Protokoll der Sitzung vom 14.02.2001

„Seit zwanzig Minuten fahre sie um den Hauptbahnhof herum, immer in derselben Richtung, sie habe es sich abgewöhnt, hier nach einem Parkplatz zu suchen.“

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren! Bestimmte Dinge haben anscheinend mehr als zehn Jahre lang immer weiter Bestand.

Im übrigen, was Sie über die „Insassen“ dieses Hohen Hauses sagen:

„Knurrhähne begeben sich zu einer Konferenz ins Rathaus.“

Das an die Knurrhähninnen und Knurrhähne hier gerichtet.

Wer Siegfried Lenz liest und Hamburg kennt oder auch zum ersten Mal nach Hamburg kommt, wird vieles wiedererkennen – nicht nur Orte, Probleme, auch Menschen, aber die Darstellung der Hamburgerinnen und Hamburger, die Darstellung der Eigenarten, die Darstellung der Stadt, das Lokalkolorit, machen es vermutlich noch nicht aus, daß wir Sie heute einvernehmlich zum Ehrenbürger dieser Stadt ernennen wollen. Viel mehr spricht dafür, Siegfried Lenz zum Ehrenbürger unserer Stadt zu machen, denn:

„Siegfried Lenz gehört nicht nur zu den ohnehin raren großen Erzählern in deutscher Sprache, sondern darüber hinaus auch noch zu den ganz wenigen, die Humor haben“

schrieb Rudolf Walter Leonhardt. Letzteres gilt auch – oder vielleicht gerade –, weil Ihr zentrales Thema die Desillusionierung der Generation, der er selbst angehört, nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Das ist von vielen Literaten gewürdigt und auch eben ausgeführt worden.

Aber unabhängig von dieser eher abstrakten Würdigung ist es für mich nicht nur die Beschreibung dieser Zusammenhänge, nicht nur die Beschreibung großer Konflikte und Katastrophen, sondern es ist die Meisterschaft der Sprache von Siegfried Lenz in der Beschreibung von ganz persönlichen Lagen, der individuellen Existenz – durchaus losgelöst großen Ereignissen –, die mich fasziniert. Denken wir an die Frau im Wettermantel in „Leute von Hamburg“, wie ich finde, geradezu genial beschrieben:

„Vielleicht ist es Hammonia persönlich, die bürgerliche Göttin mit der Einkaufstasche“,

die immer darauf gefaßt ist,

„sechs Kilo preiswerter Bananen nach Hause transportieren zu müssen“,

und die schon früh erfuhr,

„daß Leben auch darin besteht, daß sich die Möglichkeiten verringern.“

Es ist diese völlig klare Sprache, die neben allen Großen das ganz Persönliche, die Individualität der Existenz und des Schicksals der Menschen ausmacht und hier von Hamburger Menschen ausgemacht hat. Es ist Humanismus im besten Sinne des Wortes, der sein Werk prägt. Ein Hamburger Bürger, der seinen sehr gekonnten Umgang mit dem geschriebenen Wort nutzt, um Menschlichkeit in die Welt zu tragen.

Es ist nicht der erste der gekonnten Schrift kundige Ehrenbürger unserer Stadt, andere Ehrenbürger schreiben

(Ole von Beust CDU)

auch Bücher, aber es ist der erste Schriftsteller, den wir zum Ehrenbürger machen.

Aber es ist auch der Mensch Siegfried Lenz, der großen Respekt verdient. Die Bescheidenheit im Auftreten bei öffentlichen Veranstaltungen, oder – um noch einmal Marcel Reich-Ranicki zu zitieren –:

„Solange Menschen wie Siegfried Lenz in diesem Lande leben, werde ich hier nicht untergehen.“

Wir freuen uns und sind stolz auf Sie, Herr Lenz.

(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)

Das Wort hat Frau Möller.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrter Herr Lenz, meine Damen und Herren!

Wenn man das Vergnügen hat, an dieser Stelle eine kleine Rede zum Antrag des Senats auf Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Sie, Herr Lenz, halten zu dürfen, darf man zu Anfang auch gerne aus dem vielen schon Gesagten etwas herausfischen. Ich beginne deshalb mit einem Zitat aus der „Berliner Zeitung“ vom 28. August 1999 anläßlich der Verleihung des Goethepreises an Sie:

„Als viele Leute noch Hans hießen, ruhte in Westdeutschland der Buchmarkt auf drei Säulen. Im Sommer, kurz vor der Ferienzeit, gingen die Lehrer, Apotheker und Amtsrichter zum Buchhändler und fragten nach dem ,neuen Grass‘, dem ,neuen Böll‘ oder dem ,neuen Lenz‘. Hatten alle drei kein neues Buch geschrieben, dann mußte am Strand eben Karten gespielt werden.“

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Ich kann nur sagen: Genauso war es. Ich bin allerdings nicht selbst zum Buchhändler gegangen, sondern durfte mir aus dem elterlichen Katalog des Bücherbundes einmal im Quartal ein Buch bestellen. Und das war in den Siebzigern dann oft „ein Lenz“.

Ich wollte mich aber selber überprüfen, auch eine angemessene Rede halten, und wo sucht man heute nach dem wahren Wissen der Welt? Nach Eingabe Ihres Namens, sehr geehrter Herr Lenz, bekam ich innerhalb von 0,08 Sekunden durch eine Suchmaschine 8160 Fundstellen im Internet genannt.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Wie bringt man eigentlich eine solche Fülle von Informationen, über deren Qualität man sicherlich lange streiten kann, im eigenen Kopf zusammen und dann noch in einer kurzen Rede unter? Ich habe es gar nicht wirklich versucht, aber ich leiste mir eine kleine Analyse, und in Wirklichkeit kristallisiert sich dann doch die Beschreibung Ihres jahrzehntelangen Wirkens heraus.

Es finden sich literaturtheoretische Analysen, viele wissenschaftliche Abhandlungen, manchmal auch wenig Wissenschaftliches, aber sehr Schönes, zum Beispiel ein Artikel über eine Veranstaltung des Deutschen Anglerbundes, bei der Sie die Laudatio auf den zum Jahrhundertfisch gekürten Karpfen gehalten haben.

(Heiterkeit im ganzen Hause)

Ich habe gedacht, das ist eine Namensverwechslung

(Siegfried Lenz: Nein, nein!)

aber Ihre Reaktion zeigt mir, daß das stimmt.

Eine Pressemitteilung des Goethe-Institutes in Oslo zählt Sie zu den meist übersetzten deutsprachigen Dichtern in Norwegen. Auffällig, aber nicht unerwartet, wenn man Ihren Lebenslauf kennt, ist sowieso die Vielfalt der skandinavischen und auch osteuropäischen Rezensionen und Artikel über Sie im Internet.

Die Mehrzahl der Texte ist sehr differenziert, manchmal kritisch, oft aber fast liebevoll geschrieben. Immer wieder findet sich die Beschreibung, daß Sie sich mit der Sprache und den Bildern Ihrer Bücher in eine längst vergangene Zeit bewegen. Ich habe sogar einen Kritiker gefunden, der sich getraut hat zu sagen, in bezug auf Ihren Roman „Die Auflehnung“, es sei ein altmodisches Buch. Aber es wäre unendlich vermessen, das, was Sie uns zu sagen haben, den Inhalt Ihrer Bücher, als altmodisch zu bezeichnen. In einer Zeit, in der die schnellebige, möglichst drastische Information zählt, brauchen wir Ihre Romane über menschliche Menschen. Bei Hoffmann und Campe werden Sie zitiert mit dem folgenden Satz:

„Ich bin einverstanden damit, wenn die Erfahrungen, die ich gemacht habe und kenntlich machen möchte, eines Tages nicht mehr das Interesse finden, das sie für mich gehabt haben.“

Ich glaube, dieses Einverständnis muß von Ihnen noch lange nicht eingelöst werden.

Die interessantesten Seiten des elektronischen Kommunikationsmittels waren für mich dann auch die Chats unter dem Titel „Hausaufgaben“ oder „Referat“ oder „Leistungskurs Deutsch“ oder eben immer wieder einfach nur „Deutschstunde“. Es geht hierbei im übrigen nicht um das Abschreiben oder Kopieren oder Austauschen von fertigen Texten, sondern es geht oft um Diskussionen. Hier stellt man dann schnell fest, daß vielleicht gerade durch Ihre Sprache, die den Schülerinnen und Schülern von heute manchmal fremd ist, weil sie in den Ohren der Jugendlichen umständlich klingt, die Botschaften verstanden werden.

Unsere Kinder können durch das Lernen der historischen Fakten über die Unmenschlichkeit und die Verbrechen der Nazizeit niemals die Zweifel, die Wut und auch die Schuldgefühle meiner Generation verstehen, wenn wir ihnen nicht auch die ganz einfache menschliche Katastrophe der Nazizeit vermitteln können. Sie, Herr Lenz, vermögen dieses mit ihren Büchern zu leisten.

Für mich selber, als eine, die ein wenig zu jung für die 68er Generation ist, wütend aber gegenüber den revanchistischen Tönen der damaligen Großelterngeneration und im ewigen Streit um die Auseinandersetzung mit der Beteiligung und Schuld der Elterngeneration an den unbegreifbaren Greueln der Nazizeit, waren Sie die klarste öffentliche Stimme. Das damals noch recht neue Medium Fernsehen – für mich zumindest – hat mit der Ausstrahlung der Verfilmung Ihrer „Deutschstunde“ 1970 neue Türen für Gespräche geöffnet. Es gab immer noch keine Entschuldigung für das Wegsehen und einfach Mitlaufen, aber wir konnten, vermittelt durch die Sprache und die Bilder, die Widersprüche verstehen. Und wir konnten auch ein wenig aufatmen in einer Zeit, als doch noch viel Blindheit gegenüber der Vergangenheitsbewältigung herrschte.

Die Dreizehnjährigen von heute kommen durch Siggi und Jens Jepsen in den Dialog mit den Großeltern. Politische Auseinandersetzung schützt vor politischer Dummheit,

(Ole von Beust CDU)

und wir brauchen die Auseinandersetzung – gerade in dieser Zeit – mit den immer lauter werdenden Rassisten und Faschisten.

Die Hamburgische Ehrenbürgerschaft hat im übrigen immer zwei Seiten: Bürgerschaft und Senat haben hier etwas zu vergeben, eine Ehre, eine Anerkennung für jemanden, der sich eingesetzt hat. Aber wir möchten uns auch etwas mitnehmen: Wir möchten uns Ihre Sicht auf Menschlichkeit und Identitäten, Schuld und Sühne, auf Gerechtigkeit und Ehrlichkeit mitnehmen. Sie wendet sich auch an die Gegenwart und Zukunft und vor allem an die Politik. Deswegen freuen wir uns, dem Antrag des Senats zu folgen und Ihnen die Ehrenbürgerschaft zu verleihen. – Vielen Dank.

(Anhaltender Beifall im ganzen Hause)