Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Anlass für diese Debatte ist traurig, denn ein Mädchen ist gestorben. Es ist das sechste Kind innerhalb von zehn Jahren in Hamburg, das vor den Augen der Jugendhilfe stirbt. Auch DIE LINKE unterstützt den Wunsch nach umfassender Aufklärung; das ist selbstverständlich.
Ich will kurz auf den Bericht der Jugendhilfeinspektion eingehen. Der Untersuchungsauftrag ist erheblich eingeschränkt gewesen, und deshalb bleiben auch für uns Fragen bezüglich der Beteiligung der Familiengerichte, der Staatsanwaltschaft und der Jugendpsychiatrie, der Rolle der Träger und so weiter. Die gesamte Situation der Allgemeinen Sozialen Dienste ist nicht ausreichend untersucht, sondern nur leicht gestreift. Zumindest Folgendes zeigt der Bericht aber eindeutig:
Erstens gibt es in diesem Jugendhilfesystem zu viele Schnittstellen. Allein bei Yagmur waren 18 Akteure beteiligt. Die Überlastung des ASD ist enorm.
Zweitens steht im Hilfesystem nicht das Kind oder der Hilfesuchende im Mittelpunkt, sondern die bürokratische Arbeit und Dokumentation. Drittens muss der ASD wieder in die Lage versetzt werden, dass 1:1beziehungsweise Face-to-face-Arbeit wieder möglich ist.
Meine Damen und Herren! In den letzten zehn Jahren sind sechs Kinder verstorben, und in dieser Zeit gab es viele wechselnde Koalitionen – mit Ausnahme der LINKEN. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen nützen jedoch weder den Kindern und Jugendlichen noch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder den Eltern. Die toten Kinder sollten für uns Politikerinnen und Politiker Mahnung genug sein. Als Schlussfolgerung dürfen wir bei
Nur so kann sich das System langfristig besser entwickeln. Wir haben bei der Untersuchung im Sonderausschuss – hören Sie jetzt zu, Herr Kerstan – aus der Praxis Folgendes erfahren:
Erstens: Bei laufenden juristischen Verfahren kommen keine wichtigen Informationen durch, weil sich die Beteiligten zum Beispiel auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen können und dann beim PUA nicht aussagen.
Zweitens: Bei einem Untersuchungsausschuss kommt es wieder zu öffentlichen Opfern und Tätern, wenn man sich den Antrag anschaut. Das wird vielleicht etwas aufklären, aber weitere Tote nicht verhindern.
Drittens: Es besteht die Gefahr, dass diese wichtige Frage zum Wahlkampfspektakel gerät, wie es sich im Antrag der CDU, GRÜNEN und FDP andeutet.
Daher ist es wichtig, dass wir nach dem Tod der vielen Kinder eine Enquetekommission von unabhängiger Seite schaffen, um das gesamte Jugendhilfesystem in den Fokus zu nehmen.
Ich finde es sehr bedauerlich, dass CDU, GRÜNE und FDP einen anderen Weg gehen; es ist jedoch ihr Recht. Der PUA wird viel Chaos bringen, aber wenig nützen. Er kann nicht ansatzweise das leisten, was eine Enquetekommission könnte, denn im PUA fehlt der Blick auf das gesamte System und die organisierte Beteiligung der Fachleute. Sie können in einem PUA nur zugelassene Personen vorladen.
Es fehlt der Zusammenhang von Armut und sozialer Spaltung in der Stadt auf der einen und Kinderschutz auf der anderen Seite.
Bei der Aufzählung der Stadtteile, in denen die Todesfälle in den letzten Jahren passiert sind – Lohbrügge, Jenfeld, Billstedt und Wilhelmsburg –, müssten eigentlich allen Abgeordneten die Ohren klingen.
Wenn wir uns die Medienberichterstattung der letzten Wochen und die Briefe und Vorschläge der Experten, Verbände und Vereine wie dem SoVD, Sozialverband Deutschland, und von Professor Neuffer anschauen, dann ist zu begrüßen, dass auch die Gesellschaft Aufklärung und langfristige Perspektiven haben möchte.
Die Öffentlichkeit möchte endlich Lösungen statt wieder einmal Klein-Klein. Im Gegensatz zur CDU, GRÜNEN und FDP plädieren wir als LINKE weiterhin für eine Enquetekommission. Wir wollen, dass dieses Thema, das uns sehr wichtig ist, nicht für den Wahlkampf missbraucht wird. – Vielen herzlichen Dank.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Kurz vor Weihnachten, am 18. Dezember des letzten Jahres, ist die damals dreijährige Yagmur an den Folgen körperlicher Gewalteinwirkung gestorben. Der Tod des kleinen Mädchens hinterlässt uns alle betroffen. Dass erneut ein Kind unter so schwierigen Umständen ums Leben kommt, ist schwer zu verkraften. Kein Kind sollte, noch bevor es die Chance auf ein erfülltes Leben hat, aus diesem gerissen werden. Aber stirbt ein Kind durch Vernachlässigung oder Gewalt durch die eigenen Eltern, so stehen wir alle noch erschütterter davor. Diejenigen, die das Kind eigentlich lieben und beschützen sollten, haben seinen Tod verursacht.
Wir müssen die Umstände des Todes und die Fehler der staatlichen Stellen aufklären. Daran haben wir selbstverständlich größtes Interesse, denn es geht darum, aus den Fehlern zu lernen. Der Bericht der Jugendhilfeinspektion zeigt, wie wichtig uns die Aufklärung ist. Ich möchte auch betonen, dass die Aufklärung durch die Bezirke und vor allem auch durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Allgemeinen Sozialen Dienste selbst betrieben worden ist, denn sonst hätte dieser Bericht nie entstehen können. Die Bezirksamtsleiter von Bergedorf, Eimsbüttel und Hamburg-Mitte selbst waren es, die die Jugendhilfeinspektion beauftragt haben, den Fall und das Handeln der Allgemeinen Sozialen Dienste in diesem Zusammenhang zu untersuchen.
Es war richtig, dass wir gemeinsam nach dem Tod des Mädchens Chantal die Jugendhilfeinspektion eingerichtet haben. Uns steht jetzt eine Institution zur Verfügung, die Fälle wie diesen untersuchen und fachlich bewerten kann. Sie gehört zur Fachbehörde und ist ein Teil der Fachaufsicht, aber in ihrer Arbeit unabhängig; darauf haben wir sehr geachtet. Die Jugendhilfeinspektion hat die Aufgabe, die Arbeit der Jugendämter zu untersuchen. Sie ist nicht befugt, das will ich deutlich sagen, die Arbeit der Staatsanwaltschaft oder der Familiengerichte zu beurteilen, hat jedoch die Arbeit der anderen beteiligten Institutionen mit berücksichtigt, soweit sie aus der Perspektive der Fachkräfte des ASD erkennbar war.
Die Jugendhilfeinspektion hat meines Erachtens einen guten und verständlichen Bericht erstellt. Es ging darum, den Verlauf darzustellen, um gezielt nach Fehlern zu suchen, und zwar schonungslos und ohne Ansehen von Personen und Institutionen. Der Bericht liegt vor, und die, die ihn gelesen haben …
Er ist den Familienausschussmitgliedern nur pseudonymisiert vorgelegt worden und ist wirklich schonungslos.
Ich weiß, dass kaum jemand mehr über den Tod von Yagmur betroffen ist als die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich sehr engagiert und mit hohem Einsatz um eben diesen Fall gekümmert haben. Daher ist der Bericht gerade für sie schwer auszuhalten. Mit ihnen gemeinsam muss der Bericht im Einzelnen aufgearbeitet werden, denn es geht darum, aus diesen Fehlern zu lernen. Eines wird deutlich, wenn man den Bericht gerade an den dort dokumentierten Wendemarken liest: Es wurde vieles richtig gemacht – kollegiale Beratung, Dokumentation, Kinderarzt –, aber die Erkenntnisse sind nicht sachgerecht interpretiert worden. Aus heutiger Sicht muss man konstatieren, dass es so viele erdrückende Hinweise auf die mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern gab, dass eine Rückführung nie hätte vollzogen werden dürfen. Insoweit ist die vorrangige Aufgabe, die der Bericht an die Jugendämter stellt, eine der Fortbildung und Personalentwicklung. Wie kann es nachhaltig gelingen, dass Warnhinweise in der Beurteilung stärker wahrgenommen und gewichtet werden und dass die in Teilen positive Entwicklung des Kindes nicht die negativen Hinweise überdeckt? Dabei ähneln sich die traurigen Fälle von Chantal und Yagmur. Dort wurde das Gedicht des kleinen Mädchens Chantal gewürdigt, aber das fehlende Bett und die Kampfhunde wurden durch die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Wohnung in Wilhelmsburg nicht gesehen. Hier wurde das in Teilen kooperative Verhalten der leiblichen Eltern
höher bewertet als die wiederholt auftretenden Verletzungen des Kindes nach den Besuchen bei den Eltern.
In jede Fallbeurteilung sollte kontinuierlich die Kontrollfrage einbezogen werden, was im schlimmsten Fall geschieht, wenn die Beurteilung falsch war. Das Kind stand nicht in ausreichender Weise im Fokus der Überlegungen. Es ging zeitweise mehr um die Wünsche der leiblichen Eltern als um die Zukunft des Mädchens, und das muss sich zwingend ändern. Bei leisesten Zweifeln, dass häusliche Gewalt bei den Eltern im Spiel sein könnte, muss eine Rückführung kategorisch ausgeschlossen werden. Das ist meine Erwartung.
Der jetzt vorliegende Bericht zeigt auch, wie schwierig die Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste ist. Die Lebenswirklichkeit einiger Familien ist so, wie wir sie uns alle kaum vorstellen können. Deshalb verdienen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ASD den Respekt dieses Hauses.
Wenn wir einzelne Mitarbeiter an den Pranger stellen, dann möchte bald niemand mehr beim ASD arbeiten, aber wir brauchen dort dringend engagierte, couragierte und fachlich versierte Kolleginnen und Kollegen.