Protokoll der Sitzung vom 02.04.2014

Lassen Sie mich mit einem Zitat von Frau Şimşek enden:

Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein.

In diesem Sinne erwarte ich nach den Scharmützeln der letzten Tage eine konstruktive Debatte, damit die notwendige Aufarbeitung doch noch stattfindet. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und der FDP)

Vielen Dank. – Das Wort hat Frau Kollegin Janine Wissler, DIE LINKE.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gestern war der 100. Tag im NSU-Prozess. Auch in den Untersuchungsausschüssen des Bundestages sowie in einigen Landtagen sind immer wieder neue Fragen aufgeworfen worden zum Agieren der Behörden, des Verfassungsschutzes und auch der politisch Verantwortlichen in Hessen.

Das sind Fragen, die dringend geklärt werden müssen. Beispielsweise: Wie kann es sein, dass ein ehemaliger Innenminister und heutiger Ministerpräsident Bouffier Mordermittlungen behindert hat, um einen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu schützen?

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Unglaublich! – Judith Lannert (CDU): Das ist mehr als unglaublich!)

Gab es eine Behinderung von Polizeiarbeit durch den Verfassungsschutz? Und die Frage: Wie kann es bitte sein, dass ein Neonazi, der als V-Mann tätig war und im NSUProzess in München aussagen soll, in dem es um die Aufklärung von zehn Morden geht, nur eine eingeschränkte Aussagegenehmigung vom Verfassungsschutz hat und ihm zudem ein vom Verfassungsschutz bezahlter Rechtsanwalt an die Seite gesetzt wird, der aufpasst, dass dieser Neonazi nicht mehr aussagt, als er darf? Es geht hier um die Aufklärung von zehn Morden, und wir wollen wissen, warum diese behindert wird, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD – Holger Bellino (CDU): Hier wird überhaupt nichts behindert! Eine Unverschämtheit ist das! Was Sie hier machen, wird dem Thema überhaupt nicht gerecht! – Weitere Zurufe von der CDU – Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)

Herr Bellino, wenn nichts behindert wird und es nichts zu verstecken gibt,

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

dann brauchen Sie einen Untersuchungsausschuss nicht zu fürchten.

(Anhaltende Unruhe – Glockenzeichen des Präsiden- ten)

Ich frage Sie: Wer wird hier eigentlich geschützt? – Ich sage Ihnen: Der Rechtsstaat ist es nicht, wenn man V-Leute nicht vollumfassend vor dem NSU-Prozess aussagen lässt. Das ist ein Gericht, das die Aufgabe hat, zehn Morde aufzuklären, Herr Bellino. Und dieser V-Mann darf dort nicht sein gesamtes Wissen auspacken und sagen, was er weiß?

(Holger Bellino (CDU): Was verstehen Sie denn vom Verfassungsschutz? Unerhört ist das! – Gegenruf des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das finden wir auch!)

Meine Damen und Herren, die Opfer des NSU und ihre Angehörigen – der Kollege Schäfer-Gümbel hat bereits darauf hingewiesen – wurden zweifach Opfer: erst durch die Tat und dann durch die falschen Verdächtigungen und Diffamierungen seitens der Ermittlungsbehörden. Statt Hinweisen auf ein rassistisches Motiv nachzugehen – solche Hinweise gab es sehr früh –, wurden die Opfer stigmatisiert und verdächtigt.

Der drastischste Fall, von dem ich gehört habe – und ich muss echt sagen, dass es einen wirklich berührt –, ist, dass man einer trauernden Witwe, die gerade ihren Mann verloren hat, erzählt hat, ihr Mann hätte sie jahrelang betrogen und hätte eine zweite Familie, wobei dies vollkommen gelogen war. – Man hat es dieser trauernden Witwe in der Hoffnung erzählt, dass, wenn man ihren Mann schlechtmacht, sie Belastendes über ihren Mann mitteilen würde, was darauf schließen ließe, dass er im kriminellen Milieu tätig war.

Da frage ich Sie: Was sind das für Ermittlungsbehörden, die eine trauernde Witwe einer solchen Situation aussetzen und solche Ermittlungsmethoden anwenden?

(Beifall bei der LINKEN und bei Abgeordneten der SPD)

Wir können die Angehörigen nur um Entschuldigung bitten. Wir können vor allem eines tun, nämlich umfassend aufklären, und wir müssen Schlussfolgerungen ziehen. Diese Morde müssen aufgeklärt werden, die Rolle der Ermittlungsbehörden, der Geheimdienste und der politisch Verantwortlichen sowieso.

Ich sage aber auch: Wir müssen Schluss machen mit dem V-Leute-System. Der Staat muss aufhören, Nazis dafür zu bezahlen, dass sie Nazis sind. Gestern ist im NSU-Prozess einmal mehr praktisch klar geworden, dass genau dieses Geld, das der Staat V-Leuten gegeben hat, jahrelang in den Aufbau von Nazistrukturen geflossen ist. Das zeigt, dass der Verfassungsschutz ein Teil des Problems ist und leider nicht Teil der Lösung.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine ganz wichtige Konsequenz, die wir ziehen müssen, ist, dass wir alle Formen des Rassismus konsequent bekämpfen müssen, um den Nährboden auszutrocknen, auf dem solche Neonazinetzwerke sich aufbauen und agieren können.

Wir sind der Meinung, wir brauchen einen Untersuchungsausschuss. Deswegen haben wir einen Brief an alle Fraktionen geschrieben, weil wir der Meinung sind, es wäre gut, wenn der Hessische Landtag parteiübergreifend ein Zeichen setzt. Das war im Bundestag möglich. Dort wurde parteiübergreifend ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Das war ein gutes und wichtiges Zeichen. Wir würden uns

wünschen, dass wir auch in Hessen, wo ein Mord geschehen ist, dahin kämen.

Eine Regierungskommission, die von der Regierung eingesetzt ist und dann das Regierungshandeln kritisieren soll, ist an der Stelle völlig deplatziert. Wir befürchten, dass auch ein Sonderausschuss nichts hilft, weil das die Verantwortlichen nicht verpflichtet, zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen. Ich befürchte auch, dass das Ministerium die Akten freiwillig nicht herausrücken wird. Das könnten sie, Frau Faeser, da haben Sie recht. Aber sie werden es nicht tun. Ich glaube, das hat die Debatte klar gezeigt.

Deswegen sagen wir: Wir müssen sie dazu zwingen. Wir wollen einen Untersuchungsausschuss, der es dem Ministerpräsidenten nicht mehr ermöglicht, sich immer weiter wegzuducken, sodass er endlich aussagen muss. Es ist doch ganz klar – –

Frau Kollegin Wissler, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss. – Der Untersuchungsausschuss im Bund hatte nie die Aufgabe, die konkreten Vorkommnisse in den Ländern zu untersuchen. Das konnte er überhaupt nicht leisten. Das hat der Untersuchungsausschuss des Bundestages auch immer wieder klargemacht. Das ist eine Aufgabe der Länder. Das ist die Verantwortung des Hessischen Landtags, und das sind wir den Angehörigen der Opfer schuldig. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD)

Vielen Dank. – Das Wort hat Herr Abg. Boddenberg, Fraktionsvorsitzender der CDU.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mich nur noch einmal zu Wort gemeldet, weil Sie, Herr Schäfer-Gümbel – so habe ich es verstanden –, den Eindruck erweckt haben, als hätten wir in unseren Zwiegesprächen, die wir in dieser Frage geführt haben, darüber gesprochen, dass wir, die CDU, ein Problem damit hätten, was die Frage der Aufklärung des in Hessen, in Kassel, stattgefundenen Mordes anbelangt. Ich will ausdrücklich sagen, Herr Schäfer-Gümbel, Sie wissen, dass das nicht Gegenstand meiner Beiträge in unserer Unterredung gewesen ist, sondern dass wir vielmehr darüber gesprochen haben – das hat eben der Innenminister völlig zu Recht angesprochen – –

(Zurufe der Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel und Nancy Faeser (SPD))

Ich hatte gesagt, man konnte den Eindruck gewinnen. – Wir beide haben über die Frage gesprochen: Was stellt sich die Landesregierung, was stellen sich die Regierungsfraktionen unter dieser Expertenkommission vor, wie wir sie im Koalitionsvertrag festgelegt haben und wozu heute der

Innenminister die entsprechenden detaillierten Vorstellungen vorgetragen und vorgestellt hat? – Das ist ein Punkt.

Frau Wissler, ich will einen anderen Punkt ansprechen. Wir sind von den LINKEN einiges gewohnt. Aber was Sie und Ihr Kollege Schaus heute an Wortbeiträgen hatten, das ist eine Art und Weise des Umgangs mit Parlamentariern, mit Demokraten, wie sie völlig inakzeptabel und – ich sage das ganz bewusst – unverschämt und nahezu unmoralisch ist. So etwas macht man nicht.

(Beifall bei der CDU – Zuruf der Abg. Janine Wiss- ler (DIE LINKE))

Wollen Sie allen Ernstes dem damaligen Innenminister, dem heutigen Ministerpräsidenten,

(Janine Wissler (DIE LINKE): Ich habe Fragen gestellt!)

wollen Sie allen Ernstes Polizeibehörden und Verfassungsschützern unterstellen, dass sie bewusst grob fahrlässig Dinge unterlassen, die der Aufklärung solch schrecklicher Morde dienen? Wollen Sie das allen Ernstes behaupten? Dann sagen Sie es bitte auch so.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Das gilt es aufzuklären! – Zuruf der Abg. Janine Wissler (DIE LIN- KE))

Ich halte es für völlig inakzeptabel im Ton und in der Sache. Aber leider sind wir von Ihnen an vielen Stellen nichts anderes gewöhnt.

(Beifall bei der CDU)

Ich will nur eine Bemerkung zu der Frage machen, die auch angesprochen worden ist. Natürlich wird man über die Frage der V-Leute reden müssen. Das sagt auch der Bundestags-Untersuchungsausschuss in seinen 47 Vorschlägen. Aber wenn wir feststellen können, dass wir zehn neonazistische Organisationen in den vergangenen Jahren verbieten konnten,

(Holger Bellino (CDU): Sehr richtig!)

dann muss man davon ausgehen oder kann zumindest vermuten, dass damit auch die Arbeit dieser V-Leute verbunden ist. Wie kommen wir sonst an die entsprechenden Informationen? Sie pauschal zu diskreditieren, sie gar abschaffen zu wollen, wie das die LINKEN aus vielleicht aus ihrer Sicht verständlichen Gründen wollen, ist völlig daneben und behindert die Aufklärungsarbeit.

(Beifall bei der CDU)

Ich will eine letzte Bemerkung machen, Herr SchäferGümbel. Das haben viele völlig zu Recht problematisiert. Selbstverständlich ist der Hessische Landtag das Verfassungsorgan, das sich am Ende des Tages beispielsweise mit der Gesetzgebung befasst, wobei wir wissen, dass wir Gesetzesänderungen haben werden. Das stellt niemand in Zweifel. Selbstverständlich wird es so sein.

Hier ist die Frage der parteipolitischen Unabhängigkeit der Experten, die berufen werden sollen, mehrfach angesprochen worden. Es muss dort eine neutrale und völlig außerhalb parteilicher Interessen stehende Aufklärungsarbeit geben mit Blick auf strukturelle Änderungen, die wir offenkundig brauchen.

Selbstverständlich ist es auch so, dass diese Expertenkommission regelmäßig nach Bedarf, wie auch immer der Hessische Landtag und insbesondere der Innenausschuss es