Protokoll der Sitzung vom 12.04.2006

Abschließend noch ein Punkt, der mir sehr wichtig erscheint. Wir sollten, glaube ich, insgesamt noch einmal über die gesamte Struktur der Berufsvorbereitung nachdenken. Wir haben heute ein für Außenstehende kaum durchschaubares Konzept aus Maßnahmen nach SGB II, nach SGB III, nach SGB VIII, QUAS-B, BVS und dann noch die Berufsfachschulen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Differenzierung gar nicht so sehr den unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler dient, sondern mehr den unterschiedlichen Finanzierungsquellen geschuldet ist. Manchmal weisen wir Schüler auch eher nach Kapazitäten zu als nach den eigentlichen Qualifikationen. Nicht zuletzt glaube ich, dass die Frage, in welcher Maßnahme ein Schüler landet, nicht wenig davon abhängt, wo er sich beraten lässt. Ich weiß, dass die Bildungsbehörde, die ARGE und die Agentur für Arbeit sehr intensiv dabei sind, zumindest zu einer gemeinsamen Beratungsphilosophie zu kommen. Aber, ich glaube, gerade das HIBB, das wir nun gründen, bietet die Chance, wenn wir über Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den verschiedenen Behörden arbeiten, dass wir vielleicht das Thema, woher das Geld kommt, ein bisschen in den Hintergrund stellen können und mehr danach fragen, was die Schüler brauchen, das heißt mehr auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen, dort passgenau werden und weniger auf die formalen Anforderungen irgendwelcher bürokratischen Zusammenhänge. Das ist nicht einfach, weil Hamburg nicht immer alles alleine machen kann, aber einiges können wir vielleicht alleine machen. Ich glaube, darüber sollten wir reden und dann kommen wir auch einen Schritt voran. – Danke.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erhält die Abgeordnete Ernst.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte auch noch eine Anmerkung zu der Qualität der Großen Anfrage machen. Herr Heinemann, vielleicht stimmt es, dass Sie sie wirklich so schlecht finden,

(Robert Heinemann CDU: Das habe ich nicht ge- sagt!)

dass Sie deshalb nicht überwiesen werden soll. Aber eines hat Frau Goetsch gar nicht genannt. Sie schreiben im Vorspann, dass die Veränderung, die Sie bei den Berufsfachschulen vornehmen, der Grund sei, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den Berufsfachschulen in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Da hat die GAL die Frage gestellt, wie die denn zugenommen haben. Da findet die erstaunte Leserin eine Zeitreihe,

(Michael Neumann SPD: Leser auch!)

die exakt von 1996 bis zum Jahr 2000 reicht und dann endet sie abrupt. Dann gibt es noch mal aktuelle Daten. Das ist, finde ich, eine ziemlich beschämende Situation und zeigt, dass hier Politik gemacht wird, die nicht auf soliden Füßen steht und das zeigt einmal mehr, wie in dieser Behörde generell mit Zahlen umgegangen wird.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Herr Heinemann, Sie haben jetzt ein gewisses Problembewusstsein signalisiert. Ich finde nur, dass wir das, was Sie geschildert haben, seit mehreren Jahren wissen. Ich habe gerade versucht mich daran zu erinnern, wann das war, aber es hat, glaube ich, 2000/2001 einen Bericht des Rechnungshofs gegeben, der eine Analyse der Berufsfachschulen vorgenommen und festgestellt hat, dass es gigantisch hohe Abbrecherquoten gibt. Ich fand es damals schon beschämend, dass der Rechnungshof diese Analyse vorlegt und nicht die Bildungsbehörde selber dazu gekommen ist zu analysieren, was eigentlich an den Berufsfachschulen los ist.

Seitdem fordern viele in der Stadt, die sich mit dem Thema befassen, eine Stärken-/Schwächenanalyse. Sie werden sich erinnern, dieses Wort vielleicht schon einmal gehört zu haben. Wir werfen Ihnen wirklich vor – und das zeigt auch Ihr Debattenbeitrag heute –, dass Sie sich an eine überhastete Reform der beruflichen Schulen gemacht haben, wo es nur darum ging, die Verantwortung aus dem staatlichen Bereich Richtung Handelskammer zu lenken. Sie haben es in all den Jahren, seit 2001 vollständig versäumt, sich einen Überblick über die Probleme zu machen und zu konkreten Verbesserungsvorschlägen zu kommen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Deshalb ist Problembewusstsein schön, aber es wäre angemessen gewesen, wenn Sie diesen Beitrag, den Sie eben gehalten haben, vor fünf Jahren gehalten hätten.

Ich möchte noch etwas sagen. Wir diskutieren in Deutschland intensiv über die Gruppe der Risikoschülerinnen und Risikoschüler. Ich dachte eigentlich, dass wir uns zumindest in den demokratischen Parteien über eines einig sind: Wir lösen die Probleme nur, wenn es uns gelingt, diesen jungen Menschen in dieser Gesellschaft eine Perspektive zu bieten.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Bei dem, was ich gleich noch mal ausführen werde und was Sie nun durch Fakten geschaffen haben, machen Sie das genaue Gegenteil. Sie beschneiden Perspektiven, die Schülerinnen und Schüler durch den Besuch weiterführender Schulen jetzt noch hatten. Das, finde ich, ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Es sind rund 2000 Schülerinnen und Schüler, die in Hamburg einen Hauptschulabschluss haben, keinen guten Hauptschulabschluss, aber einen Hauptschulabschluss, der uns etwas Wert sein sollte. Diesen 2000 Schülerinnen und Schülern wird nun jedes Jahr gesagt: Ihr dürft nicht auf eine Schule gehen, wo ihr einen höherwertigen, einen weitergehenden Schulabschluss erhaltet. Das finde ich beschämend und ist angesichts der Debatte, die wir in Deutschland führen, überhaupt nicht nachzuvollziehen, dass Sie Ihre Politik genau in die falsche Richtung machen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich möchte auch noch einmal darauf hinweisen, dass Sie durch diese Maßnahme mal soeben einen Hauptschulabschluss erster Güte und zweiter Güte einführen. Ich weiß nicht, welchen Grund es gibt, diese Qualifizierung hier vorzunehmen. Es gibt den Hauptschulabschluss, mit dem man weitergehen darf und es gibt den Hauptschulabschluss, mit dem man nicht weitergehen darf. Auch dafür fehlt mir jegliches Verständnis.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich möchte Ihnen noch einmal ans Herz legen – auch unterstützend durch das, was Frau Goetsch argumentiert hat –, eine neue Studie, die bei "SPIEGEL ONLINE" begonnen wurde, zu zitieren, die das Berufsbildungsinstitut zusammen mit "FORSA" gemacht hat. Diese Studie zeigt sehr deutlich, dass nach wie vor ungebrochen viele junge Menschen einen Platz im dualen Ausbildungssystem haben wollen. Drei Viertel aller Hauptschüler wollen dies. Zwei Drittel aller Realschüler wollen unbedingt einen Platz im dualen Ausbildungssystem haben.

(Wilfried Buss SPD: Hört, hört!)

Gleichzeitig haben wir leicht sinkende Ausbildungsplätze. Das heißt, wir haben seit Jahrzehnten aufwachsend ein Problem, dass eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern mit nicht so guten Abschlüssen nicht in dieses duale System hineinkommt. Dieser Frage muss man sich strukturell irgendwann stellen und da sind die blumigen Worte, wir müssen das duale System stärken, nicht ausreichend, weil diese Gruppe systematisch den Zugang nicht schafft, und zwar seit vielen, vielen Jahren.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Frau Goetsch hat es gesagt, besonders betroffen sind Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Situation sich in den letzten Jahren unglaublich verschärft hat. Da wundert man sich auch nicht über die öffentliche Debatte, die wir in der Aktuellen Stunde zur Rütli-Schule leider nicht geführt haben, aber die Zusammenhänge liegen für die, die ein bisschen nachdenken können, absolut auf der Hand. Ich denke, notwendig wäre, einfach zu akzeptieren, dass es eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern gibt, denen der Zugang in das duale System nicht gelingt und die trotzdem eine berufliche Qualifizierung brauchen. Der Weg, den wir in Deutschland haben, sind die Berufsfachschulen.

Die Reform des Berufsbildungsgesetzes in Deutschland hat noch einen weiteren Weg möglich gemacht, der sehr gut wäre, nämlich die Abschlüsse an diesen Berufsfachschulen mit einer Kammerprüfung zu versehen und davon fehlt bei Ihnen Vieles. Ich weiß, dass die Senatorin dieses möchte und das unterstützen wir als SPD-Fraktion sehr, auch wenn ein Antrag, der dazu von uns eingebracht wurde, abgelehnt wurde. Ich kann aber nicht erkennen, wie Sie in Hamburg diesen Weg gehen wollen. Das wäre ein Schritt, wenn Sie sagen würden, Sie erreichen es mit der Wirtschaft in Hamburg, für bestimmte berufsschulische Ausbildungsgänge eine Kammerprüfung vorzusehen. Dann würde den Jugendlichen konkret eine Perspektive eröffnet werden und sie hätten einen Abschluss, der etwas Wert ist. Sie machen das genaue Gegenteil. Sie verwehren einer großen Gruppe überhaupt den Zugang in diese Schulen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Diese 2000 Jugendlichen sollen ein bisschen modularisiert ein Berufsvorbereitungsjahr light machen. Es gibt kein Konzept und keine Vereinbarung mit der hamburgischen Wirtschaft, die irgendwie den Übergang gewährleistet und das zeigt, wie weit entfernt Sie von konkreten Lösungen sind.

Ich will noch etwas anderes aufzeigen, das mich sehr geärgert hat. Sie machen nicht nur die Zugangsbeschränkung über die Note 3,3, sondern Sie sagen auch, künftig dürfe nicht in eine Berufsfachschule gehen, der älter als 20 Jahre ist. Das ist eine ungeheuerliche Beschränkung. Informieren Sie sich doch einmal in Hamburg, wie alt diejenigen sind, die überhaupt den Hauptschulabschluss machen. Röbbeck haben Sie vielleicht nie besucht. Dort sind junge Männer, die eine Drogenkarriere durchbrochen haben, die sind Anfang 20. Da sind junge Frauen, die mit 15 Jahren das erste Kind bekommen haben, mit 18 Jahren das zweite und sich mit 20 Jahren berappeln und einen Hauptschulabschluss machen und die Schwierigkeiten haben werden, ins duale System zu gehen. Dann kommen Sie daher und sagen: Es gibt keine staatliche Berufsausbildung in Hamburg mehr. Das ist doch ein ungeheuerlicher Skandal, was Sie den Schwächeren hier in Hamburg aufbürden.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Ich möchte Ihnen noch eine andere Zahl nennen, die wir über das Hauptschulprojekt in Hamburg erfahren haben, die eigentlich Ihre Realitätsferne zeigt. Raten Sie einmal, wo das Durchschnittsalter in Hamburg beim Eintritt ins duale System liegt. Das liegt bei 20 Jahren. Das heißt, dass das, was bei den Stärkeren geht, auch hier den Schwächeren verwehrt wird. Ich kann nur sagen, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht in einer Gesellschaft leben möchten, in der schon Zwanzigjährige keine Chance mehr haben sollen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Ich möchte zum Schluss sagen, dass Sie sich in einer gewissen Art und Weise treu geblieben sind, weil sich das, was Sie hier machen, in eine Reihe einfügt. Sie haben 2002 die FOS 11 – daran erinnern sich vielleicht einige – geschlossen. Das war die Möglichkeit für Realschüler, durch eine weiterführende Schule ein Fachabitur zu machen, um vielleicht zu studieren. Diesen Bildungsgang haben Sie ersatzlos gestrichen und damit im Übrigen den Nebeneffekt erzielt, dass diese Schüler in die Berufsfachschule gegangen sind, wo sie jetzt zu viele Schüler beklagen.

Das Zweite, was Sie 2005 gestrichen haben, ist die Möglichkeit, in der Volkshochschule in Röbbeck den Hauptschulabschluss zu machen, wo 300 Schülerinnen und Schüler auf der Warteliste standen.

Das Dritte, was jetzt passiert, ist mal eben eine Rechtsverordnung, den Schülerinnen und Schülern, die einen schwachen Hauptschulabschluss haben, den weitergehenden Besuch von Schulen zu verweigern. Ich kann Ihnen nur sagen: Sie halten Sonntagsreden, wenn es um schwierige Schüler geht, aber mit dem, was Sie hier machen, sind Sie Hauptakteur, wenn es darum geht, Chancen zu beschneiden.

(Lang anhaltender Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort erhält die Senatorin Dinges-Dierig.

Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Eines vorweg, Frau Ernst, Chancen sind für mich nur dann echte Chancen, wenn sie nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern auch in der Realität vorhanden sind.

(Beifall bei der CDU – Dr. Mathias Petersen SPD: Deswegen streichen Sie sie gerade!)

Berufsfachschulen, und zwar heute die teilqualifizierenden Berufsfachschulen, sind für die Zukunft tausender junger Menschen in Hamburg, aber auch in anderen Ländern von hoher Bedeutung. Sie haben Erwartungen an diese Schulform, inhaltlich, aber natürlich auch an ihren Abschluss.

Eben wurde gesagt, es gäbe keine Anfängerzahlen. Es gibt natürlich Zahlen, die sich fortlaufend ändern. Wir erleben immer wieder ein Raus und Rein bei dieser Schulform. Wir haben aber einen deutlichen Anstieg und sind momentan bei knapp 4000 im Jahr.

Was kommt jetzt? Jetzt kommt der große Chancenreichtum. 30 Prozent der Anfänger scheitern im Probehalbjahr. Nach zwei Jahren kommen nicht mehr 50 Prozent an.

(Doris Mandel SPD: Aber 50 Prozent ist doch ein großer Gewinn!)

Ich frage mich, was ist das für eine Chance für Schülerinnen und Schüler, mit welchen Erwartungen und Hoffnungen sind sie gekommen und welche Frustrationserlebnisse müssen diese jungen Menschen jetzt verarbeiten. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, dass wir die teilqualifizierende Berufsfachschule verändern, und zwar in mehrerer Hinsicht verändern.

(Doris Mandel SPD: Unglaublich!)

Weil es vielleicht nicht alle wissen, Frau Ernst, Sie sagten eben auch, die teilqualifizierende Berufsfachschule sei eine staatliche Berufsausbildung. Das ist sie gerade nicht. Eine teilqualifizierende Berufsfachschule hat als Eingangsvoraussetzung einen Hauptschulabschluss und sie heißt teilqualifizierende Berufsfachschule, weil sie in einem ganz bestimmten Berufsfeld berufliche Teilkompetenzen vermittelt. Damit haben die Schüler, wenn sie denn den Abschluss schaffen, große Vorteile gegenüber Mitbewerbern, vor allem dann, wenn sie sich in affinen Berufsfeldern bewerben.

Gleichzeitig erwerben sie mit dem Abschluss den mittleren Bildungsabschluss. Damit steigen auch die Chancen auf ganz bestimmte Ausbildungsgänge, aber was vielleicht noch wichtiger ist, sie haben damit auch die Möglichkeit, in weiterführende Bildungsgänge zu wechseln, zum Beispiel auch auf das Wirtschaftsgymnasium.

Deshalb ist für mich die teilqualifizierende Berufsfachschule eine sehr wichtige Schulform für unsere Durchlässigkeit. Wir brauchen sie, damit es nach jedem Abschluss einen Anschluss in verschiedene Richtungen gibt. Wir müssen dieses fördern.

(Beifall bei der CDU)

Die Neuausrichtung der Berufsfachschule hat nicht nur einen inhaltlichen Punkt. Für mich stehen zunächst einmal die Abbrecher im Vordergrund, die wir Jahr und Jahr