Protokoll der Sitzung vom 08.05.2002

Das Wort bekommt der Abgeordnete Vahldieck.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn Herr Böwer die Entwaffnung der Gesellschaft fordert, dann ist das im Hinblick auf illegale Waffen ohne jeden Zweifel richtig. Illegale Waffen kommen im Übrigen zu 98 Prozent – wenn nicht sogar zu 99 Prozent – bei Straftaten zum Einsatz. Hier ist mit Sicherheit eine stärkere Beachtung durch die Polizei angebracht; das ist gar keine Frage. Wenn eine Entwaffnung in Bezug auf legale Waffen gefordert wird, dann ist das großenteils, aber nicht vollständig richtig.

Es gab an diesem Donnerstag eine unglaubliche Duplizität der Ereignisse. Während das Massaker in Erfurt stattfand, hat der Deutsche Bundestag das Waffenrecht erörtert und novelliert. Das beschlossene neue Waffenrecht sowie auch das derzeit noch geltende Waffenrecht haben jedoch den Praxistest nicht bestanden. Wir sollten es gemeinsam als Chance begreifen, dass es noch einige Wochen dauert, bis die Angelegenheit im Deutschen Bundesrat behandelt wird. Bis dahin ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wie man dieses Recht optimieren kann. Diese Chance muss wirklich entschlossen genutzt werden; einige Vorschläge sind schon auf den Tisch gelegt worden.

Wir brauchen unabhängig vom Alter – das sehe ich ähnlich wie Herr Woestmeyer und Herr Schrader – eine individuelle Herangehensweise bei der Frage der Gewährung legaler Waffen. Das Alter ist hier vielleicht wirklich kein wesentlicher Gesichtspunkt, sondern vielmehr der Charakter. Mir ist klar, dass man eine Charakterprüfung nur sehr schwer vornehmen kann, aber in anderen Lebensbereichen – Stichwort: so genannter Idiotentest für den Straßenverkehr – wird das auch versucht. Ich meine, diesen Weg sollte man gehen.

Es ist notwendig, dass solche Waffen, die im Schießsport keine Verwendung finden – wie eine so genannte Pumpgun –, auch von Sportschützen nicht legal erworben werden können. Das ist – das mussten wir zur Kenntnis nehmen – bisher der Fall gewesen. Ich hoffe, dass das Gesetz hier Änderungen vorsehen wird.

Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass Sportschützen Hunderte von Patronen und ihre Waffen zu Hause haben; sie können auch in den Panzerschränken der Schützenvereine aufbewahrt werden. Dass die Sportschützen ihre Waffen mit nach Hause nehmen, halte ich nicht für zwingend. Ich bin der Auffassung, dass wir im Bundesratsverfahren zwischen den Interessen der Sportschützen und der Jäger, die sicherlich ernst zu nehmen sind, genau abwägen sollten. Aber im Zweifel – das ist mein Appell an den Senat – muss die Sicherheit Vorrang haben. Deswegen bitte ich den Senat, für die Sicherheit und zur Not auch gegen die Interessen der Schützen und Jäger zu votieren. Ich glaube, dann sind wir auf der richtigen Seite. – Vielen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Mahr.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich hätte mir von manchem Politiker in den letzten Tagen gern mehr Zurückhaltung und mehr Nachdenklichkeit gewünscht.

(Leif Schrader FDP)

Es wurde schon gesagt, dass es nicht die Stunde der Patentrezepte ist, sondern die der Fragen, die heute unbeantwortet bleiben werden. Manche werden wahrscheinlich auch unbeantwortet bleiben müssen.

Wer glaubt, dass computergesteuerte Killerspiele, die an Menschenverachtung sicherlich kaum zu überbieten sind, die Ursache für derartige Massaker sind, macht es sich zu leicht. Da sie aber so massenhaft gehandelt werden, sind sie wahrscheinlich auch Ausdruck und Indiz für den Zustand unserer Gesellschaft. Das ist das eigentlich Beunruhigende.

Wer jetzt den Werteverlust beklagt, der sollte sich fragen – bevor er mit dem Finger auf andere zeigt –, welche Werte er meint und was er selbst zu seiner Pflege beigetragen hat. Wer jetzt schärfere Waffengesetze fordert, wird endlich – solange die Betroffenheit anhält – ausreichende Verbündete finden. Doch wehe, wenn der Alltag einkehrt!

Es war doch die Waffenlobby, die noch am Tage des Erfurter Massenmordes gemeinsam mit CDU und FDP frohlockte, dass dem ursprünglichen rotgrünen Gesetzentwurf die Zähne gezogen worden seien. Christoph Böhr, Landes- und Fraktionsvorsitzender der CDU in RheinlandPfalz, sprach gar vom Schulterschluss der Union mit Schützen und Jägern, Waffensammlern und Waffenherstellern.

Die FDP-Fraktion im Nordrhein-Westfälischen Landtag versuchte noch zwei Tage vor Erfurt das ganze Waffengesetz zu stoppen. Der CDU-Innenexperte Marschewski freute sich in der Bundestagsdebatte, dass es gut sei, dass die sinnlose Waffenbegrenzung von Tisch sei. Auch der Bundesinnenminister war vor der Rüstungslobby zurückgeschreckt. Es gab noch etliche andere Stimmen dazu. Ich bin dankbar, Herr Vahldieck, dass Sie dem Ganzen heute eine andere Richtung gegeben haben.

Jetzt sind sich offenbar alle einig. Ich habe da aber meine Zweifel. Können wir das wirklich glauben? In Hamburg fordert Innensenator Schill – Herr Bauer hat das heute wiederholt –, vor Schulen verdachtsunabhängige Kontrollen auf Waffen bei Schülern durchzuführen, und instrumentalisiert ein ganz Deutschland erschütterndes Ereignis für eine Polizeirechtsdebatte, bei der – das haben wir eben wieder gehört – der Koalitionspartner Bedenken angemeldet hat. Da lobe ich mir doch Ministerpräsident Vogel, der ein Innehalten eingefordert und sich gegen Schulen als Hochsicherheitstrakte verwahrt hat.

(Dr. Andrea Hilgers SPD: Schill interessiert das gar nicht!)

Ich habe nie etwas für eine liberale Waffengesetzgebung übrig gehabt. Erstaunlich ist nur, dass sich ausgerechnet die als sonst innenpolitische Hardliner bekannten Politiker immer wieder mit der Waffenlobby verbünden und restriktivere Vorschriften verhindert haben.

Herr Vahldieck, ich stimme Ihnen zu. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass Sportschützen ihre Munition zu Hause aufbewahren und Schusswaffen außerhalb von Übungsstätten gelagert werden. Wenn das – so haben es die Herren von der Waffenlobby kürzlich in den Zeitungen geäußert – mehr Geld kostet oder es keine Vorrichtungen für die Lagerung gibt, dann müssen sie diese schaffen oder das Schießen aufgeben.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Die amerikanische Vorstellung von der Bewaffnung als Bürgerrecht ist fürwahr ein Alptraum.

Es gibt kaum eine unmittelbare Kausalität zwischen den geltenden Gesetzen und den Morden von Erfurt. Es verbietet sich auch für uns, per Ferndiagnose zu beurteilen, was in Erfurt ein Schüler in seiner Verzweiflung hat zum Mörder werden lassen. Es verbietet sich auch, ohne weitere Kenntnisse – mit Illustriertenwissen – über die Familie zu urteilen. Wer das trotzdem tut, geht tatsächlich über das grausame Geschehen von Erfurt hinweg und macht es sich zu einfach.

Das Bild – ich weiß nicht, ob es Ihnen auch vor Augen steht – von 16 Kerzen und einer Kerze vor dem Erfurter Dom ging um die Welt. Es sagt mehr aus, als Worte ausdrücken können. Dieses mutige Bild war tröstlich und ist zur Mahnung geworden. Wer öffentlich suggeriert, es könne einfache Antworten auf das Erfurter Morden geben, verschweigt, dass sich Erfurt, egal welche Gesetze wir schaffen, wiederholen kann.

(Glocke)

Das ist mein letzter Satz, Herr Präsident.

Wenn wir aber nach Erfurt dazu kommen sollten, dass Kindern und Jugendlichen ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, dass gerade die zu kurz gekommenen und möglicherweise bereits gestrauchelten Jugendlichen mehr Zuwendung und Unterstützung erfahren, dann wäre wenigstens etwas erreicht. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort erhält der Abgeordnete Frühauf.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben hier unser Mitgefühl gegenüber den Opfern und den Eltern des Täters zum Ausdruck gebracht und suchen nun verkrampft nach Lösungen, die es weder einfach noch schwierig gibt.

Wir brauchen einen dauerhaften Prozess der Beschäftigung mit dem Thema, das sich nicht darauf beschränkt, ob die Waffe benutzt wird. Ganz im Gegenteil, es muss sich auf sämtliche Bereiche, auf das Miteinander in der Schule, auf das Zusammenleben von Kindern und Eltern, aber auch auf die Schüler untereinander ausweiten.

Wir stellen fest, dass Schüler nicht nur zur Schule gehen, sondern auch Freizeit haben, und dass die Kinder und Jugendlichen nach ihrer Schulzeit – wenn man der Statistik glauben darf – täglich bis zu vier Stunden und mehr vor dem Fernseher sitzen, Videos anschauen und mit Computerspielen zubringen. Gleichzeitig – das geht miteinander einher – wird festgestellt, dass die Kinder unter Bewegungsmangel leiden und krank werden.

Es ist die Aufgabe von uns allen, diesen Kindern – wenn wir es ernst meinen – eine sinnvollere Beschäftigung anzubieten. Dies wird nicht dadurch erreicht werden können, dass wir Computerspiele oder Videos verbieten. Denn eines ist klar: Durch die Globalisierung des Internets wird sich jeder, der es möchte, solche gewaltverherrlichenden Filme und Spiele herunterladen können. Der Schwerpunkt ist deshalb klar und offensichtlich: Wir sind alle gefragt, was wir mit unseren Kindern und für unsere Kinder tun können.

Herr Maier hat Schiller ins Spiel gebracht. Es ist für mich ein eklatanter Widerspruch, wenn wir einerseits versuchen, den Kindern in der Schule Schiller nahe zu bringen, anderseits aber nicht den Mut haben, ihnen zu sagen, dass das, was sie danach tun – vielleicht eine Stunde später –

(Manfred Mahr GAL)

ein widerlicher, perverser Wahnsinn und das Gegenteil von dem ist, wofür sie – weil sie in diesem Bereich ihre Schularbeiten gemacht haben – eine halbe Stunde vorher gelobt wurden. Wir müssen dazu kommen, dass wir den Kindern auch dafür ein Lob aussprechen, wenn sie Positives tun. Wir dürfen nicht froh sein, wenn sie uns in Ruhe lassen, vor dem Fernseher sitzen oder mit dem Computer spielen. Zu dem Lob, das ein Erziehungsmittel ist, müssen zusätzliche Angebote kommen.

Herr Maier, noch ein Wort zu der Bemerkung, dass wir diejenigen, die kein Abitur haben, mit denen in einen Topf werfen, die sich zurückgesetzt fühlen. Das ist nicht zutreffend. Sie wissen, dass wir uns für die Stärkung der Hauptschule und auch der Realschule einsetzen. Es gibt für jemanden, der die Hauptschule oder die Realschule absolviert, keinen Anlass, sich zurückgesetzt zu fühlen. Das muss man einmal ganz deutlich festhalten.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der CDU)

Insbesondere das Handwerk, das wir stärken wollen, bietet hervorragende Möglichkeiten, mehr Leistungen zu bringen und auch mehr Geld zu verdienen als so mancher Abiturient nach einem dauerhaften Studium.

Wir haben gemeinsam eine Ächtung von Gewaltfilmen und Computerspielen vorgenommen. Mir liegt daran, dass diese Ächtung nicht nur – wie heute in der Zeitung befürchtet wurde – bis zur Sommerpause dauert, sondern dass sie auch darüber hinaus ein Inhalt unserer Diskussion bleibt. Andernfalls machen wir uns lächerlich, wenn das Ergebnis dieses tragischen Ereignisses nur eine Showveranstaltung wird.

Leider ist es auch nicht so, dass die freiwillige Selbstkontrolle Hoffnung macht. Sie wird einen Kontrollverlust erleiden; das hat die Vergangenheit gezeigt. Ich plädiere deshalb dafür, Gewaltvideos und -computerspiele zu verbieten. Ich glaube zwar nicht, sie damit aus dem Verkehr ziehen zu können, aber wir müssen damit ein Zeichen der Ächtung setzen.

(Glocke)

Ich komme zum Ende.

Wir haben auch die Kampfhunde geächtet und erreicht, dass zumindest der Bevölkerung klar wurde, dass wir diese Hunde, den Missbrauch und die Verrohung unser eigenen Kultur und Sitten nicht wollen. Daran werden wir arbeiten.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

Mir liegt noch eine weitere Wortmeldung vor. Der Abgeordnete Beuß bekommt für zwei Minuten das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers hat einmal gesagt:

„Der menschliche Verstand ist in der Praxis nicht verlässlich, am wenigsten in größter Not.“

Ich glaube, diese Umschreibung macht deutlich, was in Erfurt passiert ist. Es sollte nicht versucht werden, zu generalisieren, wenn man deutlich machen will, dass immer mehr Gewalt in die Schulen kommt. Das ist maßlos über

trieben. Wohl aber haben wir an einigen Stellen Riesenprobleme, die immer stärker in der erziehungsfreien Zone liegen. Sie spielt sich ab zwischen Elternhaus und Schule, das heißt, die Eltern verlassen sich auf das, was möglicherweise in der Schule passiert. Die Schule kann diese Erziehungsfunktion im täglichen Umgang mit Kindern gar nicht leisten. In diesem Bereich liegt heute das große Problem für viele Dinge, wenn es um Gewalt unter Kindern und Jugendlichen geht.