Herr Bürgermeister Scholz, die Hamburger erwarten von Ihnen Führung. Werden Sie aktiv und zeigen Sie, dass sich der Erste Bürgermeister dieser Stadt nicht von einem SPD-Kreisvorsitzenden lähmen lässt. Zeigen Sie, dass es Ihnen nicht um den Frieden und die Machtverhältnisse innerhalb der SPD geht, sondern um den Schutz der Kinder in unserer Stadt. Herr Bürgermeister, es ist jetzt Ihre Pflicht, zum Wohle der Stadt für einen personellen und inhaltlichen Neuanfang im Bezirksamt Hamburg-Mitte zu sorgen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Im Angesicht des durch Behördenversagen möglich gewordenen Todes einer Elfjährigen sollten wir in diesem Hause einen Fehler nicht machen, das Thema auf seine personellen Konsequenzen zu reduzieren.
Auch die FDP-Bürgerschaftsfraktion ist einmütig der Ansicht, dass ein Bezirksamtsleiter nach derartigem Führungsversagen nicht im Amt bleiben sollte. Auch wir haben vor dem Hintergrund der mangelnden Einsicht, die Herr Schreiber in diesem Zusammenhang an den Tag legt, an den Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzenden Olaf Scholz appelliert, seinen Einfluss für eine personelle Erneuerung an der Spitze des Bezirksamts geltend zu machen. Und auch wir registrieren mit Betroffenheit, dass dies offenbar an einer internen Machtbalance in der Hamburger SPD im Allgemeinen
und der SPD-Mitte des Herrn Kahrs im Besonderen scheitert. Aber das kann und darf nicht der relevante Punkt sein, über den dieses Haus nach einem derart furchtbaren Behördenversagen diskutiert. Vielmehr müssen wir uns nach Ansicht der FDP-Fraktion den Fragen widmen, die direkt dem Schicksal von Kindern und Jugendlichen unter Jugendamtsaufsicht gelten. Gerade eben hat Sozialsenator Scheele nochmals angekündigt, die bisherige Praxis zu verändern. Bevor die Bezirke eine geeignete Pflegefamilie auswählen können, müssen angehende Pflegeeltern und alle Hausangehörigen künftig nicht nur ein Führungszeugnis, sondern auch ein Gesundheitszeugnis vorlegen, damit die Behörden Suchterkrankungen und andere rele
vante Krankheiten zweifelsfrei ausschließen können. Auch sollen sich die sogenannten Eignungsprüfungen nach Paragraf 33 Sozialgesetzbuch künftig nicht mehr nur auf einschlägige Straftaten wie Gewalt gegen Kinder, Kindesmissbrauch beziehen, sondern auf alle Straftaten, die bis zur Prüfung vorliegen. Das sind Ansätze, die wir begrüßen, Herr Scheele, trotzdem bleiben viele Fragen offen. Können die bezirklichen Jugendämter diese neuen Anforderungen überhaupt erfüllen? Werden wir nicht mit diesen zu Recht verschärften Regeln die übergroße Mehrheit der vorhandenen oder künftigen Pflegefamilien davon abhalten, sich für Pflegekinder zu engagieren? Diese Fragen stehen unter anderem nach der Tragödie, die wir erlebt haben, und nach den ersten Sofortmaßnahmen, die Sie, Herr Senator Scheele, verkündet haben, ungeklärt im Raum.
Sie verlangen nach Auffassung der Liberalen nach einer Beantwortung in umfassendem Rahmen. Wir appellieren deshalb an den Senat, die bisherige Konzeption der Jugendhilfe in Hamburg ganz grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Hier sollten insbesondere die Vorgehensweisen in anderen Bundesländern in den Blickpunkt rücken. In Berlin etwa gibt es nicht nur ein geeignetes Internetportal für interessierte Eltern, sondern auch amtlicherseits eine deutlich restriktivere Auswahl geeigneter Pflegefamilien. An solchen transparenteren wie strengeren Regeln zur sicheren Organisation der Kinder- und Jugendpflege sollten wir uns dringend orientieren, damit wir hier nie wieder ein Ausmaß von Behördenversagen diskutieren müssen, wie momentan das des Jugendamts Hamburg-Mitte. – Vielen Dank.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Fünf Kinder sind in Hamburg gestorben, und die waren in staatlicher Obhut. Jedes Mal war die ganze Stadt entsetzt, jedes Mal wurde gefragt, wie konnte es passieren, und jedes Mal wurde gefragt, wie kann das in Zukunft verhindert werden. Und es passierte immer wieder. Jedes Mal wurde geschworen, dass man eine gründliche Untersuchung macht, dass Aufklärung herbeigeführt und Konsequenzen gezogen würden. Deshalb begrüßen wir, dass Herr Scheele erste Konsequenzen vorgelegt hat, wir möchten aber darauf hinweisen, dass zum Beispiel das Mädchen Jessica in Wandsbek nicht bei Pflegeeltern, sondern bei ihren eigenen Eltern gestorben ist. Es ist ein Problem, das weit über Pflegeeltern hinausgeht, dass in dieser Stadt Kinder unversorgt sind, schlecht behandelt werden und letztendlich daran sterben. Da muss man ein bisschen weiter ausholen.
Sie haben davon gesprochen, dass Sie eine Innenrevision anordnen wollen. Das mag gut sein. Wir haben sehr intensiv mit unseren Abgeordneten in der Bezirksfraktion Hamburg-Mitte gesprochen, und wir sind gemeinsam zu der Auffassung gekommen, dass eine Aufklärung über die Ursachen in einem parlamentarischen Ausschuss, sei es im Bezirk oder sei es in der Bürgerschaft, wichtiger wäre. Dort werden dann auch noch Vorschläge gemacht werden.
Herr Dressel, Sie haben gesagt, es gebe so etwas wie eine soziale Spaltung in dieser Stadt. Die gibt es und die gibt es sehr massiv. Es ist auch darauf hingewiesen worden, dass die Hilfen zur Erziehung erhöht worden sind, konkret von 140 Millionen Euro im Jahr 2005 auf 240 Millionen Euro im Jahr 2011. Das heißt aber nicht, dass die Sozialen Dienste jetzt mehr Ressourcen haben als vorher. Der Punkt ist, dass die Fallzahlen bei den Hilfen zur Erziehung exorbitant steigen. Das hat Herr Senator Scheele hier auch schon einmal deutlich gemacht. Da muss man sich natürlich fragen, woran das eigentlich liegt und ob man nicht bei der Ursachenbekämpfung tiefer einsteigen muss. Und es ist keineswegs so, dass die personellen und finanziellen Ressourcen bei den Sozialen Diensten und den Jugendämtern nur so sprudeln.
In Gesprächen mit Mitarbeitern, nebenbei erst diese Woche, kam heraus, dass sehr viele private Träger, die in der Jugendhilfe tätig sind, ihren Mitarbeitern Klausur verordnet haben. Die müssen nämlich diese Woche alle ihre Akten in Ordnung bringen. Das heißt für mich, dass sie vorher wahrscheinlich nicht in Ordnung waren. Das ist auch ein Missstand, der aufgegriffen werden muss.
Und wer sich mit den Mitarbeitern im Sozialen Dienst unterhält, der weiß, dass sie sehr stark belastet sind. Die Verantwortung ist ständig gestiegen, und auch der Krankenstand und die Fluktuation sind ständig gestiegen, weil es kaum zu leisten ist. Trotz der höheren Mittel ist das ein sehr schwieriger Job, der eigentlich gar nicht zu händeln ist. Und ich glaube auch nicht, dass man den Mitarbeitern die Verantwortung für die Geschehnisse übertragen darf.
Das System Kinder- und Jugendhilfe, das ist mehrfach hier gefordert worden, muss neu überdacht werden. Wir müssen neue Kriterien entwickeln, das ist ganz wichtig. Trotzdem muss man sich natürlich fragen, warum im Bezirk Hamburg-Mitte eine Häufung von Todesfällen bei Kindern stattgefunden hat. Die Fallzahlen konzentrieren sich in Hamburg-Mitte, das ist schon richtig, aber die Ursachen liegen natürlich auch in diesem System. Es ist das System Kahrs genannt worden. Wir haben
18 Jahre lang einen Bundestagsabgeordneten als Vorsitzenden des Kinderund Jugendhilfeausschusses und es ist nicht einmal gelungen, dass die Arbeitsgemeinschaften, die laut Gesetz existieren, im Jugendhilfeausschuss berichtet haben. Die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses wissen noch nicht einmal, wer überhaupt in diesen Arbeitsgemeinschaften ist. In Paragraf 78 Sozialgesetzbuch ist festgehalten:
"Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen die Bildung von Arbeitsgemeinschaften anstreben, in denen neben ihnen die anerkannten Träger der freien Jugendhilfe sowie die Träger geförderter Maßnahmen vertreten sind. In den Arbeitsgemeinschaften soll darauf hingewirkt werden, dass die geplanten Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden und sich gegenseitig ergänzen."
Diese Arbeitsgemeinschaft gibt es in Hamburg-Mitte, sie haben nie berichtet, niemand weiß, wer dort Mitglied ist. Das heißt, hier sind sehr viele Fehler gemacht worden, in erster Linie von Herrn Kahrs, und die Verantwortung hat der Bezirksamtsleiter.
Heute habe ich in der "Welt" ein Interview mit dem Bürgermeister gelesen. Auf eine Frage nach der Verantwortung antworten Sie, Herr Bürgermeister:
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Diese Debatte hat sehr deutlich gemacht, dass man es sich nicht einfach machen darf, dass diese tragischen Todesfälle viele Ursachen haben: fachliche, persönliche, die Art und Weise, wie Mandatsträger, Funktionsträger ihre Verantwortung ausüben, und die Art und Weise, wie politische Funktionen in der Jugendhilfe besetzt werden. In den beiden letzten Punkten, die persönliche Verantwortung von Funktionsträgern und die Vergabe politischer Positionen, unterscheidet sich Hamburg-Mitte von allen anderen Bezirken. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum wir gerade in Hamburg-Mitte zwei Todesfälle hintereinander haben, denn die fachlichen Gründe wirken in allen Bezirken. Wir haben jetzt den zweiten Todesfall in Hamburg-Mitte unter der Verantwortung desselben Bezirksamtsleiters und derselben Jugendamtsleiterin. Aufgefallen ist, dass
Herr Scheele sehr umfassend und durchaus beeindruckend viele kluge Gedanken und Maßnahmen im fachlichen Bereich dargelegt hat. Wozu aber Herr Scheele und kein Redner der SPD auch nur ein einziges Wort gesagt haben, ist die politische Verantwortung von Funktionsträgern in HamburgMitte und das System Kahrs. Diese Botschaft ist sehr laut und sie ist erschreckend.
Wir müssen doch feststellen, dass sich in Hamburg-Mitte im Bereich der Jugendhilfe eine Kultur des Wegschauens herausgebildet hat. Der Träger hat bei der Pflegefamilie weggeschaut, die Jugendamtsleiterin hat weggeschaut, als konkrete Beschwerden kamen, und der Bezirksamtleiter hat nicht darauf geschaut, was seine Jugendamtsleiterin tat. Was wir jetzt feststellen, ist, dass die SPD nach diesem tragischen Todesfall nicht willens und in der Lage ist, sich die politischen Strukturen im Bezirk Hamburg-Mitte anzuschauen. Sie sind immer noch nicht bereit, dieses Tabu, das es ganz offenkundig gibt, anzuschauen. Strukturen, über die nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird – und das haben viele in diesem Hause schon seit vielen Jahren getan, auch Abgeordnete aus der SPD-Fraktion –, müssen endlich das Licht der Öffentlichkeit erblicken,
Liebe FDP-Fraktion, wenn Sie hier in der Bürgerschaft sagen, das sei ein Problem der SPD Hamburg-Mitte, dann müssen wir doch eines feststellen: Die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte wählt den Bezirksamtsleiter, kann jetzt einen neuen wählen und damit Herrn Schreiber ablösen, so wie Sie es hier gefordert haben, Frau Suding. Dort gibt es eine Mehrheit zusammen mit der FDP, und diese Mehrheit kommt nicht zustande. Da zeigt sich sehr deutlich, wie dieses System Kahrs funktioniert, denn mittlerweile ist die FDP in Hamburg-Mitte –
Die Sitze in den Ausschüssen der Bezirksversammlung werden nach dem Wahlergebnis festgelegt. Nach diesem Wahlergebnis hat die FDP keinen Anspruch auf mehrere Sitze in der Bezirksversammlung. Sie hat von Herrn Kahrs im Jugendhilfeausschuss einen zusätzlichen Sitz bekommen und auch in einem anderen Ausschuss, die nicht durch das Wahlergebnis begründet sind. Sie müs
sen vielleicht einmal darlegen, ob nicht das der Grund ist, warum diese beiden Abgeordneten der FDP in Hamburg-Mitte in bedingungsloser Loyalität zu Herrn Schreiber stehen.
Da nun ganz offenkundig die politischen Verhältnisse in Hamburg-Mitte es nicht ermöglichen, den direkten Weg zu gehen, ist es Sache dieses Senats zu handeln, denn das Bezirksamt HamburgMitte ist Teil der hamburgischen Verwaltung, und verantwortlich für diese Verwaltung ist dieser Senat und der Präsident dieses Senats, der Bürgermeister. Geordnete Verhältnisse im Bezirksamt Hamburg-Mitte gibt es doch gar nicht. All die fachlichen, vielleicht auch richtigen fachlichen Maßnahmen, Herr Scheele, glauben Sie wirklich, dass Herr Schreiber der richtige Mann ist, um diese Qualitätskontrolle und all diese Maßnahmen durchzuführen? Er hat in den vergangenen Jahren bewiesen, dass er die Fähigkeiten und die Eignung dafür nicht hat. Und es ist Ihre Aufgabe sicherzustellen, dass jetzt eine Leitung im Bezirksamt HamburgMitte eingesetzt wird, die diesen Aufgaben gerecht wird. Sie dürfen jetzt nicht mehr nur reden, sondern Sie müssen handeln, und Sie müssen dafür sorgen, dass dort Personen eingesetzt werden, die handeln können.
Die letzte Bemerkung. Angesichts dieser Verantwortung des Senats fand ich es schon bemerkenswert, dass der Bürgermeister in den vergangenen Tagen und Wochen sehr wenig dazu gesagt hat. Ich würde mir wünschen, dass Sie nicht nur mit der Zeitung sprechen, sondern dass Sie heute hier im Parlament zu Ihrer persönlichen Verantwortung und Ihrer Verantwortung zu handeln etwas sagen. Ich bedauere sehr, dass Sie diese Chance bisher nicht ergriffen haben.