Protokoll der Sitzung vom 18.06.2008

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Das wird auch ganz deutlich, wenn man Ihren Antrag liest. Ich fand es ein bisschen lustig, dass Sie gesagt haben, unseren Antrag benutzen wir als Platzhalter. Ich denke, Ihr Antrag ist so offen formuliert. Wenn man die Überschrift liest, hat man noch das Gefühl, da kommt etwas: Für ein vernetztes und effektives Handeln der Behörden zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt in der Familie. Da erwartet man dann ein umfassendes Maßnahmenpaket. Aber nein, da kommt nichts. Da wird der Senat aufgefordert, einen Bericht zu machen. Das ist zu wenig, Frau Veit.

(Carola Veit SPD: Wir sind ja noch nicht fer- tig mit der Analyse!)

Ich bin immer dafür gewesen, auch Oppositionsanträge in den Ausschuss zu überweisen, aber Ihr Antrag ist so grottenschlecht und oberflächlich, dass man ihn nur ablehnen kann.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Jetzt wundern Sie sich, dass wir einen Antrag bringen und Sie sagen in aller Öffentlichkeit, dass dieser Antrag dem Fall nicht angemessen ist. Ja, meine Damen und Herren, es ist richtig, durch unseren Antrag mit den präventiven Maßnahmen wird Morsal nicht wieder lebendig. Das ist traurig, aber wahr. Aber Politik hat doch auch die Aufgabe, nach vorne zu gucken. Wir müssen auf der einen Seite die Analyse dieses Falles betreiben, aber dann dürfen wir doch nicht stehenbleiben und sagen, wir verharren jetzt in dieser Schelte und in der Kritik, sondern wir müssen gemeinsam nach vorne gucken und überlegen, welche Konsequenzen und Maßnahmen wir aus diesem Fall ziehen müssen. Darüber hatten wir schon das letzte Mal in der Bürgerschaft debattiert. Der Senat hat sofort, ich glaube, es waren nicht einmal 14 Tage, ein umfassendes Maßnahmenpaket vorgelegt, eine Interventionskette, die viele gute Ansatzpunkte hat, von der ich auch hoffe, dass sie möglichst selten angewendet werden muss, aber wenn, dann wird sie Fälle dieser Art zumindest minimieren. Es ist mir an dieser Stelle auch ganz wichtig zu sagen, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht geben wird.

Die GAL- und die CDU-Fraktion haben jetzt noch ein Stück weiter geradeaus geblickt und gesagt, das sind schon wesentliche Maßnahmen, die der Senat hier angebracht hat. Wir ergänzen diese Maßnahmen aber noch um weitere Punkte, damit wir wirklich ein umfassendes Maßnahmenpaket haben. Dazu gehört – ich greife jetzt nur einen Punkt heraus – der Punkt der Jungenarbeit. Der ist nach der letzten Bürgerschaftsdebatte etwas sehr kurz – ich glaube, es war im "Hamburger Abendblatt" – dargestellt worden, sodass es Menschen gab, die sagten, Sie machen hier den Täter zum Opfer. Das ist es keinesfalls. Aber wenn wir Probleme dieser Art angehen wollen, dann müssen wir zum Beispiel auch den Punkt, den wir zugegebenermaßen im Koalitionsvertrag haben, der aber ganz wichtig ist und jetzt forciert angegangen werden muss, der Jungenarbeit angehen und da besonders auf interkulturelle Aspekte Wert legen, damit wir genau da ansetzen, was Herr von Frankenberg gesagt, nämlich schon bei den ganz Kleinen. Herr von Frankenberg, was Sie am Anfang gesagt haben, kann ich nur unterstützen: Der Bruder ist zwar noch nicht verurteilt, aber er ist derjenige, der natürlich seiner gerechten Strafe zugehen wird.

(Vizepräsident Wolfhard Ploog übernimmt den Vorsitz.)

Ich will ihn hier keineswegs in eine Opferrolle drücken, aber wir müssen doch alles dafür tun, damit solche Taten verhindert werden und dazu gehört die Prävention.

(Michael Neumann SPD: Ja, der ist aber schon einmal verurteilt worden!)

Auf diesem Zug fahren wir jetzt, weil wir uns überlegen müssen, was wir als Parlament, als Politiker tun können und da haben wir ein Stück weiter gedacht als Sie. Sie, die einfach stehengeblieben sind mit einer banalen Forderung, sich hier alles vorstellen zu lassen, was im Jugendausschuss längst stattfindet. Wir haben gerade in der letzten Ausschusssitzung eine umfassende Erklärung zu vielen Punkten erhalten. Das wird natürlich noch fortgesetzt.

Interessant finde ich auch die LINKEN, die in ihrer Pressemitteilung zum Beispiel ein Fazit aus der Ausschusssitzung gezogen haben, sodass man denken musste, sie wären gar nicht anwesend gewesen. Sie haben behauptet, dieser Mord an Morsal geschah auch deswegen, weil die Behörden nicht miteinander vernetzt waren und weil es nicht genügend Mitarbeiter im Jugendamt gab. Ich frage ich mich, ob Sie überhaupt irgendeine Zahl kennen oder ob Sie zugehört haben. Ich bin wirklich nicht diejenige, die sagt, die Jugendämter seien ausreichend ausgestattet,

(Michael Neumann SPD: Doch, jetzt schon! Seit 44 Tagen schon!)

aber es wurde vom Senat deutlich dargestellt, dass die Vernetzung in diesem Fall sehr gut klappte und dass es nicht an der Anzahl der Mitarbeiter im Jugendamt lag

(Michael Neumann SPD: Woran lag es dann?)

und auch nicht daran, dass man sich nicht um das Mädchen gekümmert habe. Jugendhilfe ist doch etwas komplexer als Ihr einfaches Denken, dass Sie sagen, hier haben wir ein Mädchen, das braucht Schutz, das greifen wir uns mal und lassen es nicht wieder raus. Sie alle, die irgendwie mit Juristerei zu tun haben, wissen, dass in der Jugendhilfe Sechzehnjährige ihre Hilfeplanung mitbestimmen. Das Mädchen war in Obhut, es war nicht in geschlossener Obhut – so etwas sieht unser Kinder- und Jugendhilfegesetz auch nicht vor – und aus dem Grunde ist hier umfassend und richtig gehandelt worden.

Aber, wenn es Lücken gab, müssen wir die natürlich dennoch aufdecken, um aus diesen Lücken zu lernen. Ob es alles ausreichend war, was da gemacht wurde, da befinden wir uns noch mitten in der Aufklärung und Sie ziehen Ihren Schluss vorweg.

(Michael Neumann SPD: Wieso, war doch alles super!)

Ich möchte noch einmal sagen, dass ich es gut finde, dass wir in der nächsten Jugendausschusssitzung auch über unseren Antrag und über die zukunftsweisenden Maßnahmen sprechen werden. Vielleicht blicken Sie auch darüber hinaus und bleiben nicht auf dieser doch etwas vereinfachten Ebene stehen.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Das Wort bekommt Frau Artus.

Herr Präsident, sehr geehrte Herren und Damen! Christiane, wenn Du das nächste Mal aus der Pressemitteilung zitierst, sollte man vielleicht noch einmal die ganze Pressemitteilung vorlegen. Wir stellen sie gern allen Abgeordneten zur Verfügung.

Der Antrag der SPD ist nicht falsch. Wir beurteilen die Auskunftsfreudigkeit des Senats und die Sorgfaltspflicht bei der Rechenschaft der Behörden als absolut unzureichend. Wir können nur bei genauer Analyse zu den richtigen Schlussfolgerungen kommen, wo es Versäumnisse gab beziehungsweise auch die politischen Konsequenzen in personeller Hinsicht ziehen, wenn die Ursachen von furchtbaren Ereignissen, wie der Mord an der sechzehnjährigen Morsal, gefunden werden. Deswegen ist es auch gut, dass es noch eine weitere Ausschusssit

zung gibt, weil wir noch weitere Auskünfte brauchen.

Insofern sollte aber auch der Senat ein Interesse daran haben, diesen Bericht, wie von der SPD gefordert, abzugeben. Der Antrag ist nicht falsch. Ich finde übrigens auch den Antrag von der CDU und der GAL nicht falsch, aber die Inhalte sind bereits angekündigt worden. Das ist aber auch noch zu wenig. Vielleicht kann man gerade vor dem Hintergrund dieses Vorfalls bereits einige Schlüsse ziehen. Zum Teil sind sie grundsätzlicher Natur, zum Teil konkret.

Einerseits denke ich, dass es in vielen Familien immer noch zum normalen Umgang als erzieherisches Mittel gehört, aufgrund von Überforderungen oder aus anderen Gründen, Gewalt gegen Kinder anzuwenden. Solange es noch zum guten Ton gehört zu sagen, der hätte mal eine ordentliche Ohrfeige verdient, werden Kinder und Jugendliche einem erhöhten Gewaltrisiko in Familien, egal, mit welchem Hintergrund, ausgesetzt sein.

Wir haben es immer noch mit einer Generation von Eltern zu tun, die in ihrer Kindheit geschlagen wurde. Es wird aber mit diesen Eltern nicht gearbeitet, obwohl Ihnen jeder Sozialpädagoge und jede Sozialpädagogin sagen kann, dass geschlagene Kinder später in der Regel zu schlagenden Eltern werden. Wo bitte ist das gezielte Anti-Gewalt- und Anti-Aggressions-Training für Eltern, möglicherweise speziell für Männer, aber auch als Angebote in Kitas und Schule. Soziale Kompetenz lässt sich lernen und wir müssen uns endgültig als Gesellschaft verabschieden von dem Bild, dass Erziehung reine Privatsache ist, denn genau das überfordert viele Eltern, egal, mit welchem Hintergrund.

Wer Kinder als sein ausschließliches Eigentum ansieht, maßt sich im Zweifel auch das Recht an, sie zu züchtigen. Wer außerdem etwas gegen die Gewalt in Familien aktiv tun will und damit auch gegen die Verrohung der Gesellschaft, sollte sich an aktiver Armutsbekämpfung beteiligen. Diese Beteiligung finde ich unzureichend, wenn Parteien, die hier in der Bürgerschaft vertreten sind, auf Bundesebene in der großen Koalition zum Beispiel einer Elterngeld-Regelung zustimmen, die vor allem den Besserverdienenden nutzt, die der Erhöhung eines Kindergeldes zustimmen, die den Besserverdienenden nutzt und das Geld nicht dorthin bringen, wo es am dringendsten benötigt wird, in die HartzIV-Haushalte.

(Beifall bei der LINKEN)

Was ist das für eine aktive Armuts- und Gewaltbekämpfung, Bildungschancen für alle zu predigen und gleichzeitig Kindern von Hartz-IV-Bezieherinnen und -Beziehern 1,79 Euro im Monat für Schulmaterialien zuzugestehen.

(Jens Kerstan GAL: Sind wir noch beim The- ma?)

(Christiane Blömeke)

Ja, wir sind genau bei dem Thema. Es sind die Hoffnungslosen, die Menschen ohne Perspektiven, ohne Schulabschlüsse und ohne Ausbildungsplatz, die kein anderes Mittel als Gewalt sehen, um auf sich aufmerksam zu machen.

(Christiane Blömeke GAL: Das ist doch gar nicht das Thema!)

Das ist genau das Thema, denn hier kommen wir auch zu den Motiven, wie Gewalt entsteht.

(Christiane Blömeke GAL: Nicht jede arme Familie ist gewalttätig!)

Bundesweit wurde – und jetzt kommen wir noch einmal zur Personalfrage – das Personal für die Beratung und Betreuung von ambulanten Hilfen für Erziehung zwischen 2002 und 2006 um 13 Prozent gekürzt. Das hat das Deutsche Jugendinstitut ermittelt. In Hamburg waren die Kürzungen nicht ganz so hoch, aber sie gehören gar nicht gekürzt, sie gehören aufgestockt.

Die Ursachen von Gewalt gegen Mädchen und weibliche Jugendliche, auch in Familien mit Migrationshintergrund, sind einerseits bekannt, andererseits benötigen wir hier weitere Informationen, vor allem aber ist aktives Handeln gefordert. Ich erneuere in diesem Zusammenhang meine Forderung nach mehr Personal in den Beratungsstellen und in den Jugendämtern, die eine wirklichkeitsnahe Betreuung gewährleisten und in einem jungen Menschen nicht nur eine Akte sehen, die nach Dienstschluss in der Schublade verschwindet.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Wort hat Herr Senator Wersich.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle waren schockiert, als wir die Nachricht bekommen haben, dass der 23-jährige Bruder seine 16-jährige Schwester getötet hat. Es wurde schnell klar, dass das offenbar vor dem Hintergrund eines gewalttätigen Familienkonfliktes über den Lebensstil dieses Mädchens passierte. Es wurde auch schnell bekannt, dass wir es mit einer traditionell patriarchal geprägten Familie mit Migrationshintergrund zu tun haben. Das Unwort des Ehrenmordes – Herr von Frankenberg hat das gesagt – kursierte.

Herr Yildiz, ich habe diese Pressemitteilung, die Sie herausgegeben haben, gelesen. Ich möchte das einmal zitieren:

"Mehmet Yildiz, jugend- und migrationspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, sagte, dass die Gewalttat zu sehr auf den Migrantenhintergrund des Falles bezogen würde."

Ich glaube, Herr Yildiz, dass diese Äußerung von Ihnen gut gemeint ist. Es ist auch richtig, dass es andere Formen familiärer Gewalt gibt und dass es relativ wenig Tötungsdelikte in Deutschland mit diesem Motiv gibt. Aber es ist auch richtig, dass das dahinterstehende Problem in diesen Migrationsfamilien, dass Mädchen und Frauen mit Gewalt an der Verwirklichung ihrer eigenen Lebensstile zurückgehalten werden, in Hamburg möglicherweise Hunderte oder Tausende von Frauen betrifft. Dieses muss man offen aussprechen. Wir können heute keine Phantomdebatte über Hartz IV führen. Wir müssen hier den Finger in die Wunde legen, denn wenn wir diese Zusammenhänge nicht aussprechen, dann können wir sie auch nicht ändern.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Deswegen glaube ich, dass die öffentliche Auseinandersetzung um diesen Fall, um die Täter, um die Motive, um die familiären Hintergründe so wichtig ist, weil sie deutlich macht, welche Normen unsere Gesellschaft setzt und weil sie schlichtweg deutlich macht, dass wir derartige Verhaltensweisen in unserem Lande nicht akzeptieren.

(Beifall bei der CDU und der GAL)

Lassen Sie mich nun ein bisschen zur Aufarbeitung kommen. Jeder weiß – das gilt auch für die Opposition –, dass wir als Behörden, so ausgeprägt ein Hilfesystem auch ist – mit Intervention, mit unseren interkulturellen Beratungsstellen, mit Wohnprojekten und so weiter –, eine hundertprozentige Sicherheit in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht erzwingen können. Eine hundertprozentige Erfolgsgarantie der Helfenden kann niemand versprechen.

Dennoch glaube ich, dass wir jeden Fall, der vorkommt, ernst nehmen und versuchen müssen, aus ihm zu lernen. Gerade ein Fall, in dem sich die Ohnmacht der Hilfe zeigt, muss gründlich analysiert werden. Es müssen Schlussfolgerungen gezogen werden und ich weiß, dass manche das benutzen, um in einer ritualisierten öffentlichen Diskussion schnell zu sagen, dass es eine Schuldfrage ist und sie die Schuld dann auf die Helfer lenken. Aber wenn Derartiges passiert, haben wir als Senat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unsere Experten eine kritische Analyse des Hilfeverlaufs vornehmen, daraus Schlussfolgerungen ziehen und dass wir diese dann auch konsequent und zügig umsetzen.

Genau diese Verantwortung haben die Senatoren wahrgenommen. Ich habe bei meinen Jugendhilfeexperten in Auftrag gegeben, dass umgehend das Handeln des für den Fall verantwortlichen und zuständigen Jugendamtes, das Bezirksamt-Mitte analysiert wird und dass auch der KJND mit einbezogen wird. Das haben alle Behörden gemacht, jeder zunächst für sich. Dann haben wir uns alle zusammengesetzt und gemeinsam diesen Verlauf

(Kersten Artus)