Protokoll der Sitzung vom 03.03.2010

Diese Einigkeit ist nicht von ungefähr gekommen. Wir hatten zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager: Die Befürworter der bestehenden Schulstruktur, insbesondere der Gymnasien, und diejenigen, die gesagt haben, dass wir längeres gemeinsames Lernen brauchen, um ein gerechteres, allen Kindern optimale Chancen bietendes Schulsystem schaffen zu können. Die Einigung heute haben wir nur erlangt, weil beide Seiten bereit waren, von Maximalforderungen abzuweichen. Wir wollen gemeinsam vorankommen und unser Schulsystem verändern, von dem wir alle wissen, dass es sich im europäischen Vergleich als nicht leistungsstark erwiesen hat und dass es unseren Kindern keine optimalen Zukunftschancen gewährleistet.

Einen Schulfrieden kann es nur dann geben, wenn alle Seiten zu einem Kompromiss bereit sind und aufeinander zugehen, um gemeinsam ihre Anstrengungen darauf zu richten, unser Schulsystem gerechter und leistungsstärker zu machen. Das ist uns im Hinblick auf die Primarschule gelungen. Ich würde mir wünschen, dass wir diesen wichtigen und notwendigen Weg auch in Zukunft weiter gemeinsam gehen.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Wir haben eine parteiübergreifende Vereinbarung, die auch von vielen Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt gefördert und unterstützt wird. Einen Schulfrieden haben wir damit noch nicht.

Ich möchte darauf verweisen, dass es vielleicht keine andere Reform gegeben hat, die so intensiv beraten wurde – in den Regionalen Schulkonferenzen, in wochenlangen Verhandlungen mit der Initiative "Wir wollen lernen!" und zuletzt in den Gesprächen mit der SPD – und die sich, seit der ursprüngliche Gesetzesentwurf der schwarz-grünen Koalition verabschiedet wurde, so deutlich verän

dert hat. Wenn ich mir anschaue, wie sehr sich dieses Schulgesetz weiterentwickelt hat, dann kann ich nur an Sie, Herr Dr. Scheuerl, Herr Sielmann und Herr Bertheau als die drei Vertrauenspersonen von "Wir wollen lernen!" appellieren, dass Sie sich Ihre hohe Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder und den Schulfrieden in dieser Stadt bewusst machen. Die Gründe, die Sie veranlasst haben, die Änderungen des Schulgesetzes abzulehnen, haben sich erledigt. Unser Arm bleibt ausgestreckt. Ergreifen Sie die Chance zu einem Schulfrieden, um unser Schulsystem besser, gerechter und leistungsfähiger zu machen. Diese einmalige Chance darf nicht verstreichen.

(Beifall bei der GAL, der CDU und der SPD)

Ob das gelingt, liegt in Ihren Händen. Wir haben viele Wochen zusammengesessen – ich bin da relativ skeptisch. Lassen Sie mich darum auch etwas zu den Eltern in dieser Stadt sagen. Worüber streiten wir jetzt eigentlich noch?

Wir haben verstanden, dass die Einschränkung des Elternwahlrechts ein Fehler war, den wir bedauern und den wir korrigiert haben. Das neue Elternwahlrecht bietet sogar mehr als alte, seit Jahrzehnten etablierte. Wenn ein Kind einmal die für das Gymnasium erforderliche Leistungsfähigkeit nachgewiesen hat, kann es gegen den Willen seiner Eltern nicht mehr abgeschult werden. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich dann nicht mehr mit der Frage beschäftigen, auf welche Schulform ein Kind gehört und ob es abgeschult werden sollte, sondern können sich darauf konzentrieren, wofür sie eigentlich da sind: den Kindern etwas beizubringen und ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, um sich gute Zukunftschancen zu erobern. Das hat es im alten System nicht gegeben. Auch nach der Orientierungsstufe haben viele Kinder das Gymnasium verlassen müssen, auch in den Jahrgangsstufen 8, 9 und 10. Ich selber bin mit 32 Mitschülern auf dem Gymnasium gestartet und am Ende haben nur neun von ihnen mit mir gemeinsam das Abitur gemacht. Kein Sitzenbleiben, kein Abschulen und darüber hinaus werden die Eltern durch das neue Schulgesetz viel mehr Einfluss bekommen, als das in der Vergangenheit jemals der Fall war – das ist wichtig, auch für Sie, Herr Dr. Scheuerl.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Über kleinere Klassen, mehr und besser ausgebildete Lehrer und individuellen Unterricht, der jedes einzelne Kind, das schwächere und das stärkere, so fördert, dass es bessere Leistungen erzielt, brauchen wir doch nicht zu streiten. Das ist ein Angebot, das deutlich macht, dass Hamburg mitten in der größten Wirtschaftskrise bereit ist, sehr viel Geld zu investieren und große Anstrengungen zu unternehmen, um das Beste für unsere Kinder zu erreichen. Das ist ein großer Fortschritt für die Schulen. Wir haben viele, viele Jahre auf ihn ge

wartet und sollten diesen Schritt jetzt endlich auch gemeinsam gehen.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der CDU)

Lassen Sie uns nicht weiterhin Debatten über die Schulstruktur führen, sondern mit der von uns vorgeschlagenen hervorragenden personellen und finanziellen Ausstattung der Schulen endlich das tun, was notwendig ist, um unseren Kindern die besten Chancen zu gewähren. Es ist doch nicht genug, mit der Einführung der Primarschule nur das zu erreichen, was in anderen europäischen Ländern schon längst üblich und Standard ist. Wir müssen alles tun, um besser zu werden, um bei künftigen Pisa-Vergleichen nicht nur gleichzuziehen, sondern tatsächlich besser zu sein. Nur dann haben unsere Kinder in einer sich globalisierenden Wissensgesellschaft in Zukunft eine Chance. Darum lassen Sie uns nicht mehr die alten Schlachten der Vergangenheit schlagen. Lassen Sie uns endlich gemeinsam mutig und beherzt vorangehen und über bessere Unterrichtskonzepte streiten.

Wir haben in diesem Hause ein Einvernehmen darüber, dass wir viel Geld investieren müssen, um unser Schulsystem besser, gerechter und leistungsfähiger zu machen. Ich würde mir sehr wünschen, dass diese Chance auf einen Schulfrieden nicht ungenutzt verstreicht und wir einen großen Schritt vorankommen, hin zu besseren Schulen für unsere Kinder und für eine gute Zukunft. – Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das Wort bekommt die Abgeordnete Dora Heyenn.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Vor gut 90 Jahren fand in diesem Saal in der Bürgerschaft schon einmal eine große Debatte zur Schulstruktur statt. Die Fraktion DIE LINKE hat dazu eine Festveranstaltung gemacht, und zwar zum Gesetz betreffend die Einheitsschule, im letzten Jahr im Kaisersaal. 1919 hat die Hamburgische Bürgerschaft die bis dahin üblichen Vorschulen und damit die Aufteilung der Kinder schon ab Klasse 1 abgeschafft und stattdessen die Grundschule als eine Schule für alle eingeführt. Bestandteil der Gesetzesänderung war ebenfalls die Einführung der Lehr- und Lernmittelfreiheit. Wie wir heute sehen, sind das immer noch aktuelle Fragen.

(Beifall bei der LINKEN und der GAL)

Damals wurden folgende Argumente dagegen ins Feld geführt: Erstens dürfe man nichts übereilen, man müsse sich Zeit lassen, zweitens sei die Reform zu teuer, drittens dürfe es nicht so viele Gebildete geben, weil man auch Dienstboten brauche

und viertens würden die Kinder der unteren Klassen die Kinder der besseren Schichten verderben.

(Erste Vizepräsidentin Barbara Duden über- nimmt den Vorsitz.)

Ich nehme an, auch Ihnen kommt einiges, bezogen auf die heutige Auseinandersetzung in der Stadt über die Einführung der sechsjährigen Primarschule, bekannt vor.

Eines steht fest: Die Grundschule ist die erfolgreichste Schule Deutschlands, wie zuletzt die internationale Grundschul-Leseuntersuchung gezeigt hat. Sie ist auch die erfolgreichste Schule in Hamburg. Und wenn sie jetzt um zwei Jahre verlängert wird, bis 2012 verbindlich und flächendeckend in Hamburg eingeführt wird, dann kann das nicht schlecht sein.

(Beifall bei der LINKEN, der GAL und verein- zelt bei der SPD)

Wir von der LINKEN sehen das als Schritt in die richtige Richtung, wenn es auch nur ein kleiner ist. Wir wollen mehr, wir streben ein einheitliches, demokratisches Bildungswesen bis zur Klasse 10 an; das ist kein Geheimnis.

Es hat zwei Volksbegehren in Hamburg gegeben, eines zur Einführung der Schule für alle, das war nicht erfolgreich, und eines, damit alles so bleibt, wie es ist, und das war sehr erfolgreich.

Die Initiative "Wir wollen lernen!" hat 184 500 Unterschriften gesammelt. Gerade deswegen begrüßen wir, dass das Volksbegehren, als Mittel der direkten Demokratie vorgesehen, in einen Volksentscheid mündet. Es ist aus unserer Sicht an der Zeit, dass die Hamburgerinnen und Hamburger darüber entscheiden, wie die Schule in Hamburg in Zukunft aussehen soll.

Für uns ist es unverständlich, wie man mit der jetzigen Situation für die Kinder und Jugendlichen in Hamburg zufrieden sein kann. Es gibt zu viele Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, es gibt zu viele Schülerinnen und Schüler, die beim Übergang von der Schule in den Beruf auf der Strecke bleiben. Sie erhalten keinen Ausbildungsplatz, sie werden als ausbildungsunwillig oder als ausbildungsunfähig aus der Vermittlung und der Statistik herausgenommen.

Hinzu kommt, dass bei gleicher Leistung Kinder in Hamburg, die mindestens ein Elternteil haben, das Akademiker ist, eine 4,5mal höhere Chance haben, auf ein Gymnasium zu kommen als Kinder, deren Eltern keine Akademiker sind. Nach der Lernausgangslagenuntersuchung LAU müssen Kinder, deren Väter keinen Schulabschluss erworben haben, 97 Leistungspunkte vorweisen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, und ein Kind, dessen Vater das Abitur hat, braucht nur 65 Leistungspunkte. Das ist ein unfaires und ungerechtes System.

(Jens Kerstan)

(Beifall bei der LINKEN, der GAL und verein- zelt bei der SPD)

Und dieses System will die Initiative "Wir wollen lernen!" erhalten. Im Schulausschuss hat Herr Scheuerl in einer PowerPoint-Präsentation die Probleme der Hauptschüler besonders herausgestellt und seine Sorgen um diese Jugendlichen vorgetragen. Ein Blick in den Text des Volksbegehrens zeigt allerdings, dass es ihm nur um die Verhinderung der sechsjährigen Primarschule, um den Erhalt der vierjährigen Grundschule und um den Elternwillen nach der vierten Klasse geht. Die Scheuerl-Initiative will, dass alles so bleibt, wie es ist, auch für die Hauptschüler. Seine Sorgen sind nur vorgeschoben, seine Angriffe gegen Initiativen und Personen ehrverletzend und alles andere als hanseatisch. Der Bürgermeister Ole von Beust hat auf die Massenmails hingewiesen, das ist ein weiterer Punkt.

Der Senat und die ihn tragenden Parteien haben die beiden Oppositionsparteien SPD und DIE LINKE mit ins Boot geholt, um zu erreichen, dass über einen Volksentscheid längeres gemeinsames Lernen bis zur sechsten Klasse nicht verhindert wird.

Für DIE LINKE ist dieser Schritt nur konsequent. Während der ganzen Debatte um das neue Schulgesetz haben wir unsere differenzierte Haltung immer deutlich gemacht. Und bei der Abstimmung in der Bürgerschaft haben wir letztes Jahr auch mit einem klaren und einheitlichen Ja für die Primarschule gestimmt. Gleichzeitig haben wir darauf hingewiesen, dass die Ausstattung der Schulen und die Bedingungen für gemeinsames Lernen verbessert werden müssen.

Der Senat hat heute einen Änderungsantrag eingebracht, der diesen Bedenken Rechnung trägt. Wir begrüßen insbesondere, dass mit der weiteren Absenkung der Klassenfrequenzen mehr Lehrerinnen und Lehrer in die Schulen kommen. Zwingend notwendig ist auch, die Sorgeberechtigten bei der Reform mitzunehmen.

Es gab in den Verhandlungen mehrere Vorschläge, wie das Elternwahlrecht beim Übergang von Klasse 6 in Klasse 7 geregelt werden kann. Intensive Diskussionen haben eine Einigung ergeben in der Version, die Ihnen vorliegt.

(Michael Neumann SPD: Da waren Sie gar nicht dabei!)

Auch hier wären wir gern weitergegangen. Wir hätten es gern so geregelt, dass Schülerinnen und Schüler nur mit Zustimmung der Eltern abgeschult werden dürfen. Damit konnten wir uns leider nicht durchsetzen. Und nun stellt die siebte Klasse im Grunde eine Orientierungsstufe dar, an deren Ende entschieden wird, wer auf dem Gymnasium bleibt und wer auf die Stadtteilschule gehen muss. Das halten wir für problematisch. Wir glauben auch, dass ein großer Druck für die Schülerinnen

und Schüler aufgebaut wird und auch für die Eltern. Aber für uns war und ist wichtig, dass es überhaupt ein Elternwahlrecht gibt.

Übrigens lehnt Herr Scheuerl ein Elternwahlrecht nach Klasse 6 ab mit der Begründung, dass dann das Gymnasium überlaufen werde. Da spielen wohl doch Ängste eine Rolle, die ich ganz zu Anfang in meinem historischen Rückblick genannt habe.

Kurz vor Beginn unserer Sitzung haben CDU, GAL und SPD einen Schulfriedensvertrag geschlossen. DIE LINKE kann mit dem Begriff Schulfrieden nicht viel anfangen. Selbstverständlich sollte bei der Einführung der sechsjährigen Primarschule ein Durchlauf, also sechs bis acht Jahre, gewährleistet sein. Aber gleichgültig, wer das unterschreibt, keiner kann verhindern, dass irgendeine Initiative Ende 2012 zum Beispiel die Einführung einer sechsjährigen Primarschule fordert und dafür Unterschriften sammelt.

DIE LINKE hat diese Schulfriedensvereinbarung nicht unterschrieben und wird es auch nicht tun. Uns geht es in erster Linie um Bildungsgerechtigkeit. Deshalb begrüßen wir auch, dass das Büchergeld abgeschafft wird.

(Beifall bei der LINKEN und bei Dr. Eva Gümbel GAL)

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass es eine besondere Errungenschaft ist, dass alle vier Fraktionen in dieser Bürgerschaft das jetzt wollen, und das ist auch gut so.

(Beifall bei der LINKEN, der GAL und verein- zelt bei der SPD)

DIE LINKE wird der Drucksache 19/5500 des Senats zustimmen.

Der zweite Antrag, der heute vorliegt, ist ein interfraktioneller. Damit wird ein Sonderausschuss in der Bürgerschaft etabliert, der prozessbegleitend die Einführung der Primarschule evaluiert. DIE LINKE konnte erreichen, dass dieses siebenköpfige Gremium erweiterte Kompetenzen und Aufgaben bekommt. Neben Qualitätsmerkmalen wie Klassenfrequenzen, Fach- und Klassenräumen, Lehrerversorgung, Fortbildung der Lehrkräfte und der Umsetzung des individualisierten Lernens wird dieser Ausschuss sich auch mit dem Übergang von der sechsten zur siebten Klasse beschäftigen.

Es ist in jedem gegliederten Bildungssystem so, egal, an welcher Stelle Sie die Schüler aufteilen, ob nach der vierten, der fünften, der sechsten, der siebten oder der achten Klasse, dass es dort immer Probleme gibt. Das ist auch hier der Fall und Elternwahlrecht kann das nur zum Teil abmildern.

Es soll im Ausschuss dokumentiert werden, wie viele Eltern entgegen der Empfehlung der Zeugniskonferenz ihr Kind auf ein Gymnasium geschickt

haben, welchen sozialen Zusammenhängen die Eltern zuzuordnen sind und vor allem, welche Schulkarrieren sich für diese Schülerinnen und Schüler dann daraus ergeben haben.