Herr Bouffier, Sie haben vollkommen zu Recht gesagt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit dürfen keinen Platz in Hessen haben. Ich füge hinzu: auch keinen Sitzplatz im Hessischen Landtag.
Herr Ministerpräsident, wenn Sie daran appellieren, sorgsam miteinander umzugehen, dann sollten Sie das vielleicht in Ihren eigenen Reihen als Erstes durchsetzen.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, am Samstag finden in Frankfurt die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag der deutschen Einheit statt. Sie stehen unter dem Motto „Grenzen überwinden“. Ich finde, gerade in den letzten Tagen hat dieses Motto einen zynischen Beigeschmack bekommen, wenn Grenzkontrollen eingeführt und Stacheldrahtzäune errichtet wurden und das Mittelmeer zum Massengrab geworden ist – all das 25 Jahre nach dem Tag der Deutschen Einheit, bei der eine Zaunöffnung an der ungarischen Grenze, wie wir alle wissen, eine zentrale Rolle gespielt hat.
Herr Präsident, letzter Satz: In diesen Tagen zeigt sich in drastischer Art und Weise, dass es auch 2015 noch viele Grenzen, Zäune und Mauern gibt, die eingerissen werden müssen. Deshalb: Wer das Motto „Grenzen überwinden“ ernst nimmt, der muss auch für eine Abkehr der Abschottungs- und Abschiebepraxis und für eine humanitäre Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 eintreten. – Vielen Dank.
Vielen Dank. – Als Nächster hat Herr Abg. Rentsch das Wort für die Fraktion der Freien Demokraten. Bitte sehr.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das ist sicherlich eine der wichtigsten Debatten, die wir im Hessischen Landtag in den letzten Jahren geführt haben –
angesichts einer der größten Herausforderungen, die wir in diesem Land zu bewältigen haben. Ich glaube, dass wir uns jedenfalls an diesem Punkt einig sind: dass die extreme Hilfsbereitschaft von vielen privaten Organisationen und staatlichen Organisationen, die wir in Deutschland, in Hessen, erleben, schon eine herausragende Leistung ist und dass angesichts dieser Situation – Frau Kollegin Wissler, ich weiß nicht, in welchem Land Sie leben –, auf die wir treffen, definitiv gesagt werden muss, an einem humanitären Weltbild fehlt es den Deutschen in dieser Krise mit Sicherheit nicht.
Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen in Flüchtlingsunterkünften, in Gesprächen mit Institutionen vor Ort waren und sich dort erkundigt haben. Jeder von uns – meine Fraktion und Kollegen von mir aus allen Parteien – stellt doch fest, dass es unglaublich ist, mit welcher Hilfsbereitschaft viele in Deutschland agieren.
Auf der anderen Seite ist es so, dass ein mediales Bild gezeichnet wird, bei dem ich mich manchmal frage: Ist das das Land, in dem ich lebe? Gibt es in Deutschland nur Extremisten auf der einen Seite und Gutmenschen auf der anderen Seite? Oder gibt es nicht auch viele Menschen dazwischen, die sich über die Frage Sorgen machen, ob das, was hier passiert und was wir hier unternehmen müssen, wirklich von uns zu stemmen ist?
Meine Damen und Herren, Integration ist doch kein selbst laufendes Thema, bei dem man einfach darauf wartet, dass etwas passiert; wir wissen in Hessen doch, wovon wir reden. Integration ist doch ein Kraftakt, den wir stemmen müssen, der mit Sprache, mit Kultur, mit sehr viel Anstrengung zu tun hat. Ich will einmal daran erinnern, dass wir in Hessen mit einer Integrationspolitik des Multikulti aufgeräumt haben, dass wir diese beendet haben – die GRÜNEN haben im Hessischen Landtag das Thema „verpflichtende Deutschkurse“ noch Anfang dieses Jahrzehnts als Zwangsgermanisierung bezeichnet – und dass vieles, was wir dort erreicht haben, ein Kraftakt war, der notwendig war, um wirklich Integration zu schaffen und nicht Parallelgesellschaften zu fördern.
Deshalb: Wenn sich Menschen über die Masse Sorgen machen, über die wir reden, glaube ich, kann man nicht einfach wegschauen – nach dem Motto: Das interessiert uns nicht. Im Gegenteil, diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Wir müssen alles daransetzen, dass wir diesen Integrationsprozess wirklich schaffen und nicht als Gesellschaft und als Staat an diesem scheitern. Das ist die größte Herausforderung.
Herr Ministerpräsident, ich will nicht verhehlen, dass das, was Sie gesagt haben, an vielen Stellen auch meine Zustimmung findet. Aber ich werde in meiner Rede noch darauf eingehen: An einigen Stellen hätte ich mir konkrete Aussagen gewünscht;
denn an vielen Stellen reicht es nicht, im Hessischen Landtag mit allgemeinen Appellen zu agieren. Wir haben konkrete Probleme auf dem Tisch liegen. Vor denen können wir uns nicht wegducken. Aber bevor ich zu Hessen kom
me, will ich schon sagen, dass das, was hier passiert ist, was der Bund, die Bundeskanzlerin hier teilweise angerichtet haben – ich will das wirklich als Chaos bezeichnen –, schwer zu ertragen ist: dass wir eine Bundeskanzlerin einer Bundesregierung haben – auf die Rolle des Innenministers in dieser Frage komme ich noch –, die ein Zeichen gesetzt hat nach dem Motto: „Wir öffnen alles, was möglich ist, kommt her“, dass jetzt die Grenzen geschlossen werden und ich mich frage, mit welchem Signal diese Handlungen im Ausland und in den Krisenländern registriert werden.
Ich habe die Kommentare aus den deutschen Zeitungen dabei, die sich mit der Rolle der Bundeskanzlerin in dieser Frage beschäftigen.
Ja, Herr Kollege Boddenberg, ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich verstehe die Bundeskanzlerin an dieser Stelle nicht, und ich weiß auch, dass viele in ihrer eigenen Partei ihre Parteichefin nicht verstehen.
Das Chaos, das sie hier angerichtet hat, ist mit Sicherheit nicht das, was wir brauchen, wenn es darum geht, eine Integrationspolitik zu machen, die an dieser Stelle wirklich der Vernunft folgt und nicht rein chaotischen Zuständen.
Man gewinnt den Eindruck, dass die wichtigste Anforderung, die in dieser Krise besteht – nämlich die Einhaltung klarer Regeln –, anscheinend zu groß für diese Bundesregierung war. Gerade der Zickzackkurs der Kanzlerin ist aus meiner Sicht der folgenschwerste Fehler gewesen, den Frau Merkel in ihrer Amtszeit bisher begangen hat.
Wenn man sich anschaut, welche Warnhinweise es gab – um einmal zum Innenminister zu kommen –, dass nämlich die Bundespolizei schon im Frühjahr vor bis zu 1 Million Flüchtlingen gewarnt hat, darf man schon die Frage stellen – nicht nur als Parlamentarier, sondern auch als Bürger in diesem Land –, was der Bundesinnenminister eigentlich seit dem Frühjahr dieses Jahres in dieser Frage unternommen hat. Diese Frage darf man doch stellen.
Ich glaube, man kann das schon als eklatantes Organisationsversagen bezeichnen, was hier passiert ist, Herr Boddenberg. Aus meiner Sicht war es fahrlässig, dass sich die Regierungen von Bund und Ländern in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet haben, dass der Bund seiner Koordinationsaufgabe, die er in dieser Frage nicht nur gesetzlich hat, nicht nachgekommen ist und die Länder in vielen Fragen im Stich gelassen hat. Wir können von Glück reden, dass das Land Bayern, aber auch das Land Hessen – der Kollege Wagner hat es gesagt – an vielen Stellen mehr gemacht hat als andere.
Auch NRW. – Viele Länder haben sozusagen mehr gemacht, als ihnen zugewiesen war. Aber jetzt müssen wir darauf aufpassen, dass es in Deutschland dringend wieder
eine Solidarität auch unter den Ländern gibt. – Dass der Flüchtlingsgipfel nun Monate zu spät kommt, ist doch unbestritten. Diese Ordnung des Verfahrens zwischen Bund und Ländern hätte es vor Monaten geben müssen, nicht aber jetzt mit dem Rücken an der Wand, meine Damen und Herren. Das ist das Chaos, das diese Bundesregierung zu verantworten hat.
Wenn wir Europa sehen – Frau Kollegin Wissler, da bin ich diametral anderer Auffassung –, wissen wir, dass die Dublin-III-Verordnung keine Verordnung ist, die man einfach über Bord werfen kann, auch wenn die Bundeskanzlerin dies mit ihren Aussagen quasi faktisch getan hat. Das zeigt, an welche Grenzen wir kommen.
Vielleicht ist es Ihnen nicht aufgefallen: Ich habe gerade eine dpa-Meldung gesehen, der zufolge sich Europa auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen einigt. Die Kollegen aus Großbritannien nehmen handverlesene Syrer auf, die sie anscheinend noch nach Qualifikation screenen. – Das ist doch nicht die Solidarität, die wir uns in Europa erhoffen dürfen, in einer so wichtigen, schicksalsentscheidenden Frage für Europa.
(Beifall bei der FDP, bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Boddenberg (CDU))
Es ist doch ganz klar, dass wir erwarten können – in dieser Frage erwarten müssen –, dass bei dieser Krise definitiv Solidarität zwischen den europäischen Ländern herrscht, aber auch, dass wir gemeinsam über die Frage diskutieren, wie wir eigentlich aus dieser Krise herauskommen.
Ich glaube, wie müssen dringend über die Frage reden, wie wir in Europa ein einheitliches Asylrecht etablieren können, wie die Standards dafür aussehen, und dafür sorgen, dass quasi die Situation, die wir haben – dass Deutschland einen besonderen Standard bietet, der anscheinend auch eine gewisse Anziehungskraft hat –, diskutiert wird, ohne in irgendeiner Form Vorverurteilungen vorzunehmen. Deshalb muss Deutschland dringend – nötigenfalls auch ohne die Partner in Osteuropa, die schon jetzt sagen, sie wollen diesen Weg nicht mitgehen – seine Handlungsfähigkeit beweisen. Wir brauchen in dieser Frage dringend eine Lösung. Frau Merkel steht nicht nur in Deutschland vor einer erheblichen Aufgabe, sondern sie hat mit ihrem Einfluss in Europa auch die Aufgabe, Europa in dieser Frage zusammenzuhalten. Das bedeutet auf der anderen Seite aber nicht, dass Deutschland hier allein und ohne Solidarität der anderen einen Weg gehen muss. Das müssen wir erwarten können.
Viele der Kommentare, die ich lese – ich glaube, das geht vielen Kollegen in Gesprächen ebenso –, zeigen, dass es, vorsichtig formuliert, Sorgen bei vielen Menschen hinsichtlich der Frage gibt, wie sich eine Gesellschaft wie die Bundesrepublik mit einer solchen Anzahl von Flüchtlingen entwickelt. Wie wirkt sich das aus? – Ich glaube, wir sind alle einer Meinung, dass wir in Deutschland schon ganz andere Herausforderungen gestemmt haben, wenn ich die Geschichte Hessens sehe – der Kollege Schäfer-Gümbel hat darauf hingewiesen – oder wenn ich sehe, was wir bei den Gastarbeitern geschafft haben. Wir wissen aber auch, dass wir bei diesen Fragen viele Fehler begangen haben. Parallelgesellschaften zuzulassen ohne Integration zu for
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Michael Boddenberg (CDU) und Thorsten SchäferGümbel (SPD))
Ich glaube, dass es eben an dieser Stelle ganz konkret um die Frage geht, wie und bis zu welchem Alter wir beschulen – ich will das InteA-Programm nennen, bei dem ich die Haltung der Landesregierung zur Schulpflicht in keiner Weise nachvollziehen kann –, wie wir mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen umgehen, wie wir sozusagen dafür sorgen, dass Integration nicht nur beim Thema Sprache, sondern auch bei kulturellen Werten gelingt. Da glaube ich schon, dass die Frage der kulturellen Werte nicht die Botschaft meint – wie ich es in einigen Kommentaren gelesen habe –, dass sich Deutschland verändern muss, sondern dass wir auch erwarten können, wenn Menschen aus einer Notlage zu uns kommen und unsere Hilfe in Anspruch nehmen, dass diese Menschen wissen, welche Werteordnung in dieser Gesellschaft zu Hause ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Deshalb gehört zu dieser Frage einer liberalen Gesellschaftsordnung in diesem Land eben auch, dass wir nicht nur Wortschatz vermitteln, sondern auch eine Gesellschaftsordnung, die mit Toleranz, der Achtung von Mann und Frau sowie von Andersartigkeit zu tun hat, und dass wir diese Toleranz und Liberalität auch denjenigen klarmachen, die jetzt aus anderen Ländern zu uns kommen, weil sie der Kitt ist, mit dem diese Gesellschaft zusammengehalten wird. Ich glaube, dies ist eine große Errungenschaft, und für diese Errungenschaft sollten wir alle gemeinsam kämpfen.