Protokoll der Sitzung vom 22.07.2015

Sehr verehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Den Regierungsfraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liegen die behinderten Menschen in Hessen besonders am Herzen. Dies ist an vielfältigen Initiativen aus den vergangenen Jahren erkennbar. Unser Anliegen ist es, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft zu fördern und voranzubringen. Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und barrierefreier Wohnraum sind dafür ebenso entscheidend wie gleiche Chancen am Arbeitsmarkt und eine gute medizinische und pflegerische Versorgung.

Besonders herausgreifen möchte ich dabei den hessischen Aktionsplan für behinderte Menschen. In diesem sind sehr

vielfältige Initiativen zusammengefasst und Handlungsanweisungen beschrieben. Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher wird der hessische Aktionsplan konsequent umgesetzt.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Menschen mit Behinderungen muss eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft genauso möglich sein wie Menschen ohne Behinderungen. Wir müssen weiterhin gemeinsam daran arbeiten, Barrieren für Menschen mit Behinderungen abzubauen, die Chancen zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft weiter zu verbessern sowie Maßnahmen gegen Diskriminierungen zu ergreifen.

Hierbei ist die Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsmarkt von enormer Bedeutung. Mit dem hessischen Perspektivprogramm zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen schwerbehinderter Menschen ist ein sehr wichtiger Impuls gesetzt worden. In Zusammenarbeit mit dem Landeswohlfahrtsverband Hessen werden bis zum Ende des Jahres 2016 insgesamt 30 Millionen € aus der Ausgleichsabgabe eingesetzt, um schwerbehinderten Menschen auf dem Arbeitsmarkt neue Chancen zu eröffnen. Dies bedeutet eine direkte Investition im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, um Menschen mit Behinderungen einen möglichst gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Gerade arbeitslose Menschen mit Schwerbehinderungen sind bei der Wiederaufnahme einer Beschäftigung gegenüber anderen Personengruppen weiterhin unterrepräsentiert. Gleichzeitig zeigt diese Gruppe ein über dem Durchschnitt liegendes Qualifikationsniveau. Letzte Woche wurde der Inklusionsbeirat für Menschen mit Behinderungen bei der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen konstituiert. Es wird sich mit der Vorbereitung einer Novellierung des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes mit dem notwendigen Expertenwissen unter breiter Beteiligung Interessierter und Betroffener beschäftigt.

Schon in der Koalitionsvereinbarung von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist formuliert worden – ich zitiere –:

Wir werden das Behinderten-Gleichstellungsgesetz überarbeiten und an die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention anpassen. Hierzu werden wir in einen Dialog mit den Kommunen eintreten.

Genau so, wie in der Koalitionsvereinbarung beschrieben, werden wir handeln.

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wie Sie wissen – Herr Roth, ich spreche Sie direkt an –, befinden sich zurzeit einige Gesetze auf der Bundesebene in Überarbeitung oder Neuformulierung. Dazu gehören das geplante Bundesteilhabegesetz, das sich in der internen Beratung befindet, und die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes. Deshalb ist es aus meiner Sicht richtig und klug, wenn wir die gesetzlichen Regelungen auf der Bundesebene abwarten und anschließend in die Novellierung unseres Hessischen Behinderten-Gleichstellungsgesetzes eintreten.

Menschen mit Behinderungen brauchen gleiche Definitionen auf allen Ebenen. Deshalb sollten wir abwarten, welche gesetzlichen Regelungen der Bund beschließt, und

dann gemeinsam in einem zweiten Schritt die Novellierung des Hessischen Behinderten-Gleichstellungsgesetzes vornehmen.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Lassen Sie mich an dieser Stelle anmerken: Ihre Initiative ist nicht wirklich neu, sondern ähnelt der Initiative, die Sie schon im Jahre 2013 gestartet haben. Der wesentliche Punkt Ihrer neuen Gesetzesinitiative ist die Einsetzung eines Landesbeirates. Dieser Punkt ist nach der Einsetzung des Inklusionsbeirates in der letzten Woche schon erledigt. Zwei parallele Gremien mit ähnlichen Aufgabenstellungen führen nämlich eher zur Konfusion als zur Inklusion und zur Gleichstellung behinderter Menschen mit nicht behinderten Menschen.

Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sowie deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind nach wie vor die wichtigsten Ziele der hessischen Behindertenpolitik. Da der Inklusionsbeirat die Aufgabe hat, die Weiterentwicklung des Hessischen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu betreiben, ist der richtige Schritt aus unserer Sicht schon vollzogen. Deshalb – haben Sie Verständnis dafür – werden wir aus den von mir vorgetragenen Gründen Ihre Gesetzesinitiative zum jetzigen Zeitpunkt nicht unterstützen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Reul. – Als nächste Rednerin spricht nun Frau Kollegin Schott von der Fraktion DIE LINKE. Bitte schön, Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Zum letzten Satz des Vorredners kann ich nur sagen: wie schade.

Jeder zehnte Mensch in Hessen hat eine anerkannte Behinderung. Das ist Grund genug, die Politik für Menschen mit Behinderungen immer wieder zu überprüfen und festzustellen, ob sie noch dem Stand der Dinge entspricht. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein weiterer guter Grund, die Politik für Menschen mit Behinderungen gründlich zu bearbeiten und in einigen Bereichen zu revidieren.

Es ist ungefähr drei Monate her, dass der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen seine abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht aus Deutschland gemacht hat. Der Ausschuss der Vereinten Nationen sah auch vier positive Aspekte; die ließen sich in einem Satz zusammenfassen. Die Beschreibung der Hauptproblembereiche und die Empfehlungen machten allerdings allein in der Kurzform zehn Seiten aus.

Es gibt eine Reihe von Empfehlungen, die die Länder- und Kommunalparlamente betreffen. Es ist erforderlich, dass die Landesregierung diese Empfehlungen Punkt für Punkt durchgeht und feststellt, an welchen Stellen es Handlungsbedarf gibt. Ich will nur einige wenige Stellen nennen, an denen dieser Handlungsbedarf deutlich wird.

Der UN-Ausschuss fordert, dass alle einschlägigen Rechtsvorschriften von einem unabhängigen Expertengremium

geprüft und dem Übereinkommen entsprechend harmonisiert werden sollen. Der Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung muss als umfassendes Recht entwickelt werden. Dazu sollen Daten zur Rechtsprechung gesammelt werden.

Es wird gefordert, Programme für Frauen und Mädchen mit Behinderungen aufzulegen, insbesondere für Migrantinnen und weibliche Flüchtlinge. Länder und Kommunen sollen gezielte, wirksame Maßnahmen verabschieden, um die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen in allen Sektoren und Landesbereichen einschließlich des Privatsektors zu gewährleisten.

Es wird dem Bund und den Ländern aufgegeben, Zwangsunterbringungen durch Rechtsänderungen zu verbieten sowie einen inklusiven, mit dem Übereinkommen in Einklang stehenden Arbeitsmarkt zu schaffen.

Die SPD hat in ihrem Gesetzentwurf einige Forderungen des Ausschusses aufgegriffen. Der Behindertenbegriff wurde neu gefasst, wobei ich empfehlen würde, die Definition von Behinderung an das Sozialgesetzbuch IX anzulehnen, damit der Rechtsbegriff langfristig nicht unterschiedlich ausgelegt werden kann und einheitlich ist.

Es ist wichtig, die selbstbestimmte Wahl des Wohnsitzes oder der Wohnform – eine Selbstverständlichkeit – im Gesetz zu verankern.

Die Einrichtung von Behindertenbeiräten und -beauftragten auf der kommunalen Ebene sollte verpflichtend sein, wobei wir hier sehr schnell an die Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit der Gemeinden, Städte und Landkreise stoßen. Diejenigen, die bisher noch keine solche Institution haben, haben nicht – ich unterstelle das einmal – aus Bosheit so gehandelt, sondern weil auch die Einrichtung ehrenamtlicher Strukturen Geld kostet. Viel größer ist aber das Problem, die Maßnahmen zu finanzieren, die dieser Beirat dann vorschlägt. Ihn nur zu installieren, ohne auf seine Vorschläge einzugehen, ist nicht sinnvoll.

Wir sehen vor Ort durchaus die Tendenz, die Bauordnung recht großzügig auszulegen. Da wird schnell ein Stadtteilzentrum als Gewerbegebäude eingestuft, oder es wird mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand argumentiert, um einen behindertengerechten Ausbau nicht veranlassen zu müssen. Es wäre eine sachgerechte Ausstattung der Kommunen erforderlich, damit diese den Anforderungen der Barrierefreiheit nachkommen können; denn ohne Geld wird es kaum möglich sein, hier die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.

Schließlich soll die Bildung eines Landesbeirats ins Gesetz aufgenommen werden, statt dass man die Beteiligung von Verbänden nur durch die Landesbeauftragte gewährleistet. Die Mitgliedschaft in dem Gremium soll auf Spitzenverbände, Wirtschaft, Gewerkschaften und die Liga ausgeweitet werden. Ich werde mir sehr genau anhören, was die Vertreter der Verbände und Selbsthilfeorganisationen in der Ausschusssitzung dazu sagen; denn deren Position wird an dieser Stelle ausschlaggebend sein.

In dem Gesetzentwurf der SPD fehlen viele der von den Vereinten Nationen angesprochenen Themen. Insbesondere fehlt in dem ganzen Entwurf für ein Gleichstellungsgesetz die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsprozess. Ich gebe zu, das ist der größte und schwierigste Brocken, der zu bewältigen ist. Aber daran müssen wir uns irgendwann trauen.

Es ist doch so, dass die Stellung einer Person und auch ihr soziales Leben im Wesentlichen durch ihren Beruf bestimmt werden. Deshalb ist die Teilhabe am Arbeitsleben das wichtigste Mittel zur Gleichstellung von behinderten Menschen. Das ist eigentlich völlig klar, dürfte aber die größte Herausforderung darstellen. Die Berufstätigkeit schafft nicht nur eine wirtschaftliche Grundlage für die betreffende Person, sondern sie eröffnet auch den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, bietet Persönlichkeitsentwicklung sowie ein Handlungsfeld und ein soziales Umfeld, in dem sie agieren kann. Sie ist eine wichtige Gelegenheit, um Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen sowie Teilhabe zu erleben und zu erfahren. Deshalb ist sie so wichtig. Sie ist viel mehr als nur das Generieren eines Erwerbseinkommens.

Es wäre notwendig, zu überprüfen, inwiefern die Beschäftigungssicherung bei behinderten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verbessert werden kann. Wie können Arbeitslose mit einer Behinderung wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden?

Aber auch: Wie kann man diejenigen unterstützen, die aufgrund ihrer Behinderung vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind? Wie können sie eine sinnvolle Beschäftigung mit einer Zuverdienstmöglichkeit finden? Schließlich geht auch viel Know-how für die Gesellschaft verloren, wenn wir ihnen da keine Angebote machen.

Am Ende ist zu überprüfen, wie die Teilhabe der nicht oder eingeschränkt erwerbsfähigen Behinderten in Form der sozial organisierten Arbeit in Werkstätten oder in Integrationsfirmen abgesichert werden kann.

Somit wäre unseres Erachtens eine grundlegende Überarbeitung des Gesetzes und des Aktionsplans dringend erforderlich. Trotzdem ist der erste Schritt, den die SPD in diese Richtung gegangen ist, richtig und wichtig. Deshalb noch einmal mein Satz vom Anfang: Ich finde es sehr bedauerlich, dass die Regierungsfraktionen das hier so abbügeln. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Danke, Frau Kollegin Schott. – Als nächster Redner spricht nun Herr Kollege Bocklet von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Reul hat gerade inhaltlich wichtige Punkte vorausgeschickt. Die SPD-Fraktion schlägt in ihrem Gesetzentwurf einige gute Dinge vor. Die gilt es unbedingt zu überprüfen. Das betrifft Frauen mit Behinderungen und die Frage: Wie wollen wir damit umgehen, dass es schon einen Inklusionsbeirat gibt? Brauchen wir zusätzlich einen Landesbeirat für Behinderte?

Sie schlagen noch andere Anpassungen an die UN-Behindertenrechtskonvention vor. All das sind Schritte in die richtige Richtung. Wir glauben nur, dass das Timing etwas kontraproduktiv ist; denn auf der Bundesebene werden gerade einige Sachen geregelt. Kollege Rudolph, der frei von Kenntnis davon ist, dass auf der Bundesebene gerade gemeinsam mit den Ländern dafür gesorgt wird, dass es – –

(Günter Rudolph (SPD): Ihre Arroganz steht in keinem Verhältnis zu Ihrer Sachkompetenz!)

Herr Kollege Rudolph, das können wir gern mithilfe der Frage überprüfen, ob Sie wissen, dass es gerade eine Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern gibt und dass man auf der Länderseite davon abgesehen hat, derzeit bestehende Länderregelungen vorzuziehen. Wussten Sie das, Herr Kollege Rudolph?

(Günter Rudolph (SPD): Wollen wir unsere Parlamentsarbeit einstellen? Was hat das damit zu tun? Sie sind froh, etwas zu finden, um das abzulehnen!)

Dann wissen wir, was Kompetenzen betrifft, worüber wir reden. Bei Ihnen hat sie offensichtlich gefehlt.

(Zurufe von der SPD)

Deswegen brauchen wir nicht zu sagen, der eine oder andere will sich drücken. Es geht darum, dass auf der Bundesebene gesagt wurde: Bitte, lasst uns das in Gesprächen mit den Ländern einheitlich regeln. – In dieser Situation ist es doch nicht sinnvoll, ein eigenes Ländergesetz zu machen. Das hat also etwas mit dem Timing zu tun.

Herr Kollege Rudolph, es ist natürlich etwas strapazierend, schnell einen Gesetzentwurf einzubringen, ohne sich darüber zu informieren, wie gerade auf der Bundesebene darüber diskutiert wird. Das Hessische Behinderten-Gleichstellungsgesetz wird im direkten Zusammenhang mit der Erarbeitung des geplanten Bundesteilhabegesetzes stehen. Wenn man all dies weiß, erkennt man, das ist ein schlechtes Timing.

Beim Herrn Kollegen Roth sehe ich wenigstens Verständnis dafür, dass wir in vielen inhaltlichen Punkten, etwa der Anpassung an das Wording – dass wir keine unterschiedliche Begriffe verwenden –, nicht weit auseinander sind, dass wir Frauen mit Behinderungen einen höheren Stellenwert einräumen wollen und dass wir verschiedene Punkte, die die SPD-Fraktion in diesem Gesetzentwurf angesprochen hat, in den Ausschüssen fachlich prüfen und eine Anhörung dazu durchführen wollen.

Aber das Timing ist unglücklich. Wenn wir uns jetzt dazu entschließen würden, ein hessisches Gesetz zu machen, und sechs Monate später gäbe es auf der Bundesebene eine Fülle von neuen Regelungen, müssten wir wieder ein Gesetzgebungsverfahren einleiten, um alles neu aufzurollen.

Schon allein dafür ist das Timing schlecht. Aber wir warten die Beratungen ab und lassen uns überraschen. In dieser Stunde ist das für unseren Geschmack einfach zu früh und zu übereilt; denn die Bundesebene hat uns aufgefordert, und wir haben uns mit den anderen Ländern darauf geeinigt, eben diesen Prozess der Evaluation abzuwarten.