Protokoll der Sitzung vom 08.02.2012

Der Tod von Chantal: Konsequente Aufklärung und ehrliche Ursachenanalyse und Konsequenzen

und von der CDU-Fraktion

Ex-Sicherheitsverwahrte: Unterbringung in Jenfeld sofort beenden!

Die Fraktionen sind übereingekommen, das erste und vierte Thema gemeinsam debattieren zu wollen. Herr Kerstan wünscht das Wort und er bekommt es.

Meine Damen, meine Herren, Frau Präsidentin! Ich möchte mich bei Ihnen für Ih

re Worte bedanken, in denen Sie unsere Anteilnahme, unsere Betroffenheit und auch die Bestürzung ausgedrückt haben, die uns alle, nicht nur in der Bürgerschaft, sondern in ganz Hamburg, ergriffen hat angesichts des tragischen Todes von Chantal. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es zu der bestürzenden Realität in unserer Stadt gehört, dass Kinder vernachlässigt werden. Und zu dieser bestürzenden Realität gehört auch, dass Chantal unter den Augen der staatlichen Stellen gestorben ist, die für sie verantwortlich waren.

Angesichts dieser Umstände, die es auch nicht zum ersten Mal gegeben hat, ist es notwendig, dass wir nicht nur unserer Bestürzung Ausdruck verleihen, dass unsere Reaktionen sich nicht nur darauf beschränken, sondern dass wir jetzt eine ehrliche und umfassende Ursachenanalyse betreiben. Wir müssen uns die Frage stellen, was wir in Zukunft tun können, um wirksam sicherzustellen, damit Kinder in dieser Stadt nicht mehr zu Schaden und ums Leben kommen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Dabei geht es natürlich auch darum, das ganze System auf den Prüfstand zu stellen. Die Verfahrensweisen, die Strukturen und eingeübten Verfahren, all das müssen wir gründlich analysieren. Bei dieser Analyse stehen wir mit Sicherheit erst am Anfang und nicht am Ende. Aber wenn wir diese ehrliche Ursachenanalyse betreiben wollen, so, wie es die SPD auch angemeldet hat, dann gehört dazu, persönliche Verantwortlichkeiten und Fehler zu benennen, wenn Ehrlichkeit nicht nur eine Worthülse sein soll.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Neben den Strukturen ist in diesem Fall eines ganz deutlich geworden: Es gibt ganz konkrete Verantwortlichkeiten, ganz konkrete Unterlassungen und auch ganz konkretes Versagen. Nach allem, was wir wissen – und wir wissen mittlerweile sehr viel –, handelt es sich um ein eklatantes und persönliches Versagen und auch ein zurechenbares Versagen des Bezirksamtsleiters Markus Schreiber im Bezirk Hamburg-Mitte.

Wenn man sich diesen Fall genau ansieht, dann muss man eines feststellen: Herr Schreiber hat selbst berichtet, dass er schon vor knapp drei Jahren bei einem ähnlich gelagerten Fall, dem tragischen Tod von Lara Mia, zu der Schlussfolgerung gekommen ist, dass die zuständige Jugendamtsleiterin inkompetent ist und dass er sie versetzen wollte. Und was ist seitdem passiert, seit er vor drei Jahren zu dieser Erkenntnis kam? Gar nichts. Nachdem er damit gescheitert war, die Jugendamtsleiterin in die Sozialbehörde abzuschieben, hat er zweieinhalb Jahre nichts getan. Er hat sie weder in seinem eigenen Amtsbereich versetzt, noch hat er sie besonders beaufsichtigt oder ihr die Zuständigkeit für den ASD entzogen. Er wus

ste, dass etwas getan werden musste, und er hat jahrelang nicht gehandelt. Was beschreibt deutlicher das ganz persönliche Versagen eines Vorgesetzten in seinem Führungsbereich?

(Beifall bei der GAL, der CDU und bei Carl- Edgar Jarchow FDP)

Wenn politische, aber auch persönliche Verantwortung in dieser Stadt überhaupt noch irgendeine Bedeutung haben soll, dann muss Herr Schreiber jetzt abgelöst werden.

Meine Damen und Herren! Es ist unehrlich, wenn man jetzt sagt – einige in diesem Hause tun das zum wiederholten Male –, es müssten noch Untersuchungen geben, bevor man diese Konsequenzen zieht. Wir wissen in diesem Fall Schreiber genug, um Konsequenzen zu ziehen. Ich glaube auch nicht, dass es in der SPD viele gibt, die wirklich glauben, dass Herr Schreiber noch länger in seinem Amt tragbar ist. Dass er bisher noch nicht abgelöst wurde, hat einen anderen Grund, einen Grund, der in der besonderen Art und Weise liegt, wie im Bezirk Hamburg-Mitte die politische Verantwortung für den Jugendhilfebereich organisiert ist.

(Dora Heyenn DIE LINKE: Richtig!)

Es gibt dort einen Bundestagsabgeordneten, der gleichzeitig Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses ist, was ungewöhnlich ist, und zwar seit 18 Jahren.

(Dora Heyenn DIE LINKE: Genau!)

Und in diesen 18 Jahren hat Herr Kahrs ein System aufgebaut, bei dem es bei der Verteilung der Mittel im Jugendhilfebereich und den damit verbundenen Posten um Begünstigungen und Abhängigkeiten geht. Er hat den Jugendhilfeausschuss in Hamburg-Mitte in ein Instrument verwandelt, das seine persönliche Machtbasis in Hamburg-Mitte sichert und organisiert.

(Beifall bei der GAL, der CDU, der FDP und der LINKEN)

Herr Kerstan, einen Schlusssatz bitte.

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, dieses System zu durchbrechen? Das Bezirksamt Hamburg-Mitte ist im Verantwortungsbereich des Senats und des Präsidenten des Senats. Der Senat ist dafür zuständig, geordnete Verhältnisse sicherzustellen. Herr Bürgermeister, wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich heute dieser Verantwortung stellen und uns jetzt sagen, was Sie tun werden, um diese unhaltbaren Zustände in Hamburg-Mitte zu beenden.

(Beifall bei der GAL, der CDU, der FDP und vereinzelt bei der LINKEN)

Das Wort bekommt Herr Dr. Dressel.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der tragische Tod von Chantal bewegt uns alle. Er bewegt die ganze Stadt, er macht auch mich persönlich als Vater von zwei Kindern fassungslos und traurig. Ich danke deshalb der Präsidentin, dass sie eingangs die richtigen Worte gefunden hat, mahnend, fordernd und überparteilich. Bei dieser Tonlage sollten wir in der Debatte bleiben, nur so werden wir diesem schrecklichen Fall gerecht.

(Beifall bei der SPD)

Wir sollten nicht den Fehler machen, zum üblichen politischen Schlagabtausch und zu parteitaktischen Attacken überzugehen. Es muss jetzt darum gehen, die Aufklärung und die Aufarbeitung voranzutreiben und dann die Konsequenzen zu ziehen. Dabei müssen wir das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin dem Bürgermeister sehr dankbar, dass er heute klargestellt hat, dass sein Senat bei der Aufarbeitung auf nichts und niemanden falsche Rücksicht nehmen wird. Dabei hat er unsere volle Rückendeckung als SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen dafür sorgen, dass ein Systemversagen, das neben vielen gleichermaßen unerträglichen und unverständlichen Fehlern bei vielen Beteiligten dazu geführt hat, dass Chantals Tod nicht verhindert wurde, abgestellt wird. Da sind wir als Parlament in der Verantwortung. Hier geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit, denn eines ist sicher: Die Veränderungen nach den letzten tragischen Todesfällen haben nicht gereicht, um Chantal zu retten. Deshalb müssen wir noch nachhaltiger daran arbeiten, durch Veränderungen in den Strukturen und im System, bei den Mitarbeitern und der EDV, bei der Arbeitsebene in den Aufsichtsinstanzen und im gesamten Bereich. Wir müssen mit aller Konsequenz handeln, das kann auch unangenehm werden. Aber wir werden das tun, weil es unsere Schuldigkeit gegenüber den Kindern dieser Stadt ist.

(Beifall bei der SPD)

Schon jetzt ist eines dabei erkennbar: Es ist kein Ressourcenproblem gewesen. Es waren fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Familie zuständig, und trotzdem wurde falsch beurteilt und falsch entschieden. Deshalb muss es auch darum gehen, dass bei der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts gegenüber Familien in der Praxis überall der Leitsatz gilt: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle und Aufsicht müssen sein, das Kindeswohl steht über allem.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen für Systeme und Rahmenbedingungen sorgen, in denen einzelne Fehlbeurteilungen nicht solche fatalen Folgen haben. Es muss Kontrollund Aufsichtsmechanismen geben, die möglichst immun sind gegenüber Betriebsblindheit. Es muss ausgeschlossen werden, dass eine sogenannte milieunahe Unterbringung zulässt, dass ein Kind von einer Kindeswohlgefährdung in die nächste wechselt. Und wir müssen sicherstellen, dass Hinweise aus der Nachbarschaft nicht ungeprüft als Mobbing abgetan werden. Wir müssen es schaffen, dass es nicht mehr Mitarbeiter gibt, die meinen, dass ein dem Staat anvertrautes Kind kein eigenes Bett haben müsse. Das sind Fehleinschätzungen, die nicht mehr passieren dürfen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Der Senat hat – Senator Scheele wird das gleich noch ausführen – schnell und konsequent erste Schritte eingeleitet und auch weitreichende Konsequenzen angekündigt. Er hat eine unabhängige Untersuchung gemeinsam mit der Innenrevision der Finanzbehörde veranlasst, da es in der Tat nicht angehen kann, dass die Sachbearbeiter, die den Fall auf dem Schreibtisch hatten, dann noch diejenigen sind, die die Aufklärung betreiben. Dies muss unabhängig passieren, und es passiert jetzt auch. Der Senat hat Sofortmaßnahmen ergriffen, was die Auswahl und Kontrolle von Pflegefamilien angeht, die auf breite Zustimmung im Fachausschuss gestoßen sind.

Aber darüber hinaus ist für mich klar, dass es über alle Einzelmaßnahmen hinaus einer dauerhaften, landesweiten Aufsichtsinstanz für die Jugendhilfe bedarf, notfalls auch mit Interventionsrechten im Einzelfall. Ohne einen grundlegenden Kurswechsel in der Jugendhilfe wird es nicht gehen.

(Beifall bei der SPD)

Senator Scheele hat auch zugesagt, die weitere Aufarbeitung in enger Rückkopplung mit dem Familienausschuss zu betreiben, denn wir wollen weiter gemeinsam an der Aufarbeitung arbeiten, ohne Parteipolemik, aber mit viel Sachverstand.

Aber wir sind auch darüber hinaus gefordert, alle miteinander. Die "Bild"-Zeitung hat neulich sehr provokant gefragt, was gewesen wäre, wenn es nicht um Chantal aus Wilhelmsburg, sondern um Charlotte aus Wellingsbüttel gegangen wäre. So überspitzt das sein mag, es wirft doch die Frage auf von sozialen Spaltungstendenzen in unserer Stadt, und dem müssen wir uns als Bürgerschaft entgegenstellen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb sind wir alle in der Pflicht, neben dem Einsatz für den Kinderschutz auch dafür zu sorgen, dass wir beim Thema Betreuung und Bildung gera

de in den Stadtteilen, in denen Kinder vernachlässigt sind, in denen es Elternhäuser gibt, die sich nicht so kümmern können, alles dafür tun, dass Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Betreuung und Förderung genau den Platz haben, den sie brauchen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen.

(Beifall bei der SPD)

Pastor Aurich hat gestern bei der Trauerfeier für Chantal die richtigen Worte gefunden. Wir alle müssen noch viel aufmerksamer werden, wenn es um das Wohl unserer Kinder geht, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort hat nun Herr de Vries.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Tod Chantals bewegt seit drei Wochen die ganze Stadt. Die Menschen sind berührt, weil ein junges Mädchen durch einen Unglücksfall, der niemals hätte passieren dürfen, sein Leben verlor. Was für ein Martyrium muss eigentlich dieses Mädchen durchlitten haben, das aus seiner Familie genommen wurde, um dann in eine Pflegefamilie von Junkies zu gehen? Die Anteilnahme der Hamburger daran ist inzwischen Wut und Fassungslosigkeit gewichen angesichts der schier endlosen Kette von Fehlern und Versäumnissen, die zwischenzeitlich bekannt geworden sind.

Zum dritten Mal nach Morsal und nach Lara Mia ist im Bezirk Hamburg-Mitte ein Mädchen in staatlicher Obhut zu Tode gekommen. Diese Häufung ist aber kein Zufall, sie ist das Ergebnis langjähriger Missstände im Bezirksamt Hamburg-Mitte.