Protokoll der Sitzung vom 28.02.2001

(Beifall bei der SPD – Zuruf von Heike Sudmann REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Deswegen kann ich nur noch einmal sagen: Es gibt neben allem Wirtschaftspolitischen und dem, was von uns an der Realisierung zu verantworten ist, gerade im Bereich der Ökologie, eine ganze Menge an praktischen Perspektiven. Die Voraussetzung ist, man findet sich zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit und versteigt sich nicht in die Szenarien, die Sie ganz zum Schluß Ihrer Rede aufgezeichnet haben, sozusagen der geballte Volkszorn, der über die Bürgerschaft kommt. Ich wiederhole es noch einmal: Dies ist alles weit von Realitäten entfernt. Lassen Sie uns auf den Boden der Realität zurückkommen und im Interesse des Gesamtvorhabens zusammenarbeiten.

(Beifall bei der SPD und der GAL – Zuruf von Susanne Uhl REGENBOGEN – für eine neue Linke)

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Dann treten wir in die Tagesordnung ein. Abweichend von der Empfehlung des Ältestenrats sind die Fraktionen und die Gruppe übereingekommen, daß Punkt 6 der Tagesordnung vertagt werden soll.

Wir kommen zur

Aktuellen Stunde

Dazu sind drei Themen angemeldet worden, und zwar von der GAL-Fraktion

„Raus aus der rechten Szene: Auf andere Konzepte setzen!“

von der SPD

(Senator Dr. Thomas Mirow)

A C

B D

Fußball-WM nur im Bezahlfernsehen?

sowie von der CDU-Fraktion

Kindertagesbetreuung: Schluß mit dem Abkassieren – Beiträge senken!

Zunächst rufe ich das von der GAL-Fraktion angemeldete Thema auf. Das Wort wird gewünscht, der Abgeordnete Mahr hat es.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! In den letzten zehn Jahren hat es in der Bundesrepublik über 130 Tötungsdelikte gegeben, die auf rechtsextremistisch motivierte Gewalt zurückzuführen sind. Zu lange wurden diese Wirklichkeit heruntergespielt und im Zweifelsfall rechtsextremistische Hintergründe geleugnet.

Schweden hat vorgemacht, wie man diesem Skandal entgegenwirken kann. Mit EXIT wurde ein Aussteigerprogramm entwickelt, das jungen Menschen einen Weg aus dem Teufelskreis von Gruppendruck und Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aufzeigen will.

Häufig ist es schlicht die banale Angst, in die Bedeutungslosigkeit zurückzufallen, die viele hindert, sich aus ihren neonazistischen Freundeskreisen zu lösen. Hier setzt EXIT an.

Seit Herbst letzten Jahres arbeiten Nazi-Aussteiger Ingo Hasselbach und der Rechtsextremismusexperte Bernd Wagner am Aufbau von EXIT Deutschland. Der Bundesinnenminister hat EXIT zur Chefsache erklärt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz die Federführung übertragen; so konnte man es nachlesen.

Zunächst ist es einmal zu begrüßen, daß die Bundesregierung endlich konkrete Schritte einleitet. Es ist unerträglich, daß Halbwüchsige im Schlepptau gefährlicher Drahtzieher und Demagogen neonazistische Propaganda auf die Straße tragen. Noch schlimmer ist aber das Abgleiten in Terror und Gewalt gegen Migranten, Obdachlose und andere an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen. Die GAL-Fraktion hält es aber für einen falschen Weg, in erster Linie auf Verfassungsschutz und Polizei zu setzen, statt auf den Selbsthilfecharakter von Ausstiegswilligen zu bauen.

In Schweden befinden sich circa hundert Ex-Neonazis im Aussteigerprogramm, nicht zuletzt deshalb, weil der Initiator ein Ex-Skinhead ist. Unterstützt wird das Programm vom Kulturministerium und von privaten Sponsoren. EXIT hilft beim Verlassen aus der bisherigen Lebenswelt, zeigt neue Orientierungspunkte auf, erstellt Sicherheitskonzepte für betroffene Personen, vermittelt juristischen Beistand, begleitet betroffene Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter. Aufklärung und Information der Öffentlichkeit werden durch Netzwerke sichergestellt.

Um nicht mißverstanden zu werden: Wenn es um Sicherheitsfragen geht, sollten selbstverständlich die Fachleute von Polizei und gegebenenfalls auch des Verfassungsschutzes hinzugezogen werden. Tragfähig wird EXIT in Deutschland aber nur dann werden, wenn den Betroffenen kein Programm übergestülpt wird, das mit ihnen erst einmal nur wenig zu tun hat. Die Motivation zum Ausstieg muß vorhanden sein. Nur dann ist ein Erfolg zu erwarten.

Der Weg für den einzelnen wird schwer genug sein. Wie schwer, zeigt das Bekenntnis von Kent Lindal aus Schweden, dem Ex-Neonazi:

„Der Ausstieg war sehr hart, ich hatte niemanden, der mir sagt, wie man damit umgeht, daß die alten Kameraden einen verfolgen und bedrohen, daß man plötzlich keine Freunde mehr hat.“

Der Schritt in die Öffentlichkeit, wie ihn Ingo Hasselbach und Kent Lindal gegangen sind, ist vorbildlich und mutig. Dies kann aber nicht jedem zugemutet werden. Es darf in keinem Fall der Eindruck entstehen, daß es EXIT in Deutschland allein um die Instrumentalisierung Ausstiegswilliger, zur Verunsicherung der Szene geht und das eigentliche Programm in den Hintergrund tritt. Das Scheitern wäre vorprogrammiert. Deshalb sollte das Programm auch vom gesamten Senat vorangetrieben werden und nicht nur von der Innenbehörde.

In den Schulen wird man frühzeitig erkennen, ob Jugendliche in die rechte Szene abzurutschen drohen oder dort sogar schon gelandet sind. Häufig fühlen sich Lehrerinnen und Lehrer in einer solchen Situation überfordert. Deshalb muß die Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer praxisnah an den Realitäten ansetzen. EXIT könnte eine Vernetzung von praxisnaher Einzelfallhilfe und Prävention sicherstellen, könnte Hilfestellung leisten. Insofern ist das von Bundesministerin Christine Bergmann gestern vorgestellte Aktionsprogramm gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu begrüßen. Wir dürfen gespannt sein, inwieweit hier eine Verzahnung mit EXIT stattfinden wird.

In erster Linie wird es darum gehen müssen, gefährdete Mitläufer anzusprechen und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Zu Recht wendet EXIT in Schweden ein: Wer nicht wisse, wofür es sich zu leben lohne, der werde sich wohl kaum allein aus moralischer Empörung vom Rechtsextremismus abwenden.

Insofern ist die Bekundung des Innensenators zu begrüßen, daß man sich auf die minderjährigen Mitläufer konzentrieren wolle. Wir dürfen diese Jugendlichen in der Tat nicht aufgeben, Herr Senator, da steht die GAL-Fraktion ganz an Ihrer Seite. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Das Wort bekommt die Abgeordnete Frau Dr. Hilgers.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das beste Aussteigerprogramm heißt den Einstieg zu verhindern. Gewalt gegen anders Denkende und anders Aussehende sowie gegen Schwache ist out. Nichts legitimiert Gewalt. Die Impfung gegen Rechtsradikalismus muß so früh wie möglich einsetzen. Als positives Beispiel möchte ich die Aktivitäten von Hamburger Schülerinnen hervorheben: „Wir sind dabei – Jugend lebt Demokratie“. Das von Herrn Mahr schon angesprochene Bundesprogramm „Jugend für Toleranz und Demokratie, gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“ kommt hier auch zur rechten Zeit.

Das alles, was dort passiert, muß nicht angestrengt und nicht belehrend sein. Udo Lindenberg – nach Helmut Schmidt der zweitbekannteste Hamburger mit Kopfbedeckung – macht hier einen ordentlichen Wirbel und schafft es, ein breites Spektrum von Kollegen einzubinden. Ihm sei dafür hier der Dank ausgesprochen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

(Vizepräsident Berndt Röder)

Dem alltäglichen und leichtfertigen Umgang mit rechtsradikalem Gedankengut müssen wir alle begegnen. Dazu bedarf es auch der Information und Hilfestellung. Besonders in diesen Wahlkampfzeiten gehören alle unsere Worte auf die Goldwaage. Wir sind dafür verantwortlich, daß sich Jugendliche für Demokratie und Politik begeistern. „Jugend im Parlament“ und „Jugend streitet“ sind positive Initiativen. Informationen über die Vorgehensweisen von Rechtsradikalen bei der Anwerbung von Jugendlichen müssen für Lehrer, Eltern und Kollegen zugänglich sein und diese argumentationsfähig machen. Aktives Eingreifen bei Warnsignalen, Zivilcourage gegen die unbeteiligte Gesellschaft, die Es-geht-mich-nichts-an-Mentalität sollte Bürgerpflicht sein, denn wer nichts tut, macht mit. Durchdenken, durchspielen, erzählen, was man gemacht hat, Preise für Aktionen, Lob für Mut und eine Hotline für schnellen Kontakt gehören dazu. Hier leisten die Innenbehörde mit ihren Kampagnen, die Landeszentrale für politische Bildung und das Jugendinformationszentrum mit ihren Angeboten gute Arbeit.

(Beifall bei der SPD)

Neben Prävention und Information gehört unverzichtbar als drittes Element eines Antieinsteigerprogramms auch die Konsequenz staatlichen Handelns dazu, und zwar die Konsequenz gegenüber rechtsradikalen Gruppen, Straftaten und martialischen Aufmärschen. Hierzu zählt in Hamburg das Verbot des sogenannten Hamburger Sturm, das Vorgehen bei den sogenannten Blood-and-honour-Konzerten und auf Bundesebene das angestrebte NPD-Verbot.

Alle diese Elemente, Prävention, Information, Aktion und Hilfestellung helfen dabei, den Einstieg zu verhindern. Aber auch wenn der Einstieg vollzogen ist, sollte der Ausstieg durch entsprechende Programme ermöglicht werden. Von daher braucht es auch Angebote für Mitläufer und Täter. Herr Mahr hat gesagt: „... nicht nur Verfassungsschutz oder Polizei...“, aber auch diese.

Die Angebote müssen vielfältig sein, um die Szene aufzumischen und nicht etwa um einzelne zu belohnen. Wenn Mitläufer oder gar Täter umkehren wollen, so soll ihnen geholfen werden. Denn sie werden in der sektenähnlich strukturierten Szene nicht losgelassen. Sie werden bedroht und bleiben vielleicht nur dabei, weil sie ihre Situation für aussichtslos halten. Sie könnten aber durch ihr Zutun helfen, Strukturen zu zerschlagen und gewalttätige Aktionen zu verhindern.

Die Angebote wie EXIT in Schweden und die Stern-Aktion zeigen, daß dies möglich ist. Hier leisten auch ehemalige Mitglieder der Szene wertvolle Arbeit.

All dies zusammen, die Verschränkung von präventiven aktivierenden und konsequenten Maßnahmen, zusammen mit einem Aussteigerprogramm, wie es auch der Bundesinnenminister Dr. Otto Schily angeregt hat, wird helfen, die Szene auszutrocknen. Wir sollten dies als gemeinsame Aufgabe der Demokratie, der Demokratinnen und Demokraten begreifen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort erhält der Abgeordnete Schira.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! In der Vergangenheit haben wir uns in diesem Parlament öfter mit dem schlimmen Unwe

sen rechtsextremistischer Gewalt beschäftigt. Wir haben über den NPD-Verbotsantrag diskutiert, wir waren entsetzt und bewegt über die Brutalität, die Feigheit und die Menschenverachtung von jungen Menschen gegenüber Menschen, die Minderheiten angehören oder anders denken.

Im Zuge der bundesweiten Diskussion wurden Aufklärungs- und Präventionsprogramme für Schüler und Jugendliche gegen Intoleranz und Haß aufgelegt. In den nächsten drei Jahren stehen circa 150 Millionen DM für das Aufklärungsprogramm Xenos zur Verfügung. Die Hälfte dieses Betrages wird aus dem Europäischen Sozialfonds bezahlt. Für kleinere Initiativen ist es gemeinhin schwer, an diese Unterstützung zu kommen, und dies sollten wir uns an anderer Stelle noch einmal genau anschauen.

Zusätzlich zu der Prävention und Aufklärung wird erst jetzt in der Öffentlichkeit debattiert, wie man bereits rechtsextremistische Jugendliche aus der Szene herausbrechen kann. Wir konnten in diesen Tagen den Medien entnehmen, daß der Bund mit Hilfe des Verfassungsschutzes ein Programm für ausstiegsbereite Neonazis initiieren will. Flankierend wollen die Länder durch die Polizei ebenfalls Maßnahmen ergreifen. In Baden-Württemberg wird schon seit geraumer Zeit gezielt auf Leute aus der rechten Szene zugegangen. In Berlin engagiert sich die Initiative EXIT auf diesem Gebiet. Der Innensenator in Hamburg hat angekündigt, initiativ zu werden, das heißt, beim Bund und in den Ländern soll sich etwas bewegen.

Deshalb unterhalten wir uns nicht mehr über die Frage, ob wir auf Rechtsextremisten zugehen dürfen, sondern wir reden darüber, wie wir auf sie zugehen. Ich meine, wir dürfen Ihnen nicht bedingungslos entgegenkommen. Es darf keine Belohnung für den bisherigen Lebenswandel geben. Das heißt, es müssen Bedingungen, gerade im Zusammenhang mit eventuell materiellen Hilfen des Staates, gestellt werden. Es darf keine akzeptierende Sozialarbeit geben, das heißt beispielsweise, daß ein Jugendclub für teures Geld – Geld der Steuerzahler – renoviert und dann von Skinheads sprichwörtlich als Sturmlokal mißbraucht wird.

Wir kennen die Einzelheiten des Bundesprogramms bisher nicht. Der Erfolg einer solchen Initiative hängt aber im wesentlichen auch von der Akzeptanz in der Bevölkerung ab. Es wäre fatal, wenn der Eindruck entstünde, daß nur durch das Ausziehen von Bomberjacken und Springerstiefeln eine Prämie vom Staat, wie Arbeitsplatz, Wohnung und Geld gestellt wird. Es gibt Meinungen, wonach ein solches Programm einen Anreiz schaffen würde, erst einmal rechtsextremistisch aufzutreten, um dann beim kaschierten Ausstieg Geld zu kassieren. Ich glaube allerdings, daß insbesondere die Landesämter für den Verfassungsschutz und die Polizei solche Leute schnell erkennen würden.

Der Druck, den die Szene auf Mitglieder und deren Familienangehörige ausübt, ist enorm. Menschen, die die Unsinnigkeit und Verlogenheit ihres Handelns sehen und umkehren wollen, haben Angst vor Verunglimpfung und Gewalt bis hin zum Fememord.