Protokoll der Sitzung vom 28.04.2015

Sehr geehrte Damen und Herren, in einer Zeit, die uns vor große Herausforderungen stellt, in einer Zeit, in der sich vieles bewegt, in einer Zeit, in der wir spüren, wie wichtig es ist, dass sich die Europäer auf ihre gemeinsamen Werte besinnen und sich für sie einsetzen, in einer Zeit, in der wir den Blick für das Wesentliche brauchen, sollten wir Europa sowohl im Kopf als auch im Herzen tragen. Deshalb: gemeinsam für Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. – Besten Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Ich halte fest, dass den Oppositionsfraktionen jeweils zwei Minuten Redezeit zugewachsen sind. Sie haben jeweils 22 Minuten Redezeit.

Für die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei hat Frau Kollegin Waschke das Wort. Bitte sehr.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Europa ist eine Gemeinschaft, die sich hinter gleichen Idealen und Werten versammelt und gemeinsame Ziele verfolgt. Die Europäische Union fußt auf sechs Grundpfeilern: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. Das sind die Werte, die uns alle zu glühenden Europäern machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

In seinem Vorwort zu unserer Broschüre zur Europawoche schrieb Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: „Wir dürfen als Europäer ruhig etwas stolzer und selbstbewusster in unsere Zukunft schauen“. In den vergangenen Monaten schäme ich mich als Europäerin und auch als Christin aber manchmal für genau dieses Europa. Es reicht nämlich nicht, für die Achtung der Menschenwürde und für die Freiheit einzutreten. Man muss auch danach handeln. Das gilt insbesondere für eine humanitäre Flüchtlingspolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der LINKEN und der FDP)

Die Abschottungspolitik Europas wird immer deutlicher. Das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“, überwiegend von Italien finanziert, wurde im Herbst letzten Jahres eingestellt. Rom hat sich vergeblich um eine stärkere Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten bemüht. Deutschland lehnte das Projekt und damit auch jegliche Unterstützung ab. Eine große Rettungsaktion im Mittelmeer würde nur noch mehr Flüchtlinge nach Europa locken, argumentierte Innenminister Thomas de Maizière damals. Er hat „Mare Nostrum“ später sogar als „Beihilfe für das Schlepperunwesen“ bezeichnet. Wie zynisch ist das denn?

Im Jahre 2014 wurden nach italienischen Angaben 166.000 Menschenleben gerettet, unter anderem deshalb, weil man im Rahmen von „Mare Nostrum“ nahe der afrikanischen

Küste agiert hat. Das italienische Programm wurde durch „Triton“ ersetzt, eine Operation der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX, und mit 2,9 Millionen € ausgestattet. FRONTEX operiert aber nur innerhalb der 30-Seemeilen-Zone vor den europäischen Außengrenzen. Für alle war absehbar, dass es zu weiteren menschlichen Katastrophen im Mittelmeer kommen würde. Allein in der vergangenen Woche sind bei zwei Vorfällen mehr als 1.000 Menschen im Mittelmeer umgekommen, darunter viele Kinder. Insgesamt starben seit Beginn dieses Jahres 1.750 Menschen im Mittelmeer.

Die EU reagiert darauf – neben aller verbalen Betroffenheit – wieder einmal mit einem Gipfeltreffen. Das Ergebnis dieses Gipfeltreffens ist nach meiner Einschätzung vollkommen unzureichend. Die Seenotrettung wurde zwar aufgestockt, es wird zusätzliche Schiffe und mehr Geld geben – die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini spricht von einem „Wendepunkt“; ich frage mich, welchen Wendepunkt sie meint –, die 28 Mitgliedstaaten der EU bringen in Zukunft aber nur dieselbe Summe für die Seenotrettung auf, die Italien bis zum Herbst letzten Jahres alleine geschultert hat, nämlich 9 Millionen €. Außerdem operiert FRONTEX nach wie vor nur innerhalb der 30-SeemeilenZone vor der europäischen Außengrenze.

Es ist auf den Gipfeltreffen nicht gelungen, sich auf eine gemeinsame Quote zu einigen, die die Flüchtlinge fair auf alle Mitgliedstaaten verteilt. 70 % der Flüchtlinge werden allein auf Deutschland, Schweden, Österreich, Italien und Ungarn verteilt.

Ich möchte in Richtung der Union dann doch noch einmal sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir retten keine Menschenleben, indem wir einseitig und allein gegen die Schlepperbanden vorgehen. Wer vor Kriegen flieht, der findet immer einen Weg. Deswegen ist es so wichtig, den Flüchtlingen einen legalen Weg nach Europa zu eröffnen, z. B. durch humanitäre Visa.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das wird das Schlepperbandenunwesen nicht vollständig verhindern, aber es bietet den verzweifelten Menschen eine Alternative.

Aber auch auf einen legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa konnte man sich auf dem EU-Gipfel nicht einigen. Entscheidend wird sich die Flüchtlingssituation übrigens nur dann verbessern, wenn es auch gelingt, Libyen zu stabilisieren; denn von dort kommen die meisten Flüchtlinge. Gaddafi wurde beseitigt, aber Stabilisierungsmaßnahmen fehlen diesem Land bis heute. Das ist eine große Aufgabe für Europa, und sie muss dringend erledigt werden.

„Dieser Kontinent muss um seiner Werte und seines Seelenheils willen das irgend Mögliche tun, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Und er hat alles, was dazu nötig ist“, schreibt der „Spiegel“ in dieser Woche. Ich finde, dieses Zitat trifft es ganz genau.

Ministerin Puttrich hat in ihrer Rede einen pragmatischen Umgang mit einem Einwanderungsgesetz gefordert, weil wir aufgrund der demografischen Entwicklung qualifizierte Zuwanderung brauchen. Das fordert die SPD schon seit Jahren. Wir begrüßen diesen Sinneswandel der Union, wenn es denn einer ist, ausdrücklich, denn die Union war es, die sich jahrelang gegen ein Einwanderungsgesetz gestellt hat – und das auf der Bundesebene noch immer tut.

(Beifall bei der SPD)

Griechenland und seine Zukunft sind angesprochen worden. 60 % der jungen Griechen unter 25 Jahre sind ohne Arbeit oder Ausbildung – hoch motivierte junge Menschen, die diese Krise nicht verschuldet haben.

Ein großer Teil der Griechen hat keinen Zugang mehr zum Gesundheitssystem und bekommt nur noch in Notfällen Hilfe. Die Kindersterblichkeit in griechischen Krankenhäusern ist zwischen 2008 und 2010 um 43 % gestiegen. Bisher wurden die Folgen der Krise fast ausschließlich von den kleinen Leuten in Griechenland getragen. Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut. Soziale Absicherungen wurden massiv gekürzt. Der Mindestlohn wurde um 22 % reduziert, und ausgerechnet die unteren Einkommensgruppen wurden steuerlich stärker belastet.

Unterdessen wurde kein einziges der strukturellen Probleme in Griechenland gelöst. Steuerflucht, Steuerhinterziehung und Korruption müssen aber ernsthaft bekämpft werden. Die neue griechische Regierung unter Tsipras muss dieses Problem dringend angehen, und sie braucht dabei, trotz aller Verwerfungen in den vergangenen Wochen, die Unterstützung Europas.

Frau Ministerin Puttrich, Sie haben gesagt, Deutschland habe als „kranker Mann Europas“ auch Reformen hinter sich gebracht. Aber wenn man sich die Situation der Menschen in Griechenland vergegenwärtigt – ich habe es getan –, kann man den Vergleich zwischen den Reformen, die in Griechenland durchgeführt worden sind, und den Reformen, die Deutschland gemacht hat, nicht ganz so angemessen finden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Michael Boddenberg (CDU): Die Arbeitnehmer sehen das anders!)

Nach Untersuchungen der Hans-Böckler-Stiftung konzentrieren sich die Reformen im Euroraum zu einseitig auf das Sparen und viel zu wenig auf Wachstum und Beschäftigung.

(Beifall bei der SPD)

Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und das Wachstum ist schwach, nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Der Bevölkerung in den Krisenländern, insbesondere in Griechenland, seien durch die „strikte und spürbare Sparpolitik“ bereits große Opfer abverlangt worden, sagt Sebastian Dullien, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Im Vergleich zu 2007 sind die Investitionen im EU-Raum um 73 Milliarden € eingebrochen. Es sei nun an der Zeit, mehr Maßnahmen für Wachstum und Beschäftigung zu ergreifen, erklärt Dullien.

Insofern begrüßen wir das 315-Milliarden-€-Investitionsprogramm der Europäischen Kommission ausdrücklich, zumal wir als SPD nicht ganz unbeteiligt daran waren.

(Beifall bei der SPD)

Durch Garantien der EU sollen öffentliche und private Investitionen ausgelöst werden, insbesondere für Projekte, die mit einem höheren Risiko behaftet sind oder keinen unmittelbaren Profit abwerfen, wie z. B. der Breitbandausbau. Nach der Sommerpause soll dieser Investitionsfonds arbeitsfähig sein. Davon wird Deutschland – auch Hessen – profitieren, denn das wird uns volle Auftragsbücher be

scheren. Unser Know-how, unsere Logistik und unsere Fahrzeugtechnik werden in Europa gebraucht.

Auf das Freihandelsabkommen mit den USA – TTIP – ist die Frau Ministerin bereits eingegangen; aber auch ich möchte das machen, weil in unserer Bevölkerung sehr breit und sehr kontrovers darüber diskutiert wird. Der aktuelle Verhandlungsstand ist ernüchternd. Bernd Lange, sozialdemokratisches Mitglied im EU-Parlament und TTIP-Berichterstatter, sagt:

Die wichtigen Bereiche Standards, Verfahren zur Standardsetzung und Produktzulassung in vielen Sektoren scheinen aufgrund großer Unterschiede zwischen der EU und den USA nur schwer in das Abkommen integrierbar. Zudem haben sich die USUnterhändler in vielen Punkten überhaupt nicht bewegt bzw. völlig unzureichende Angebote vorgelegt (u. a. Zollabbau, Marktzugang, … Regulierung von Finanzdienstleistungen).

Es gibt eine Reihe von Standards, die nur dazu dienen, europäische Produkte vom USA-Markt fernzuhalten. Es ist z. B. überhaupt nicht nachvollziehbar, warum ein VW-Bus oder ein Daimler Sprinter in den USA als landwirtschaftliche Fahrzeuge eingestuft und mit 25 % anstatt mit 2,5 % Zoll belegt werden.

Das TTIP-Freihandelsabkommen bietet die Chance, solche Hemmnisse abzubauen, wenn die USA es denn wollen. TTIP bietet auch die Chance, die Arbeitnehmerrechte in den USA zu stärken und die ILO-Kernarbeitsnormen hinsichtlich der Anerkennung von Gewerkschaften und die Schaffung von Betriebsräten im Abkommen zu verankern.

Aber es gibt verschiedene Bereiche, die nach der Auffassung des Berichterstatters Bernd Lange mit der EU nicht verhandelbar sind. Marktöffnung und erweiterter Wettbewerb dürften nicht zulasten der Verbrauchersicherheit und der Arbeitsbedingungen gehen oder zur Herabsetzung oder Aufweichung europäischer Standards führen.

(Beifall bei der SPD)

Beispielsweise muss ausgeschlossen sein, dass hormonbehandeltes, genetisch verändertes Fleisch oder Fleisch von geklonten Tieren eingeführt wird. Die Daseinsvorsorge, d. h. Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, muss nach wie vor in kommunaler Hand bleiben. Das Europäische Parlament, das am Ende die Verhandlungsergebnisse des TTIP-Freihandelsabkommens unterstützen oder ablehnen wird, hat klar signalisiert: Handel ja, aber nicht um jeden Preis.

Eine rote Linie wird für die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament bei den sogenannten Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren – ISDS – gezogen, den sogenannten Schiedsgerichten. Dieses Verfahren würde es Investoren ermöglichen, jenseits von normalen juristischen Verfahren vor internationalen Schiedsgerichten direkt auf Entschädigung für entgangene Gewinne zu klagen. Die europäischen Staaten wie auch die USA haben aber funktionierende Justizsysteme. Schiedsgerichte sind daher nach meiner Auffassung nicht nötig und stellen eine wichtige Säule unserer Demokratie infrage.

(Beifall bei der SPD)

Allein die Androhung einer Klage kann Gesetzgebungsverfahren gefährden oder verwässern. Im Entwurf des Berichts für das Europäische Parlament lese ich denn auch,

dass ein ISDS-Mechanismus zum Schutz von Investoren aufgrund der hoch entwickelten Rechtssysteme in den USA und in Europa als nicht notwendig angesehen wird. Deswegen sollte man auf strittige Punkte wie die Schiedsgerichte in den Verhandlungen einfach verzichten.

Frau Ministerin Puttrich, nach den Informationen, die ich habe, lehnt übrigens der Mittelstand diese Schiedsgerichte als Ganzes mit der Begründung ab, dass eine solche Einrichtung nur Großunternehmen begünstigen würde.

(Beifall bei der SPD)

Der Hessische Landtag wird im November zu dem Thema TTIP-Freihandelsabkommen eine Anhörung durchführen, und ich bin sehr gespannt, was uns die Fachleute dazu zu sagen haben.

Aus dem unsäglichen Leid, das im 20. Jahrhundert über die Völker Europas hereingebrochen ist, entstand eine Idee: nie wieder Krieg. Das ist die Kernkompetenz der Europäischen Union. So ergriff der französische Außenminister Schuman 1950 die Initiative für ein Friedensprojekt – die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl –, in dem er die Länder zunächst wirtschaftlich und politisch einte.

Gerade heute, mit Blick auf die vielen Konfliktherde in der Welt, müssen wir uns wieder in Erinnerung rufen, worin die Stärke Europas liegt und welche vielfältigen Möglichkeiten Europa uns eröffnet. Die europäische Einigung hat uns allen Frieden gebracht. Das müssen wir uns wieder klarmachen, auch weil sich das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai zum 70. Mal jährt. Als Trägerin des Friedensnobelpreises muss die Europäische Union immer wieder Verantwortung in der Welt übernehmen, und das macht sie, auch wenn man manchmal den Eindruck haben kann, dass die Welt immer kriegerischer wird und die Herausforderungen ständig steigen.

Der Verlust der Arbeit sowie sinkende Einkommen in vielen Mitgliedstaaten, aber auch der Verzicht auf Souveränität zugunsten der EU haben zu einem massiven Rückgang des Vertrauens der Menschen in die EU geführt, insbesondere in den Krisenländern. In Spanien sank der Anteil derer, die Vertrauen in die EU haben, laut Eurobarometer von 66 % im Jahr 2008 auf nur noch 16 % im Jahr 2014.

Parallel zur wachsenden Skepsis hat der Stimmenanteil eurokritischer Parteien bei nationalen Wahlen und im Europaparlament zugenommen. Das sind die Herausforderungen, denen wir alle uns bei unseren Veranstaltungen während der Europawoche, aber auch bei jedem Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern, das wir führen, stellen müssen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)