Protokoll der Sitzung vom 09.11.2005

Ich finde es schon interessant, dass die SPD nicht möchte, dass die Bürger hier mitarbeiten.

(Zuruf von Uwe Grund SPD)

Das haben Sie sehr wohl gesagt.

(Dirk Kienscherf SPD: Sie verlagern Verantwor- tung! – Gesine Dräger und Uwe Grund beide SPD: Sie wollen die Bürger verhaften, um Ihre Miss- stände zu kaschieren!)

Sie haben sehr wohl in Ihrer Rede gesagt, Herr Kienscherf, es sei peinlich, die Bürger aufzufordern, mitzuarbeiten. Ich wiederhole hier noch einmal: Ich fordere alle Hamburgerinnen und Hamburger auf, hier Sensibilität zu zeigen zum Wohle der Kinder, die in Gefahr sind.

(Beifall bei der CDU – Dirk Kienscherf SPD: Die Verantwortung überzuwälzen, das ist peinlich!)

Das Wort erhält die Abgeordnete Ernst.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, wir führen hier in der Tat eine etwas seltsame Debatte. Ich bin erstaunt darüber, mit welcher Aggressivität,

(Bernd Reinert CDU: Ihrerseits stimmt das!)

mit welchen unwahren Behauptungen und herbeikonstruierten Spitzen hier gegen die Opposition argumentiert wird. Ich glaube, dass diese Aggressivität wenig mit dem zu tun hat, was die Opposition an Arbeit bei diesem Thema geleistet hat, sondern viel damit zu tun hat, dass Sie acht Monate, nachdem Jessica gestorben ist, vor der Situation stehen, dass Sie nichts in die Wege geleitet haben und es Kindern in dieser Stadt nach wie vor schlecht geht, die eigentlich die Hilfe des Staates brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben hier am 9. März mit einem großen Konsens diskutiert, als Jessica gestorben ist. Wir wollten auf die große Betroffenheit in der Stadt reagieren, dass in dieser Stadt so etwas passiert. Wir haben uns gemeinsam darauf verständigt, im Sonderausschuss zu arbeiten und uns Gedanken zu machen, wie wir hier besser werden können und wie wir unser Hilfesystem so verändern können, dass diese Kinder erreicht werden.

Ich meine, es gab auch einen Konsens zu sagen, dass Jessica die Spitze eines Eisberges war. Ich habe es so verstanden, dass der Konsens auch darin lag, dass wir diesen Eisberg erreichen wollen. Da reicht es nicht, Frau Senatorin, wenn Sie hier sagen, wir können nicht hinter die geschlossene Tür gucken. Wer so etwas sagt, verzichtet auf Aufklärung all der Kinder, die wir mit dem Bild des Eisberges versucht haben, zu erfassen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Auch wenn man Ihre Drucksache liest, finde ich wenig über die Debatten wieder, die wir im Ausschuss ganz

intensiv geführt haben. Wir haben uns immer wieder gefragt, wie wir diese Familien erreichen können. Da haben wir uns nicht mit Grundsatzerwägungen befasst, die Familie sei zuständig und der Staat könne nicht handeln. Uns interessiert, wie wir diesen Kindern helfen können. Der eine Weg, den wir besprochen haben, ist, dass wir etwas brauchen, womit wir alle Kinder ansprechen können. Da waren sich alle Expertinnen und Experten einig – auch der Kollege Weinberg, der Ihre Fraktion verlassen hat – und haben gesagt: Die Verbindlichkeit dieser U-Untersuchungen wäre das beste Instrument, um alle Kinder in dieser Stadt zu erreichen, damit sie wenigstens in bestimmten Abständen einmal beim Arzt vorgestellt werden. Wenn die Ärzte so geschult sind, dass sie Vernachlässigung erkennen können, dann wäre das ein wirksames Mittel. Sie haben aber in den letzten Monaten eine Posse um diese Forderung aufgeführt, die eigentlich konsensual war. Herr von Frankenberg, was Sie hier gesagt haben, war wirklich unwürdig. Unsere Fraktion hat an Ihren Fraktionsvorsitzenden einen Brief geschrieben mit der Bitte, diesen Antrag zu unterstützen. Sie haben uns zwei Monate mit falschen Aussagen hingehalten und uns Woche um Woche vertröstet und die Zustimmung der CDU-Fraktion in Aussicht gestellt.

Es findet sich in dem Antrag sogar eine Passage, die ausdrücklich auf Ihren Wunsch in diesen Antrag hineinformuliert wird und trotzdem können Sie sich hier nicht durchringen, diesem Antrag zuzustimmen. Ich bedauere das wirklich, weil wir bundesweit eine hohe Aufmerksamkeit haben, wie Hamburg nach diesem Todesfall reagiert. Ich glaube, es wäre eine angemessene Reaktion gewesen, wenn in der Stadt, in der Jessica zu Tode gekommen ist, diese Initiative ergriffen wird, die über Hamburg hinaus vielen Kindern in Deutschland helfen könnte und diese Chance haben Sie vertan.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich möchte über einen zweiten Debattenpunkt berichten, der auch nichts damit zu tun hat, dass die staatliche Hilfe an der Tür enden muss, was Unsinn ist. Wir haben diskutiert, wie wir Eltern erreichen können und sind übereingekommen, dass wahrscheinlich nicht alle gleichermaßen ihre Kinder vernachlässigen, sondern dass es bestimmte Risikogruppen gibt.

Die eine Risikogruppe taucht auch in den Fällen auf, die jetzt wieder diskutiert werden: Das sind suchtabhängige Menschen, das sind alkoholabhängige Menschen, das sind Menschen, die von harten Drogen substituiert sind. Diese Gruppe taucht besonders häufig auf, wenn es um Kindesvernachlässigung geht. Da ist unser Staatsverständnis, sich nicht damit zufrieden zu geben und zu sagen, wir können nichts machen, wenn kein Nachbar angerufen hat, die Hilfe endet an der Tür, sondern wenn wir Hinweise auf eine Suchterkrankung von Eltern haben, dann muss das ein Anlass für Jugendämter sein, von sich aus aktiv zu handeln. Dieser Gedanke findet sich überhaupt nicht in Ihren Überlegungen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Ein weiterer Punkt der Kooperation. Auch dazu haben Sie viel geschrieben, aber sie sind doch durch die Realität widerlegt worden. Die Fälle, die in Zeitungen zu lesen sind, sind dadurch entstanden, weil Behörden nicht in der Lage sind, die Akte von einem Bezirksamt zum anderen weiterzugeben. Das sind doch unhaltbare Zustände, über die wir uns schon vor acht Monaten entrüstet haben und

bei denen immer noch keiner versteht, warum das in dieser Stadt nicht abgestellt wird, Kinder durch das Netz fallen, weil eine Akte nicht von einem Bezirksamt zum anderen getragen wird und das finde ich unerhört.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich glaube, der letzte Punkt ist dann auch der kontroverseste. Wir sind davon überzeugt, dass wir vernachlässigten Kindern in dieser Stadt nur helfen können, wenn das Hilfesystem auch ausgebaut wird. Deshalb muss der Abbau von Ganztags-Kita-Plätzen, den Sie betrieben haben, rückgängig gemacht werden und müssen die Einrichtungen qualifiziert werden, um auch Eltern ein Angebot zu machen. Das ist das, was wir machen müssten und was auch in Großbritannien mit den Early Excellence Centern erfolgreich gemacht wird. Wir brauchen natürlich einen ASD, der in der Lage ist, die Probleme zu bewältigen. Wir haben uns im Ausschuss viel über die Arbeit des ASD angehört, die dort sehr positiv dargestellt wird. Alle, die mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt gehen und sich mit Einrichtungen von Kindern und Jugendlichen über die Arbeit des ASD austauschen, bekommen diese positive Rückmeldung nicht, Frau Senatorin. Sie haben im Ausschuss zugegeben, dass dort ein bestimmter Widerspruch ist. Dieses Thema gehen Sie nicht an. Stattdessen haben Sie den ASD-Mitarbeitern einen Maulkorb erteilt, damit darüber nicht im Ausschuss diskutiert werden kann. Sie haben mit Terminen getrickst, damit das nicht erörtert werden kann und damit fehlt erneut ein wesentlicher Baustein, mit dem Kindern in dieser Stadt besser geholfen werden könnte.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Zum Schluss will ich noch einmal sagen, dass sich der Prozess Jessica dem Ende nähert. Ich hätte es angemessen gefunden, wenn solch ein Vorschlag wie die U-Untersuchungen verbindlich zu machen zeitgleich mit dem Ende des Prozesses von diesem Parlament verabschiedet worden wäre. Sie werden sich in den nächsten Tagen von einer bundesweiten Öffentlichkeit fragen lassen müssen, was der Senat in den letzten acht Monaten getan hat und Ihre Bilanz sieht erschreckend aus.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort erhält die Abgeordnete Meyer-Kainer.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Schutz der Kinder vor Vernachlässigung und Gewalt ist die wichtigste Aufgabe des Staates, der Gesellschaft insgesamt. Es erfüllt uns alle mit Trauer und Entsetzen, dass es in unserer scheinbar so modernen Zeit, in der wir alle jederzeit erreichbar sind, Kinder gibt, die für uns nicht erreichbar sind, von deren Existenz und Leiden wir nichts wissen oder zu spät davon erfahren. Einseitige Schuldzuweisungen sind hier ebenso fehl am Platz wie der Verweis auf gute Taten. Wir sitzen alle in einem Boot und es gibt nur ein Ziel: Unsere Kinder mit aller Kraft und ohne Einschränkung zu schützen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren von der Opposition! Ich möchte nun auf einige Punkte eingehen, die Sie hier heute kritisieren. Stichwort: ASD. Der Senat hat die Personaldecke ASD mehrmals verstärkt.

(Dirk Kienscherf SPD: Das haben Frau Schnieber- Jastram und Herr von Frankenberg gesagt! – Bernd Reinert CDU: Das waren die Bezirksämter!)

Mit insgesamt 25 Stellen wurden die Jugendämter deutlich entlastet. Der Senat hat zudem im Rahmen der Neuausrichtung der Jugendhilfe 20 Stellen aus dem Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung in die Allgemeinen Sozialen Dienste verlagert und wird dem ASD darüber hinaus nochmals zehn Fachkräfte für zwei Jahre zusätzlich zur Verfügung stellen.

(Zuruf von Petra Brinkmann SPD: Wo kommen die denn her?)

Die Allgemeinen Sozialen Dienste sind damit heute deutlich besser ausgestattet als noch vor fünf Jahren. Die Besetzung der Stellen ist allerdings Sache der Bezirke. Wenn dann diese Stellen nicht besetzt werden, muss die Kritik die Bezirke treffen.

(Beifall bei der CDU – Dirk Kienscherf SPD: Rich- tig, die sind Schuld!)

Mindestens so wichtig wie die personelle Ausstattung sind aus meiner Sicht jedoch die Koordination der Abläufe und die Handlungsmöglichkeiten der einzelnen Dienststellen.

(Dirk Kienscherf SPD: Da haben Sie ja viel Erfah- rung!)

Informationen müssen so schnell wie möglich weitergeleitet werden und dürfen nicht etwa bei den Umzügen verloren gehen. Hier hat der Senat eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet, die längerfristig sicherlich ein ganz anderes Bewusstsein stärken und schaffen werden. Ich verweise exemplarisch auf die Einführung des Schulzwanges im Frühjahr dieses Jahres. Bis September wurde diese Regelung bereits 16 Mal angewandt. Wir werden zudem ab dem Schuljahr 2006/2007 ein zentrales Schülerregister einführen und den Datenaustausch mit den Familienkassen prüfen. Seit Oktober haben die Jugendämter bereits die Möglichkeit, zum Schutz des Kindeswohls auch gegen den Willen der Eltern aktiv zu werden.

(Dirk Kienscherf SPD: Sollen sie es mal machen!)

Auch die Träger sind entsprechend verpflichtet, Selbsthilfe zu leisten und das Jugendamt zu informieren. Akten, die Aufschluss über Kindeswohlgefährdung geben, müssen künftig in den Jugendämtern zehn statt bisher fünf Jahre nach der letzten Eintragung aufbewahrt werden.

(Dirk Kienscherf SPD: Das bringt es ja auch, wenn die da vergammeln!)

Zudem wird die Erreichbarkeit der Jugendämter durch die Einrichtung einer zentralen "Hotline Kinderschutz" verbessert, die 24 Stunden erreichbar ist. Auch die Kindergärten werden in das neue Schutzsystem einbezogen. Alle Kinder, die einen Kita-Gutschein aus Gründen des sozialen oder pädagogischen Bedarfs erhalten, werden in enger Vernetzung mit den Jugendämtern besonders beobachtet. Das sind nur einige Beispiele für Maßnahmen, die wir ergreifen werden, um Fälle der Vernachlässigung schneller und besser zu erfassen und den Betroffenen zu helfen. Darüber hinaus werden zum Teil schon bestehende Handlungsmöglichkeiten überarbeitet und die frühen Hilfen für Familien in Belastungssituationen weiterentwickelt.

Nun mögen Sie sagen, meine Damen und Herren von der Opposition, dies reiche alles nicht, denn schließlich reißen die Fälle nicht ab. Am Wochenende erreichte uns wieder eine Nachricht. Dazu nur so viel.

(Dirk Kienscherf SPD: Was sagt denn Herr Fischer dazu?)

Einen absoluten Schutz gegen Verletzungen des Kindeswohls kann es meines Erachtens nicht geben.

(Beifall bei der CDU)

Selbst ein absoluter Überwachungsstaat