Wenn Sie jetzt hingehen und die Listenstimmen abschaffen, dann versetzen Sie dem volksbeschlossenen Wahlrecht in einem wesentlichen Bereich den Todesstoß.
Ich habe in den letzten Tagen vereinzelt gehört, es wäre dadurch gerechtfertigt, wenn einige von denjenigen, die dieses Wahlrecht initiiert haben, gesagt hätten, das wäre richtig. Vielleicht muss man noch einmal sehr deutlich sagen, dass in dieser Stadt die Wähler ein Wahlrecht geschaffen haben und nicht die Volksinitiative. Nicht die Volksinitiative hat irgendein Recht, durch irgendwelche Funktionäre erklären zu lassen, sie wüssten es besser, sondern die Menschen in dieser Stadt haben sich ein System gegeben und dieses System sah das Nebeneinander von Listen– und Personenwahlen vor. Das wollen Sie jetzt abschaffen, liebe Kollegen der GAL, und das, lieber Kollege Sarrazin, müssen Sie den Menschen in dieser Stadt erklären.
Liebe Kollegen, dieses Wahlrecht aus Niedersachsen bietet eine realistische Chance für die Wähler, dort in den Listen einzugreifen, wo sie es für geboten halten.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit ein Märchen aus der Welt schaffen. Die Erfolgsaussichten für Veränderungen, die von der Mehrheit der Wähler gewollt sind, sind ausgesprochen gut. Gewinnt eine Partei zwei Mandate - das erhoffen sich zumindest die beiden großen Parteien in diesem Parlament -, dann braucht man für das Gewinnen eines Personenmandats 25 Prozent plus eine Stimme. Gleichzeitig wissen wir durch die Anhörung im Verfassungsausschuss, dass in der Regel circa 40 Prozent der Wähler in Großstädten Panaschieren und Kumulieren wahrnehmen. Also dort, wo es zwei Mandate für eine Partei gibt, wird in der Regel eines davon ein Personenmandat sein.
Nun zu behaupten, das wäre Vorgaukeln einer falschen Wahlmöglichkeit, ist schlichtweg falsch. Sie haben es nicht begriffen, das ist Ihr Problem.
Sie haben deshalb ein Problem, weil Sie behaupten, es hätte keine Auswirkungen. Was steckt dahinter? Es steckt, was Herr Müller eben schon angesprochen hat, die vermeintliche Analyse von wahlrecht.de und election.de dahinter. Die gehen davon aus, dass die Wähler grundsätzlich die Nummer eins auf der Liste wählen und der Kandidat/die Kandidatin, die auf Platz eins einer Wahlkreisliste stehen, die meisten Personenstimmen bekommen. Sie halten den Wähler, dem Sie zunächst zubilligen - wie ich finde, zu Recht -, er nehme seine Auswahlmöglichkeit differenziert und klug wahr, im nächsten Schritt aber für so dämlich, dass er grundsätzlich nur das tut, was die Parteien ihm vorschreiben. Sie erzählen den Hamburger Wählern, eigentlich, lieber Wähler, du bist zu doof für dieses Wahlrecht, weil du immer nur die Nummer eins wählst.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es nicht so sein wird. Die Hamburger Wähler werden sehr klug entschei
den. Sie werden diejenigen Kandidaten mit ihren Personenstimmen auswählen, die sie persönlich für die richtigen Kandidaten halten, sei es die Nummer eins, zwei, drei oder zehn, und das ist der entscheidende Punkt. Wenn sie das tun, dann wird es in sehr vielen Wahlkreisen in der nächsten Bürgerschaft Abgeordnete geben, die in der Tat von den Wählern direkt, und zwar vorbei an jeder Parteiliste und Reihenfolge, entsandt werden. Wir glauben fest daran, dass das so ist und wenn Sie glauben, dass die Wähler nur die Spitzenkandidaten wählen, dann trauen Sie den Wählern in dieser Stadt wenig zu. Das müssen Sie verantworten, wir glauben etwas anderes.
Ich finde es auch interessant zu sehen, was mit dem Modell der GAL passiert, wenn man von dieser Grundannahme von election.de und wahlrecht.de ausgeht, es werde immer nur die Nummer eins gewählt, weil der Wähler so einfältig sei, immer nur die Nummer eins zu wählen. Ihr Modell führt absolut zu keinen Veränderungen, denn bei allen Prognosen haben Sie die Chance, in ungefähr acht Wahlkreisen ein Mandat zu gewinnen. Und was passiert? Achtmal gewinnt Ihr Spitzenkandidat und alle Kandidaten jenseits der Nummer eins sind Makulatur, sind reine Staffage und würden nach Ihren eigenen Prognosen, die Sie bei der Bewertung unseres Systems zugrunde legen, absolut ins Leere laufen. Sie streuen mit Ihrem System den Menschen in dieser Stadt Sand in die Augen, denn das führt bei Ihren Annahmen zu keinen Veränderungen.
Aber ich will auch eines klarstellen. Wenn die Mehrheit der Wähler in einem Wahlkreis die Personenstimmen für die Nummer eins der Liste abgibt - das mag gelegentlich so sein, wenn die Parteien in ihrem Auswahlprozess weise und klug sind -, dann muss das auch bei der Entscheidung entsprechend berücksichtigt werden.
Es kann nicht sein, dass der Wähler Platz eins mit den meisten Personenstimmen versieht, dann aber durch einen willkürlichen Kunstgriff wieder ausgehebelt wird, indem man sagt, derjenige, der die meisten Stimmen hat und zufälligerweise auf Platz eins steht, ist gar nicht mehr der Wahlkreiskandidat mit den Personenstimmen, das ist jetzt wieder der Listenkandidat. Sie hebeln mit Kunstgriffen das Wählervotum aus
und da sind wir bei dem Unterschied zwischen dem, was wir Ihnen heute vorschlagen und dem, was die Kollegen der SPD–Fraktion präferieren, nämlich dem Bremer Modell. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Modellen besteht darin, dass wir deutlich sagen, wenn tatsächlich derjenige Kandidat mit den meisten Personenstimmen auch derjenige sein sollte, der auf Platz eins steht, der Kandidat, der mit den meisten Personenstimmen ausgestattet ist, der Personenkandidat des Wahlkreises und nicht der Listenkandidat ist; bei der SPD ist es andersherum. Sollte es so sein, dass der Wähler in dieser Stadt differenziert von seinem Wahlrecht Gebrauch macht und sagt, der– oder diejenige Kandidatin auf Platz fünf bekommt die meisten Personenstimmen, dann ist der Unterschied zwischen Bremen und Niedersachsen gleich null, das muss man hier einmal ganz deutlich sagen. Dieser Kunstgriff, der in Bremen angewandt worden ist, um das Wählervotum im Nachhinein
- Ich bin ganz sicher, dass man das in meiner Fraktion verstanden hat. Dass die GAL–Fraktion es nicht verstanden hat, hat man bei dem Beitrag von Herrn Müller sehr deutlich gemerkt, liebe Kollegen.
Mit dieser von uns vorgelegten Wahlrechtsmodifikation werden wir die schweren Fehler des volksbeschlossenen Gesetzes beseitigen. Wir bekommen ein bewährtes und verfassungssicheres Wahlgesetz, das einen sinnvollen Ausgleich zwischen politischer Stabilität durch Mitwirkung der Parteien gemäß unserem Grundgesetz und gewollter, deutlich erhöhter Einflussnahme des Wählers auf seine Wahlkreisabgeordneten darstellt.
Eine Bemerkung sei mir zum Schluss noch erlaubt, auch wenn sie heute nicht mehr Gegenstand der eigentlichen aktuellen Debatte ist. Diese deutlich erhöhte Einflussnahme des Wählers verdient auch eine angemessene Wahlkreisgröße. Wer von den Kandidaten verlangt, sich in Wahlkreisen mit bis zu 120 000 Einwohnern bekannt zu machen, der will nicht wirklich, dass der Wähler in der Lage ist, eine differenzierte Personenentscheidung abzugeben. Der überfordert sowohl den Wähler als auch den Kandidaten in vielen Bereichen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich wünsche mir, dass wir über diesen Aspekt des Wahlrechts nach einer Wahl vielleicht mit ein bisschen mehr Ruhe noch einmal erneut diskutieren. Wir werden in Hamburg kleinere Wahlkreise brauchen, damit wir ein wählerfreundliches Wahlrecht für alle bekommen und nicht nur für wenige Leute.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Voet van Vormizeele, wenn Sie jetzt anfangen, sich vor den Volksentscheid zu stellen und ihn hochzuhalten, dann kann einem schon Angst und Bange werden. Der Volksentscheid hat andere Leute verdient, die an der Seite der direkten Demokratie stehen.
Warum müssen wir uns heute wieder mit diesem Thema befassen? Es geht darum, dass Sie mit Ihrem im letzten Herbst beschlossenen Wahlrecht die Verfassung gebrochen haben, und zwar mit Ihrer Relevanzschwelle. Das ist der Grund, warum wir heute diese Korrektur vornehmen müssen. Das sollte man an der Stelle nicht unter den Tisch fallen lassen.
(Dr. Manfred Jäger CDU: Das mache ich auch! - Dr. Till Steffen GAL: Der ist so nervös!) - Er kann es nicht abwarten. Mit dem Kumulieren und Panaschieren war eine Mitwirkung der Bürger gewünscht. Sie haben diese mit der Relevanzschwelle faktisch wirkungslos gemacht. Einige können sich auch noch an die mündlichen Verhandlungen vor dem Verfassungsgericht erinnern. Die Prognose von wahlrecht.de hat bei den Verfassungsrichtern wirklich Eindruck gemacht, weil sie nachvollzogen haben, was von der Mitwirkung der Wähler übrig bleibt, wenn das Gesetz bleibt, das Sie vorgeschlagen haben. Das ist nicht der Fall und das Verfassungsgericht hat es Ihnen ganz deutlich ins Stammbuch geschrieben; ich will die Urteilspunkte nicht noch einmal zitieren. (Kai Voet van Vormizeele CDU: Ach, schade!)
Ich kann es gerne noch einmal nennen, zwei Begriffe waren besonders bezeichnend. Wenn ein Verfassungsgericht einer Regierungsmehrheit Irreführung und Intransparenz ins Stammbuch schreibt, dann ist das so ziemlich die größte Ohrfeige, die ein Verfassungsgericht einer Regierungsmehrheit geben kann; das sollten Sie sich einmal merken.
Die Verbindlichkeit von Volksentscheiden ist weiterhin ein offener Punkt. Das ist ein Wermutstropfen, über den Sie sich freuen, was wir aber ausdrücklich bedauern. Das Volk selbst kann jetzt nur noch den Volksentscheid in der Verbindlichkeit retten, die Sie faktisch abgeschafft haben - siehe LBK, siehe Wahlrecht. Da können wir den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt nur noch zurufen: Nutzen Sie im Herbst die Chance, stärken Sie den Volksentscheid.
Das Verfassungsgericht hat uns Hausaufgaben aufgegeben und wir haben die in bemerkenswerter Schnelligkeit hinbekommen. Noch vor der Sommerpause liegen drei Gesetzentwürfe vor: ein Entwurf der CDU, einer von der GAL, der heute noch einmal zur Abstimmung gestellt wird, und im Ausschusspetitum steht unser Entwurf mit drin. Die CDU hat etwas vorgelegt, was zugegebenermaßen äußerst schwer zu verstehen ist. Den Wortlaut der Norm muss man sehr lange lesen, um ihn verstehen zu können. Trotzdem ist - das will ich an der Stelle nicht bestreiten, das hat auch unser Prozessvertreter beim Verfassungsgericht gesagt - dieser Vorschlag mit der Verfassung vereinbar; das gehört zur Vollständigkeit dazu. Da haben Sie immerhin einen Fortschritt erreicht und bei dem Thema "direkte Demokratie" etwas vorgelegt, das die Verfassung wahrt. Dazu kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch.
Eine vernünftige Rechtsberatung hatten Sie nämlich bei den anderen Gesetzen bisher nicht. Das ist ein bisschen unter den Teppich gefallen, aber Sie haben uns eine zweite Drucksache auf den Tisch gelegt, die Drucksache 18/6340, in der auf mehreren Seiten ausführlich alle Fehler, die Sie im Herbst beim Wahlrecht gemacht haben, jetzt im Windschatten mit ausgebügelt werden. Ihr Gesetz, das Sie im Herbst beschlossen haben, wo Sie im
Laufe des Gesetzgebungsverfahren x–mal nachgebessert haben, hat nicht einmal eine Halbwertszeit von einem Jahr, sondern Sie mussten an fast einem Dutzend Stellen Korrekturen vornehmen. Das ist wirklich peinlich und zeigt, dass Sie Murks vorgelegt haben.
Kommen wir jetzt zu dem niedersächsischen Modell, das Sie vorgelegt haben. Das Problem Ihres Entwurfs ist, dass die Möglichkeit der Wähler, real die Liste zu verändern, faktisch gleich null sein wird, denn der Wähler will nicht jemanden von Platz zehn auf Platz acht nach vorne wählen, sondern er will entweder jemanden ins Haus hinein– oder herauswählen.
Das ist mandatsrelevant und election.de, aber auch wahlrecht.de haben sehr genau nachgewiesen, dass diese Möglichkeit nicht eintritt. Natürlich haben die Leute die theoretische Möglichkeit, aber es geht auch darum, faktisch etwas zu bewirken. Deshalb sollten Sie nicht immer herumtheoretisieren, sondern sehen, was für den Wähler dabei herauskommt und das ist bei Ihnen verdammt wenig, Herr Voet van Vormizeele.