Protokoll der Sitzung vom 14.02.2001

(Beifall bei der GAL, der SPD und vereinzelt bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Seitens des Senats liegen keine Wortmeldungen vor. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.

Ich werde die Sitzung jetzt für einige Minuten unterbrechen, bitte Sie aber, Ihre Plätze beizubehalten.

Sitzungsunterbrechung: 16.42 Uhr

(Präsidentin Dr. Dorothee Stapelfeld übernimmt den Vorsitz.)

Wiederbeginn: 16.47 Uhr

Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist wieder eröffnet.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19. Dazu begrüße ich sehr herzlich in unserer Mitte Herrn Siegfried Lenz. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Zur Beratung steht die Drucksache 16/5520: Antrag des Senats auf Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Herrn Siegfried Lenz.

[Senatsantrag: Antrag des Senats auf Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Herrn Siegfried Lenz – Drucksache 16/5520 –]

Das Wort hat der Erste Bürgermeister.

Frau Präsidentin, verehrter Herr Lenz, meine Damen und Herren! Hamburg

in der Nachkriegszeit: Eine am Boden zerstörte Stadt, eine Stadt in Verwirrung. Genauso in Verwirrung wie ein ganzes Land, eine ganze Generation, ein ganzes Volk.

Es ist eine Zeit, in der sensible Köpfe darüber nachdenken, ob Schreiben, ob Literatur, Poesie, ob Kultur in Deutschland überhaupt jemals wieder möglich sein werden. Die einen flüchten sich ins Verdrängen des Geschehenen, die anderen in das Verfolgen materieller Ziele.

Und dann gibt es die, die das Geschehene nicht beiseite schieben, die nachdenken, die Fragen stellen, die reflektieren, die Verzweiflung spüren und die vorsichtig tastend suchen. Einer davon: Siegfried Lenz. Schreibend, erzählend stellt er Fragen und sucht Antworten.

Siegfried Lenz wurde so zum Autor einer ganzen Generation, der der Soziologe Helmut Schelsky einmal das Attribut „skeptische Generation“ zugeordnet hat. Einer Generation, die ihre Illusionen in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg verloren hat.

Und mehr noch: Sie verlor nicht nur Illusionen, sondern auch Maßstäbe, an denen Werte gemessen werden. So gesehen war und ist Siegfried Lenz’ Thema die immer währende Geschichte der enttäuschten Getäuschten.

Siegfried Lenz’ großes Verdienst besteht darin, daß er es vermocht hat, in der Nachkriegszeit anderen wieder Orientierung, Mut und Zuversicht zu geben. Nicht mit der Überzeugtheit des Wissenden, sondern mit der Nachdenklichkeit eines Suchenden. Er tat es behutsam, vorsichtig tastend und gerade dadurch eindringlich und beeindruckend.

Siegfried Lenz ist auch ein aktueller Autor. Denn sind nicht seine Fragen nach wertorientiertem Handeln auch heute notwendig und gültig? Leben wir nicht in der Gefahr, angesichts der Verselbständigung der Märkte Werte und Maßstäbe zu verlieren? Man denke bloß an die BSE-Krise und ihre Folgen. Und sehen wir nicht jeden Tag, daß der Profit zu einer uns und alles beherrschenden Größe zu werden droht?

Auch vor diesem Hintergrund gereicht ein einfühlsamer, nachdenklicher, menschlicher Autor wie Siegfried Lenz Hamburg zu besonderer Ehre. Einer Stadt, die schon seit Heinrich Heines Zeit im Rufe steht, die Stadt des Kommerzes zu sein, nicht aber des Geistes und der Kultur. Was – darüber sind wir uns einig – so nicht stimmt. Man denke allein an das ausgeprägte Mäzenatentum und herausragende Leistungen der Kulturschaffenden in dieser Stadt.

Mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an den Schriftsteller Siegfried Lenz kann Hamburg einmal mehr ein Zeichen dafür setzen, wie geschätzt Geist und Kultur in dieser Stadt sind. Denn Hamburg ist eine Stadt, in der Profit nicht über alles geht und in der wir uns dazu bekennen, daß es in einer zunehmend entwerteten Welt auf Wertungen ankommt.

Die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Siegfried Lenz spiegelt auch seine Bindungen an diese Stadt wider. Hamburger ist Siegfried Lenz zwar nicht, aber die Stadt ist doch längst seine Heimat seit mehr als 50 Jahren. Und wir dürfen davon ausgehen, daß Siegfried Lenz gerne in Hamburg lebt – ich zitiere ihn, denn das sind ja immer die besten Belege –:

„Für mich ist Hamburg eine Stadt, in der man gut leben und auch gut schreiben kann.... Ich würde immer wieder Hamburg wählen.“

(Peter Zamory GAL)

Auch für viele seiner Geschichten hat er Hamburg als Kulisse und Schauplatz gewählt. Und ich gehe so weit zu behaupten: Manche Geschichten können nur in Hamburg spielen. Denn das ist Siegfried Lenz ja auch: ein aufmerksamer Beobachter hamburgensischer Eigenarten.

Meine Damen und Herren!

„Sich zu befragen, was man erlebt hat im unüberschaubaren Dschungel der Realität“

so hat Siegfried Lenz einmal die Arbeit eines Autors charakterisiert.

Seine Lebensgeschichte weist ihn als jemanden aus, der überaus viel erlebt und auch erlitten hat. In seiner Biographie vereinen sich Ost- und Westeuropa; in seinen Geschichten versöhnt sich Deutschland mit den Nachbarn im Osten. Mit Bundeskanzler Willy Brandt reiste er 1970 – gemeinsam mit Günter Grass – zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau.

Siegfried Lenz ist Chronist deutscher Zustände, Zeitzeuge der gewordenen deutschen Demokratie. Voll gelassener Heiterkeit und doch schonungsloser Offenheit zeichnet er das deutsche Wesen.

Siegfried Lenz ist ein großer deutscher Literat, ein deutschsprachiger Autor, in Hamburg beheimatet, aber überall auf der Welt gelesen und verstanden.

Die Verleihung des Ehrenbürgerrechts ist Auszeichnung für sein literarisches Werk, aber vor allem ist sie Signal. Wir ehren einen Autor, der uns zeigt, wie wichtig es ist, sein Handeln an Werten zu orientieren. Wir ehren einen Autor, der sich für unsere Demokratie eingesetzt hat. Und wir ehren einen Mann, der menschliche Größe besitzt.

Im Namen des Senats bitte ich die Bürgerschaft zuzustimmen, Herrn Siegfried Lenz die Würde eines Ehrenbürgers der Freien und Hansestadt Hamburg zu verleihen.

(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat Herr Dr. Christier.

Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Lenz, meine Damen und Herren! Der Senat beantragt heute bei der Bürgerschaft, ihre Zustimmung zu geben, daß Herrn Siegfried Lenz das Ehrenbürgerrecht der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen wird. Ich darf jedenfalls für meine Fraktion sagen: Es bedurfte nicht vertiefter Betrachtung über die Freuden der Pflicht einer Regierungsfraktion, um spontan und mit voller Überzeugung ja zu sagen, als der Erste Bürgermeister begann, diese Idee im politischen Raum zu sondieren.

Wir ehren, ja, ich glaube sagen zu dürfen, wir verehren in Ihnen einen der wichtigsten und zugleich populärsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Ihr Denken und Ihr Schreiben ist entscheidend geprägt von der Erfahrung des Dritten Reiches, vom Krieg, vom Zusammenbruch und der unmittelbaren Zeit danach. Zur Motivation des Schriftstellers, sich in einer solchen Zeit zu äußern und damit ganz automatisch auch politisch zu wirken, haben Sie gesagt:

„Es war nach der Lektion der Geschichte der Möglichkeitsentwurf einer humanen Gesellschaft, der Traum von einem Gemeinwesen, in dem der Mensch nicht Heilsbringern und Sinnstiftern folgt, sondern der versöhnlichen Stimme der Vernunft. Diese Entwürfe zeigten sich

nicht in Gestalt formulierter Modelle; vielmehr traten sie zutage als ein immanentes Plädoyer für Gerechtigkeit, für Menschlichkeit, für die Anerkennung eigener Schuld.“

Soweit das Zitat.

Ich glaube, hier finden wir die Maßstäbe für Ihre Betrachtung unserer bundesrepublikanischen Wirklichkeit seit mehr als 50 Jahren, die für Sie häufig genug Anlaß gewesen sind und Anlaß sind zur Einmischung, zur Kritik und zum Engagement.

Hier finden wir aber auch das kleine, nichtsdestoweniger wichtige Wort „versöhnlich“. Denn das ist der Chronist deutscher Zustände eben auch.

„Ein Dichter des Mitleids, des Konzilianten, des Humors, des Ausgleichs“

wie Ihr Freund Reich-Ranicky sagt.

Sieg und Niederlage, Freundschaft und Verrat, Schmerz und Freude, Zeit der Schuldlosen und Zeit der Schuldigen. Immer gibt es zwei Seiten, die es aber zugleich unmöglich machen, unbeteiligt durch unsere Wirklichkeit zu gehen.

Niemand kann sich unschuldig oder unbetroffen fühlen. Auch heute – oder vielleicht gerade heute – gilt: Identität in Deutschland ohne die Betrachtung der Wirklichkeit oder die Erinnerung an die Geschichte ist nicht möglich. Die Deutschstunde endet nicht, sie darf nicht enden mit dem Klingelzeichen, und dann ist große Pause. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich vermute, daß Sie manches an heutigen radikalen Alarmzeichen, aber auch vieles an Gegenwehr und auch an verstärktem öffentlichen Diskurs über die jüngere Vergangenheit hierfür als Bestätigung empfinden.

Sie haben auf die zentrale Erfahrung des Schriftstellers in der Nachkriegszeit hingewiesen, nämlich auf die folgenreiche Entdeckung:

„Die Sprache widersetzte sich. Sie gewährte nicht die Angemessenheit, um erfahrenes Grauen, um erlebtes Unglück darzustellen.“

Und das in Zeiten und im Zusammenhang mit der Frage, ob es eigentlich nach Auschwitz überhaupt noch möglich ist, Gedichte zu schreiben.

Daß Sie sich trotz dieser Schwierigkeiten auf den Weg gemacht haben, verdient unsere Bewunderung. Für Ihre Antwort auf diese Erfahrung in den Themen und in den Tönen sind wir Ihnen dankbar.