort lautet: weil Herr Bouffier das so wollte.
Noch schlimmer: Die hessische Polizei hat dem Verfassungsschutz 2006 eine „Unterstützungshaltung für Tatverdächtige“ vorgeworfen. Das muss man sich einmal vorstellen. Nach den jüngsten Veröffentlichungen der Abhörprotokolle ist festzustellen: Der hessische Verfassungsschutz hat, statt zur Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat beizutragen, lieber seinen Kollegen rausgehauen, ihm Tipps gegeben und Beistand geleistet – alles unter der schützenden Hand des damaligen Innenministers. Dieser Korpsgeist ist mehr als befremdlich, er ist zum Fürchten.
In den Abhörprotokollen wird mehrfach Wissen offenbart, das man gegenüber der Polizei unbedingt zurückhalten wollte.
An keiner Stelle sagt Andreas T.: „Ich war nicht dabei, ich habe nichts gesehen, ich habe nichts damit zu tun.“ An keiner Stelle sagt er das in den Abhörprotokollen, die ich gelesen habe. Aber es wird gesagt: „Hoffentlich nehmen die dich nicht zu dem Tatort mit, sonst bist du tot.“ Oder: „Wenn man weiß, dass so etwas passiert: nicht vorbeifahren.“ Was soll diese Aussage von Verfassungsschützern heißen?
Der Gipfel aber ist: Statt gegen Andreas T. dienstrechtlich vorzugehen, weil solche Leute eben nicht in den öffentlichen Dienst, geschweige denn in den Geheimdienst gehören, sicherte Volker Bouffier dem Andreas T. mitten in den Mordermittlungen persönlich weiterhin sein volles Gehalt zu. Herr Boddenberg, Herr Wagner, das sind keine offenen Fragen, sondern Fakten, die auf dem Tisch liegen.
Der Bundestag hat Volker Bouffier einstimmig, also auch mit den Stimmen der CDU, eine „massive Beeinträchtigung der Ermittlungen“ vorgeworfen. Das ist für alle auf Seite 836 des Abschlussberichtes nachlesbar. Die BundesGRÜNEN, Herr Wagner, gingen in ihren Vorwürfen sogar noch weiter, nachzulesen auf Seite 1.035 des Abschlussberichts. Aber immer dann, wenn es darum geht, Aufklärung zu leisten und die Verstrickungen hier in Hessen aufzuklären, wird auf laufende Verfahren verwiesen, weshalb man
nichts sagen könne, und auf eine „Gefährdung“ – das war die heute angewandte Methode – des Prozesses in München. Das hat mit den von mir aufgeführten Fakten aber überhaupt nichts zu tun. Herr Boddenberg, der Münchner Prozess wird durch eine Aufklärung hier in Hessen in keiner Weise gefährdet.
Herr Ministerpräsident, deshalb sind Sie jetzt am Zug. Sie wollten weder diesen Untersuchungsausschuss noch eine Aufklärung der Geschehnisse. Aber nun findet doch eine Aufklärung statt. Je tiefer man schaut, desto mehr neue Belege finden sich für die zentrale Rolle des damaligen Innenministers bei den massiven Beeinträchtigungen der Ermittlungen. Die Sachverständigen Laabs und Funke haben es auf den Punkt gebracht: Andreas T. lügt bis heute, der Verfassungsschutz lügt bis heute, und Sie, Herr Bouffier, stehen wieder einmal an der Spitze eines unsäglichen Skandals.
Sie haben es jetzt selbst in der Hand, unter Vorlage aller Akten – ungeschwärzt – endlich das Gegenteil zu beweisen. Herr Wagner, Herr Boddenberg, ich sage Ihnen zum Schluss: Ich bin es satt, hier Anträge zu beschließen, die nichts anderes als allgemeine Plattitüden beinhalten, während Ihr Verhalten im Untersuchungsausschuss dem widerspricht, was Sie hier an Anträgen vorlegen. Deshalb werden wir Ihrem Antrag zustimmen.
Vielen Dank, Kollege Schaus. – Das Wort hat der Abg. Florian Rentsch, Fraktionsvorsitzender der FDP.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten haben sich, als wir über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses diskutiert haben, bei der Abstimmung enthalten. Ich darf für meine Fraktion sagen, dass wir diese Entscheidung nicht noch einmal so treffen würden, sondern dass wir heute der Einsetzung zustimmen würden.
Wir haben damals gedacht, es gebe keine neuen Erkenntnisse. Ich muss mittlerweile sagen, dass man vor dem Hintergrund dessen, was wir aufgrund der bisherigen Arbeit des Untersuchungsausschuss wissen, bei der Vernehmung der Zeugen erfahren haben, aber auch angesichts des Tatbestandes, der gerade Gegenstand der Debatte war, nämlich was in den Abhörprotokollen steht, definitiv darüber nachdenken muss, wie dieses hessische Thema in Hessen aufgeklärt werden kann.
Ich sage in Richtung aller Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause: Wir alle haben ein gemeinsames Interesse daran, dass an diesem Land und an seinen Institutionen kein Makel hängen bleibt,
wenn es darum geht, dass ein hessischer Mitbürger von einem Nazitrio in unserem Land, in unserer Mitte umgebracht wurde und – dieser Sachverhalt ist ja unstreitig – ein Verfassungsschützer des Landes Hessen zur gleichen Zeit am Tatort anwesend war. Dass bei einem solchen Sachverhalt Fragen gestellt werden, ist völlig legitim. Ein solcher Sachverhalt muss sogar Fragen aufwerfen.
Der Verfassungsschutz ist dazu da, die Verfassung zu schützen. Er ist dazu da, unseren Rechtsstaat zu bewahren. Ich gebe zu – ich war in einer der Sitzungen des Untersuchungsausschusses anwesend und habe das gelesen, was wir an Unterlagen vorliegen haben –, dass ich mittlerweile große Zweifel daran habe, ob der Verfassungsschutz dieser Aufgabe wirklich gerecht wird.
Ich kann in dieser Frage kein Urteil fällen, aber dieses hessische Thema muss aufgeklärt werden. Die Debatte, die wir hier über Sachverhalte führen, die wir nur vom Hörensagen kennen, die irgendwo von irgendjemandem geschrieben wurden, von irgendeiner Zeitung verbreitet worden sind, der anscheinend Abhörprotokolle vorgelegen haben, muss endlich beendet werden. Diese Debatte wird aber nur dann – auch im Sinne der Opfer – ein Ende finden, wenn wir lückenlos wissen, was wann wo von wem gesagt worden ist. Deshalb darf an dieser Stelle nicht mehr mit Aussagegenehmigungsverweigerungen, geschwärzten Protokollen oder Ähnlichem gearbeitet werden.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat geschrieben, dass Aussagegenehmigungen nicht erteilt werden könnten, „ohne dass dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet würden“. Das Einzige, was dem Wohl des Landes Hessen Nachteile bereitet, ist, wenn es weiterhin keine Aussagegenehmigungen oder geschwärzte Protokolle gibt.
Das ist das Einzige, was unserem Land Nachteile bringt, weil doch völlig klar ist, dass der Makel, der mittlerweile an uns allen und an den staatlichen Institutionen haftet, die von der ersten Gewalt kontrolliert werden müssen, nur dann letztendlich komplett abgewaschen werden kann, wenn wirklich alles offengelegt wird.
Ich will heute keine Urteile fällen. Ich will nicht über die Frage diskutieren, wer an was Schuld hat. Aber ich will, auch als Bürger dieses Landes, meine Zweifel an unseren staatlichen Institutionen vollständig ausräumen. Ich möchte das für die Opfern tun, ich möchte das aber auch als Bürger dieses Landes tun, weil ich bisher an die staatlichen Institutionen geglaubt habe und es für einen Skandal halten würde, wenn wir nicht gemeinsam alles dafür täten, dass auch der letzte Zweifel in dieser Frage beseitigt wird.
Ich glaube, daran haben wir alle ein Interesse. Das kann zum Schluss aber nur bedeuten, dass alles, aber auch wirklich alles auf den Tisch kommt – ohne geschwärzte Proto
kolle, ohne Aussagegenehmigungsverweigerungen –, damit dieser Makel endlich von diesem Landtag getilgt wird.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind uns einig, dass die beispiellose Mordserie des NSU, die uns alle beschämen muss, einen angemessenen Umgang erfordert. Das ist unsere gemeinsame moralische Pflicht; das sind wir den Opfern schuldig. Wir wollen den Angehörigen der Opfer helfen und nicht ihr Vertrauen in unseren Rechtsstaat erneut erschüttern, indem wir etwa zuließen, dass ihre Verluste politisch instrumentalisiert würden. Dieser Ausschuss widmet sich einer beispiellosen Verbrechensserie. Er ist damit – das ist schon angedeutet worden – kein Untersuchungsausschuss wie jeder andere. Für die Hessische Landesregierung möchte ich klarstellen, dass diese alles in ihrer Macht Stehende tut, den Untersuchungsausschuss in seiner Arbeit zu unterstützen.
Verdeutlichen möchte ich dies anhand einiger Zahlen und Fakten. Am 22. Mai des vergangenen Jahres wurde der Untersuchungsausschuss 19/2 des Hessischen Landtags eingesetzt. Am 1. Juli legte die SPD den ersten Beweisantrag vor, welcher am 16. Juli beschlossen wurde. Aufgrund der Rückmeldungen der im Beweisbeschluss benannten Behörden und Institutionen wurden in der Folge Koordinierungsgespräche geführt, um den Beweisgegenstand einzugrenzen.
Diese Gespräche wurden am 20. November 2014 abgeschlossen. Infolge dieser Gespräche wurde am 17. Dezember des vergangenen Jahres ein Ergänzungsbeschluss gefasst, welcher auf den Erkenntnissen und Ergebnissen der Koordinierungsgespräche basierte und den ursprünglichen Beweisbeschluss erstmals so konkret fasste, dass eine Aktensichtung möglich wurde. Dieser Beschluss ging dem Hessischen Ministerium des Inneren und für Sport nach Weihnachten, also im neuen Jahr, am Freitag, dem 2. Januar, vorab per Mail und am 6. Januar dieses Jahres schriftlich zu. Seitdem wird mit Hochdruck an der Sichtung und Zusammenstellung der Akten gearbeitet, um sie dem Untersuchungsausschuss so schnell wie möglich zur Verfügung zu stellen.
(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Geheimniskrämerei heißt das! – Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)
Sowohl bei der Polizei als auch bei dem LfV wurden zur Bewältigung der Arbeit Sonderorganisationen eingerichtet. Um die Arbeit des Untersuchungsausschusses angesichts der abzusehenden längeren Aktensichtung schnellstmöglich zu unterstützen, erfolgte bereits am 27. Januar eine Übersendung jener Akten, welche das hessische Innenmi
Wie kann man sich nun eine solche Aktensichtung vorstellen? Jedes Blatt, jeder einzelne Bestandteil einer Akte wird inhaltlich auf das Beweisthema überprüft. Der Beweisbeschluss umfasst einen Zeitraum von 22 Jahren, von 1992 bis 2014, und eine Vielzahl von einzelnen Kriterien wie etwa die Namen der Personen mit Hessenbezug, die sogenannte 129-er Liste. Wir sprechen hier allein im Landesamt für Verfassungsschutz von rund 1.800 Aktenordnern mit rund 78.500 Aktenstücken und allein im Hessischen Landeskriminalamt von 500 Aktenordnern.
Die relevanten Aktenstücke werden dann erfasst, zusammengestellt, kopiert und paginiert. Sind in den Aktenstücken Erkenntnisse außerhessischer Sicherheitsbehörden enthalten, muss bei diesen Behörden schriftlich um Freigabe ersucht und diese abgewartet werden. Die Regeln des Rechtsstaats erfordern zudem, dass wir bei den Vervielfältigungen von sogenannten Verschlusssachen Besonderheiten zu berücksichtigen haben. Ein sehr großer Teil der Akten des LfV sind als VS-Vertraulich und -Geheim eingestuft. Aufgrund dessen muss für jede Kopie, die davon gefertigt wird, eine Kopiergenehmigung erteilt werden, die jeweils mit den Unterschriften des Vervielfältigers, des Dezernatsleiters sowie des VS-Registrators versehen werden muss. Dies alles wollte ich zur Erläuterung und Klarstellung voranstellen.
Wir werden in den nächsten Tagen, also nach bereits rund acht Wochen, Akten der Polizei, ca. 160 Aktenordner, sowie als besonders relevant erscheinende Akten der Rechtsabteilung des Innenministeriums übersenden.
Wir wurden am letzten Donnerstag um beschleunigte Übersendung der Audiodateien der Telefonüberwachung von Herrn T. gebeten. Diese Dateien sind Gegenstand eines Beweisantrags vor dem OLG München. Auch hier sind die Regeln des Rechtsstaats zu berücksichtigen; denn wir müssen alles tun, um einen der wichtigsten Prozesse in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht zu gefährden. Wir haben uns sofort sowohl mit dem Generalbundesanwalt als auch mit dem OLG München in Verbindung gesetzt und auf eine schnelle Freigabe gedrungen. Daraufhin haben wir vorgestern die Freigabe erhalten und können nunmehr die Audiodateien mit den Akten der Polizei übersenden.
Angesichts dieser Fakten kann kein Zweifel bestehen, dass der Untersuchungsausschuss seitens der Landesregierung in seiner Arbeit bestmöglich unterstützt wird. Darüber hinaus ist eine überparteiliche Expertenkommission eingesetzt worden, die völlig unabhängig arbeitet und die Ergebnisse des Bundestags-Untersuchungsausschusses für die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden bewertet.