Protokoll der Sitzung vom 22.06.2016

Großbritannien hat mutig im Zweiten Weltkrieg für Demokratie und Freiheit gekämpft und mit dem Sieg der Alliierten über das Naziregime einen wichtigen Grundstein für die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft gelegt. Die Einigung Europas hat eine nie gekannte Phase des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands gebracht, von dem auch Großbritannien profitiert hat.

(Beifall bei der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Vielfalt, die Wahrung der Menschenrechte und soziale Verantwortung sind die Grundlagen der Wertegemeinschaft Europäische Union. Wir sind davon überzeugt, dass der Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union für beide Seiten vorteilhaft ist. Großbritannien ist ein wichtiger Teil der europäischen Wertegemeinschaft und seit jeher ein wichtiger und starker Partner Deutschlands und Hessens in vielen internationalen und auch innereuropäischen Fragen.

In einer globalisierten Welt mit ihren wachsenden Herausforderungen ist es sinnvoll, dass die europäischen Staaten ihren Einfluss und ihr Gewicht bündeln. Ein einiges Europa kann ein starker Akteur in der Welt sein. Ein Ausscheiden Großbritanniens aus dem Verbund würde die geostrategische Position Europas ebenso wie die Großbritanniens schwächen.

Großbritannien ist ein wichtiger Handelspartner Hessens und soll dies auch bleiben. Mehr als 8 % der hessischen Exporte gingen im letzten Jahr in das Vereinigte Königreich. Sollten die Handelsbeziehungen durch ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU beeinträchtigt werden, träfe dies unmittelbar sowohl die hessische als auch die britische Wirtschaft und würde beiden Seiten signifikanten Schaden zufügen.

Rund 11.500 britische Staatsbürger leben in Hessen, fühlen sich hier wohl und wollen gern Teil der Europäischen Union bleiben.

Die Entscheidung am morgigen Tag wird überschattet durch den feigen Mord an der Abgeordneten Jo Cox. Sie setzte sich für einen Verbleib in der EU ein und hat dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen. Unsere Anteilnahme gilt ihren Kindern und allen Angehörigen.

Leider muss man weltweit beobachten, dass politische Diskussionen immer intoleranter und polarisierender geführt werden. Populismus, egal, ob von links oder rechts,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das ist nicht egal!)

der mit den niederen Instinkten im Menschen spielt, schadet der Demokratie und dem offenen politischen Diskurs. Mit Jo Cox hat dieser Extremismus ein großes Opfer gefordert. Es muss unser aller Anspruch sein, solchen Hass und seine Auswirkungen in politischen Debatten zu bekämpfen und nicht zu befeuern.

(Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeord- neten der LINKEN)

Die Briten werden morgen frei und souverän ihre Entscheidung treffen, und wir werden ihre Entscheidung natürlich

respektieren. Sollten die britischen Wählerinnen und Wähler sich für ein Verlassen der EU entscheiden, so bedeutet dies nicht das Ende der Freundschaft und Partnerschaft, und es wird darum gehen, die negativen Auswirkungen einer solchen Entscheidung zu begrenzen.

Doch ohne uns in die inneren Angelegenheiten des Vereinigten Königreichs einzumischen, bekennen wir, dass wir gerne den gemeinsamen Weg mit Großbritannien in der Europäischen Union fortsetzen wollen. Hessen will weiter gemeinsam mit Großbritannien in der EU für eine effiziente EU arbeiten.

Liebe Briten, wir würden uns freuen, wenn ihr bei uns im geeinten Europa bleibt. Daher: Please stay.

(Lebhafter Beifall bei der CDU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vielen Dank, Kollege Utter. – Das Wort hat Frau Abg. Beer, FDP-Fraktion.

Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Tagen, seit Wochen schaut ganz Europa und, ich glaube, auch darüber hinaus auf das herannahende Referendum in Großbritannien. Zum ersten Mal, seit die Möglichkeit des Verlassens der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon implementiert wurde, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger eines Mitgliedstaats über den Austritt aus der Europäischen Union. Wir haben bislang vor allem Erweiterungswellen und auch noch weitere Erweiterungswünsche von verschiedenen Staaten gekannt.

Ist ein solcher Austritt Großbritanniens aus der EU vorstellbar? Ich meine, man muss sich bewusst machen, dass diese Europäische Union bis 1973 ohne Großbritannien existiert hat. Gleichzeitig wissen wir alle miteinander – Herr Utter hat es dargestellt –, wie stark sich seit 1973, seit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Beziehungen verflochten haben, gerade auch zwischen Deutschland und Großbritannien, gerade zwischen Hessen und Großbritannien.

Das einfach aufzulösen wird nicht ohne Schmerzen gehen. Gerade wir Deutsche wissen, dass wir mit den Briten einen wertvollen Verbündeten innerhalb der europäischen Diskussionen haben, wenn es darum geht, ordnungspolitisch sauber z. B. gegen das Entstehen von Monopolen, für fairen und freien Wettbewerb, für Subsidiarität zu streiten, die Europäische Union so weiter zu gestalten. Wir haben hier einen Verbündeten, den wir nicht in allen Mitgliedstaaten in dieser Art und Weise finden.

(Beifall bei der FDP und der CDU sowie bei Abge- ordneten der SPD)

Wir alle wissen, dass ein Austritt Großbritanniens weitreichende Folgen hätte, sowohl für die Briten als auch für die Wirtschaft, sowohl für kleine als auch für große Unternehmen in diesem Land.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die Diskussion der letzten Wochen und die Zuspitzung der Diskussion bis in die letzten Stunden betrachte, dann glaube ich, das ist nicht der Kern des Problems. Wenn man sich insbesondere anschaut, mit welcher Emotionalität, mit wel

chem Hass Gegner und Befürworter der Europäischen Union in dieser Diskussion agieren – Sie haben die unfassbare Ermordung von Jo Cox angeführt, Herr Kollege Utter; wir haben wahrscheinlich alle den entsprechenden Aufruf als Parlamentarier unterschrieben –, dann sehen wir doch, dass der Kern in einem anderen Punkt zu sehen ist. Der Kern der Debatte geht darum, dass sich die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die politische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in einer sehr schweren Krise befinden. Diese Krise trifft alle Institutionen vom Europäischen Parlament über die Kommission bis zum Rat der Staats- und Regierungschefs gleichermaßen.

Zu abgehoben, zu unverständlich, zu weit weg von den eigentlichen Problemen der Bürgerinnen und Bürger im Alltag lautet das Urteil. Brüssel steht als Synonym für weit weg, bürokratisch und überteuert.

Das mag stimmen oder nicht. Aber wir müssen doch als Politiker quer über die Fraktionen und die Parteigrenzen hinweg wahrnehmen, dass die Strahlkraft dieses Friedensund Freiheitsprojekts nachgelassen hat. Herr Utter hatte das völlig zu Recht beschrieben. Diese Strahlkraft, die Leidenschaft, die unsere Großeltern und Eltern zu diesem Projekt getrieben haben, und die Bindungswirkung lassen aktuell bei den Bürgerinnen und Bürgern quer durch die Union, also nicht nur bei denen in Großbritannien, nach.

Das geschieht in einer Zeit, in der die Bedrohung durch Krieg und Gewalt nicht mehr zwischen den Mitgliedstaaten auf dem europäischen Kontinent existiert. Vielmehr kommt sie von außerhalb, oder es finden entsprechende terroristische Anschläge im Herzen unserer Gesellschaft statt. Das bedeutet für mich, dass wir das Haus der Europäischen Union dringend sanieren müssen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Die Leitungen und Rohre sind in die Jahre gekommen. Das Fundament muss neu stabilisiert werden. Vielleicht ist auch die eine oder andere nicht tragende Wand umzusetzen.

Das wäre ein Update, das mit der Kraft einer neuen Vision die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union wieder hinter sich bringt. Das wäre dann eine starke Europäische Union, deren Fundament unsere gemeinsamen Werte Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Toleranz sind. Das muss nach innen bewusst gelebt werden, nach außen wird dafür geworben und für die Durchsetzung gekämpft. Deswegen sind so Leisetretereien gegenüber Erdogan, Putin oder auch China für das Gewicht der Europäischen Union kontraproduktiv.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Kurt Wiegel (CDU))

Wir müssen für die großen Fragen der europäischen Herausforderungen Zimmer einrichten. Das betrifft den Binnenmarkt, z. B. aber auch Energie und Digitalisierung, den Freihandel sowie die Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die wir auf europäischer Ebene mit einer gemeinsamen Armee betreiben sollten. Wir brauchen eine gemeinsame Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik, bei der sich keiner aus der Verantwortung stiehlt, bei der aber auch keiner in der Europäischen Union überfordert wird. Wir brauchen eine Stabilität in der Währungspolitik ohne eine Vergemeinschaftung der Schulden und gegenseitige Budgethilfen.

(Beifall der Abg. Florian Rentsch und Jürgen Len- ders (FDP))

Das bedeutet aber auch den Verzicht auf Bauvorgaben für alles andere, was regional entschieden und vielfältig unterschiedlich in Europa gemacht werden kann und sollte. Die Bürgerinnen und Bürger sehen doch klar, dass sich die Union vielfach um die großen Aufgaben drückt, aber vor Ort bis ins Detail hineinregieren will. Das wird abgelehnt.

(Beifall bei der FDP und des Abg. Tobias Utter (CDU))

Deswegen werbe ich neben einer Veränderung des Fundaments und der Zimmer dafür, dass wir quasi als Dach ein neues Verständnis der Mitgliedstaaten darüber erhalten, dass verschiedene Geschwindigkeiten in der Weiterentwicklung der Europäischen Union möglich werden. Es muss nicht alles gleichermaßen vereinheitlicht werden. Die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente müssen aber auch damit aufhören, die Europäische Union oder die Verwaltung in Brüssel als Vorwand oder auch als Prellbock für innenpolitische Diskussionen zu verwenden.

Frau Kollegin Beer, Sie müssen unbedingt zum Schluss Ihrer Rede kommen.

Herr Präsident, ich komme zum Schluss meiner Rede. – Klar ist: Wir werden diese Neugestaltung der Europäischen Union brauchen, und zwar unabhängig davon, wie sich die Briten morgen entscheiden werden. Klar dürfte für uns aber auch das Zitat Hans-Dietrich Genschers gelten:

Europa ist unsere Zukunft, sonst haben wir keine.

Ich glaube, klar ist auch, dass wir uns wünschen, dass die Briten ihre Zukunft innerhalb der Europäischen Union sehen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Frau Kollegin Beer, vielen Dank. – Das Wort erhält Frau Abg. Waschke für die SPD-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Morgen entscheiden die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens über ihren Austritt aus der Europäischen Union. Dieses Referendum ist das Ergebnis eines leichtfertigen Versprechens, das der konservative Premierminister David Cameron im Wahlkampf 2015 gegeben hat. Damals wie heute tobte ein Machtkampf innerhalb der Tories. Jetzt wird ein ganzer Kontinent in die politische Geiselhaft genommen. Das, finde ich, ist schon ziemlich bitter.

Allerdings muss man auch sagen: David Cameron steht heute auf der richtigen Seite. Denn er kämpft um den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union.

Die Briten waren schon immer ein wenig speziell. Jede Sonderregelung wurde historisch begründet. Das geschah

auch im Vorfeld des Referendums. Da ist es David Cameron gelungen, die eine oder andere Sonderregelung nochmals auszuhandeln. Trotzdem ist für mich klar: Großbritannien ist ein unverzichtbarer Kern Europas.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stimmung in Großbritannien ist sehr aufgeheizt. Der entsetzliche Mord an der Labour-Party-Abgeordneten Jo Cox hat uns alle tief erschüttert. Dieses Verbrechen zeigt, wie hasserfüllt und aufgeladen die Diskussion stellenweise in Großbritannien geworden ist. Ich habe große Achtung vor einer Abgeordneten und vor einer großen Europäerin, der ihr Bekenntnis zu Freiheit, Frieden und Versöhnung zum Verhängnis geworden ist. Ich habe große Achtung vor Jo Cox, die so leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union gekämpft hat.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union liefert uns derzeit viele Gründe, sie infrage zu stellen. Auch das gehört zur Wahrheit. Es gelingt uns nicht, die große Herausforderung der Flüchtlinge gemeinsam zu stemmen. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade bei dieser Diskussion habe ich den Eindruck, dass die nationalstaatlichen Interessen immer weiter in den Vordergrund rücken.

Es gelingt uns nicht, die Wirtschaft in Griechenland zu stabilisieren und den Menschen dort wieder eine Perspektive zu geben. Es gelingt uns noch nicht einmal, die Steuergesetzgebung in der Europäischen Union zu harmonisieren.