Protokoll der Sitzung vom 30.09.2010

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es wird Sie nicht wundern, dass ich zu einer anderen Einschätzung komme. Die Bundesregierung hat die Chance verpasst, und zwar dramatisch, eine transparente, nachvollziehbare und auch lebensgerechte Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vorzunehmen.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Es stößt einem schon auf, wenn man liest, dass der Regelsatz von 364 Euro bereits 2008 in einem Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern für das Jahr 2010 auftauchte. Ich glaube nicht immer an Zufälle. Es drängt sich doch der Eindruck auf, dass aus dem Warenkorb manche Bedarfspositionen gezielt heraus- und andere hineinsortiert wurden. Zimmerpflanzen, auch Haustiere und chemische Reinigung wurden herausgenommen, anderes kam wiederum hinein. Über Alkohol und Tabak mag man

(Präsident Dr. Lutz Mohaupt)

sich streiten können, aber auch Übernachtungen – es geht dabei nicht um Urlaub, sondern um die Frage, ob ein Mensch einmal jemanden aus seiner Verwandtschaft besuchen kann und dann irgendwo günstig unterkommen muss – fliegen aus dem Satz heraus, bis dann eben 364 Euro herauskommen. Das wirkt kleinlich und lebensfern.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Problem bei dem von der Bundesregierung beabsichtigten Vorgehen ist, dass in Deutschland künftig Niedriglohnbeschäftigte nicht mehr durch den Sozialstaat geschützt werden sollen, sondern der Niedriglohnsektor zum Maßstab für die Grundsicherung wird, damit das Lohnabstandsgebot gewahrt bleibt. Das heißt im Klartext: Damit ein Grundsicherungsempfänger weniger hat als eine Friseurin oder ein Wachmann, muss die Grundsicherung niedrig sein und unter 400 Euro liegen. Das ist eine verhängnisvolle Kopplung.

Frau Badde hat schon angesprochen, dass in die Berechnungsgrundlage nur die unteren 15 Prozent der Einpersonenhaushalte eingeflossen sind; bei den Mehrpersonenhaushalten waren es die unteren 20 Prozent. Das macht einen ganz wesentlichen Unterschied. Mehr als die Hälfte der betroffenen Haushalte sind Einpersonenhaushalte und wenn man deren Verbrauchsverhalten in der Berechnung entsprechend gewichtet hätte, wäre wahrscheinlich ein Bedarfssatz von deutlich über 400 Euro herausgekommen.

(Beifall bei Ksenija Bekeris SPD)

So etwas wirft ein übles Licht auf die Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Frau von der Leyen hat die Ergebnisse der Berechnungen veröffentlicht, aber nicht den Weg dorthin. Erst wenn dieser Weg offengelegt wurde, kann man tatsächlich von einer transparenten Ermittlung der Bedarfe sprechen. Das ist aus unserer Sicht absolut unverzichtbar, erst recht, wenn Frau von der Leyen verlangt, wer höhere Regelsätze fordere, müsse das auf Heller und Cent vorrechnen. Meine Damen und Herren, erst einmal muss Frau von der Leyen das auf Heller und Cent vorrechnen.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Es ist zudem so, dass das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Erhöhung aus seinem eigenen Etat wird finanzieren müssen. Das heißt, dass jede Erhöhung innerhalb des Haushalts gegenfinanziert werden muss und zu Einsparungen in diesem Bereich führt. Wenn man dann die Arbeitsmarktförderung kürzt, also in einem Bereich, der genau dem betroffenen Kreis zugute kommt, dann ist das aus meiner Sicht gar keine Erhöhung, sondern nur ein Verschieben von der rechten Ta

sche in die linke Tasche und das kann nicht die Antwort sein.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Aus der Arbeitsmarkpolitik sind bereits 900 Millionen Euro herausgestrichen worden und das merken wir in Hamburg auch sehr drastisch. Es sind über 40 Millionen Euro, die fehlen. Damit kann in einer Großstadt einiges finanziert werden: wichtige Projekte in den Stadtteilen, die vielen Menschen helfen, die auch die Menschen wieder an Arbeit heranführen und Stück für Stück reintegrieren. Das zur Gegenfinanzierung heranzuziehen, wenn es um Regelsatzerhöhungen geht, wäre aus unserer Sicht ein falscher Weg.

Etwas anders ist die Lage bei dem Bildungspaket. Ich sehe hier durchaus einen Ansatz, besser dahin zu kommen, den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Man muss sich aber fragen, wie das tatsächlich ausgestaltet und umgesetzt werden kann. Die Job-Center sind sicher nicht der richtige Andockpunkt. Das muss man sich sehr genau anschauen und darüber wird zu sprechen sein.

(Glocke)

Ich komme zum Schluss.

Diese Vorlage, wie sie von der Bundesregierung unterbreitet wurde, kann so nicht beschlossen werden. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das Wort hat Herr Joithe.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Sätze transparent berechnet werden. Ich bin erstaunt, dass in den Reihen der CDU qualifizierte Abgeordnete

(Michael Neumann SPD: Haben die doch gar nicht!)

der Hellseherei fähig sind. Herr von Frankenberg hat eben erklärt, es wäre alles mit rechten Dingen zugegangen. Haben Sie denn die Rohdaten bekommen, Herr von Frankenberg? Ich denke, nicht. Die Abgeordneten der Opposition im Bundestag haben sie jedenfalls nach wie vor nicht erhalten. Von daher lässt sich gar nicht feststellen, ob tatsächlich gerechnet oder ob so vorgegangen wurde, wie man es schon 2004 getan hat, als 345 Euro politisch vorgesehen und dann genau dieser Betrag errechnet wurde. Deshalb hat es dieses Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben. Wenn der Betrag von 364 Euro für das Existenzminimum bereits am 27. Oktober 2008 festgesetzt wurde, und zwar auf genau 364 Euro,

(Claudius Lieven)

obwohl die EVS 2008 noch gar nicht vorliegen konnte, dann wurde augenscheinlich nicht gerechnet – schon gar nicht transparent –, sondern auf genau diesen Betrag gezielt. Ich kann nicht nachvollziehen, Herr von Frankenberg, wie Sie das nachvollziehen wollen.

Der Rechenweg wurde nicht offengelegt, Herr Lieven hat das schon gesagt. Frau von der Leyen hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht und wird nicht umsonst in der Presse, zumindest in der "Hamburger Morgenpost" von gestern, der Trickserei beschuldigt. Nichts anderes hat da stattgefunden.

Es wird über Chipkarten geredet und darüber, wie man das Bildungspaket umsetzen könne. Man hat noch nicht einmal die technischen Gegebenheiten, stellt aber Dinge in den Raum, als ob diese schon laufen würden, und rechnet damit, dass dieses Angebot von dem einen oder anderen, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Anspruch genommen wird. Das wären dann auch wieder Einsparungen.

Wenn pro Kind und Monat 10 Euro für Sport, Kultur oder Nachhilfestunden vorgesehen sind, dann rechnen Sie sich doch bitte einmal aus, wie viele Nachhilfestunden oder meinethalben auch Reitstunden oder was auch immer Sie dafür erhalten. Wenn Sie auf Nachbarschaftshilfe abheben, dann bekommen Sie das vielleicht für 10 Euro hin, aber ob dann der nette junge Mann von nebenan, der gerade sein Abitur gemacht hat, über die Chipkarte abrechnen kann, wage ich zu bezweifeln.

Das ist unausgegoren, falsch gerechnet – es gibt Zahlendreher in dem Referentenentwurf –, von vorne bis hinten zusammengeschustert und entspricht in keiner Weise dem Gerichtsurteil.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

Diese 5 Euro werden von den wütenden Erwerbsloseninitiativen als Almosen betrachtet und als nichts anderes.

Wir als Politiker sollten uns mit den Problemen auseinandersetzen, und zwar direkt mit der Lebenswirklichkeit der Betroffenen und nicht mit irgendwelchem Papierkram. Wir haben zwar die EVS und wir hatten den Warenkorb, der aus bestimmten Gründen abgeschafft wurde und den auch wir nicht unbedingt wieder einführen wollen, aber wenn dabei herauskommt, dass für Bücher bei Kindern 2,16 Euro im Monat zur Verfügung stehen, dann frage ich Sie – wo in Hamburg ohnehin gerade die Bücherhallen nach und nach abgeschafft werden –, wie Sie Ihre Kinder mit 2,16 Euro an das Lesen heranführen wollen. Das ist doch Unfug.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist Papierkram, Bürokratie, aber nichts im Kopf; anders kann ich das nicht beurteilen.

Wenn dann davon gesprochen wird, dass wir das Lohnabstandsgebot beachten müssen, und wenn ich sehe, dass eine Friseurin in Brandenburg 4,22 Euro verdient, dann kann es nur eines geben: Wir brauchen einen Mindestlohn, und zwar einen flächendeckenden,

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

den die SPD inzwischen auch entdeckt hat.

(Ingo Egloff SPD: Wir haben ihn zum Teil durchgesetzt, Herr Joithe!)

Eines muss man ganz klar sagen: Ohne dem geht es nicht. Es kann keine Rede davon sein, den Satz an den Niedriglohn anpassen zu müssen, sondern man muss von einem Lohn, für den man den ganzen Monat arbeitet, auch einen ganzen Monat leben können.

Abschließend sei eines denen hinter die Ohren geschrieben, die meinen, ihre Betriebe müssten unbedingt subventioniert werden. Wer so nicht zahlen kann, dass man davon einen ganzen Monat leben kann, wenn man einen ganzen Monat arbeitet, der soll seinen Laden zumachen. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort hat Herr Senator Wersich.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Joithe, man muss DIE LINKEN nicht lieben und man muss auch nicht Ihre Auffassung teilen, aber man muss Ihnen bestätigen, dass Sie in Ihrer Kritik an Hartz IV ehrlich und konsequent sind. Das kann man von der SPD nicht behaupten,

(Beifall bei der CDU und bei Antje Möller GAL)

denn die Argumentation, die wir heute von Ihnen und vor allem aber auch aus Berlin hören, scheint in ihrer Überzogenheit eher so etwas wie Vergangenheitsbewältigung zu sein. Um es deutlicher zu sagen: Sie wollen Ihre Vaterschaft an den Hartz-IV-Gesetzen bei den Wählerinnen und Wählern vergessen machen, aber das wird Ihnen nicht gelingen.

(Beifall bei der CDU und bei Martina Greger- sen GAL)

Alle wissen, dass die Regelungen, die das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr moniert hat, von der rot-grünen Bundesregierung entwickelt worden sind.

(Ingo Egloff SPD: Das passierte ja mithilfe von Herrn Koch den Bundesrat!)