Protokoll der Sitzung vom 09.04.2014

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 54, Drucksache 20/11276, Antrag der Fraktion DIE LINKE: Rechtslage anerkennen – Aufenthaltsrecht für "Lampedusa in Hamburg" erteilen.

[Antrag der Fraktion DIE LINKE: Rechtslage anerkennen – Aufenthaltsrecht für "Lampedusa in Hamburg" erteilen – Drs 20/11276 –]

Diese Drucksache möchte die Fraktion DIE LINKE an den Innenausschuss überweisen. – Frau Schneider hat das Wort.

Meine Damen und Herren! Seit gut einem Jahr bewegt das Schicksal der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" die Stadtgesellschaft. Seit einem Jahr leben die Flüchtlinge, die ihre Existenz in Libyen verloren haben, die eine Flucht vor dem Bürgerkrieg, die eine lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer und unsägliche Bedingungen in Italien hinter sich haben und die man aus Italien fortschickte, in Hamburg. Seit einem Jahr kämpfen sie für ihr Bleiberecht. Seit einem Jahr verweigert der Senat eine humanitäre Lösung und sogar das Nachdenken darüber. Es ist Zeit, mit den falschen Behauptungen und den vorgeschobenen, unredlichen Argumenten, hinter denen der Senat sich versteckt, aufzuräumen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Antje Möller GRÜNE – Glocke)

Erster Vizepräsident Frank Schira (unterbre- chend): Frau Schneider hat das Wort und nur Frau Schneider.

– Schönen Dank, Herr Präsident.

Der Senat kann sich nicht darauf zurückziehen – wie er es getan hat –, dass Paragraf 23 Aufenthaltsgesetz nicht anwendbar sei, im Gegenteil. Der

Senat kann der Gruppe aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland Aufenthalt gewähren.

(Olaf Ohlsen CDU: Wie soll er das denn tun?)

Zu diesem eindeutigen Schluss kommt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom 13. März 2014. Es gibt keinen Rechtsanspruch, das ist richtig, aber es gibt die Möglichkeit einer Aufenthaltsgewährung aus den genannten Gründen. Das Tatbestandsmerkmal der humanitären Gründe betreffe Fälle, so das Gutachten, in denen zwar keine völkerrechtliche Verpflichtung bestehe, Deutschland aber aufgrund besonderer Umstände eine moralische Verpflichtung treffe. Bei der Definition der Wahrung politischer Interessen, so das Gutachten weiter, sei den obersten Landesbehörden ein weiter politischer Beurteilungsspielraum eingeräumt. Es gehe um eine politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörde. Es ist also die Frage, ob humanitäre Gründe vorliegen, und dann ist es vor allem die Frage des politischen Willens. Will der Senat eine humanitäre Lösung finden oder will er es aus Gründen, die mit Humanität dann jedenfalls nichts mehr zu tun haben, nicht?

Sie, Herr Neumann, haben in der Innenausschusssitzung am 23. Oktober 2013 behauptet, die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" beanspruche, dass für sie andere Rechte gelten sollten als für andere Flüchtlinge. Ähnlich äußerte sich der Bürgermeister vor Weihnachten gegenüber der "Hamburger Morgenpost". Immer wieder wird das behauptet, aber dadurch wird es nicht richtig.

(Beifall bei der LINKEN und bei Antje Möller GRÜNE)

Die Gruppe fordert durch Anwendung des Rechts und durch Anwendung des Paragrafen 23 ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen – nicht gegen das Recht, nicht durch Sonderrecht, sondern durch Anwendung des Rechts. Paragraf 23 ist keine Ausnahme vom Recht, sondern Recht, das für alle gilt, für die die Tatbestandsmerkmale vorliegen. Der Paragraf 23 ermöglicht die Reaktion auf eine humanitäre Notlage einer Gruppe, das ist sein Sinn und Zweck. Es geht also nicht darum, dass die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" eine Privilegierung gegenüber anderen Flüchtlingen fordert. Sie fordert vielmehr ein rechtstaatliches Verfahren nach gültiger Rechtslage, nicht mehr und nicht weniger.

(Beifall bei der LINKEN und bei Antje Möller GRÜNE)

Wir sind gut beraten, den Vorgaben rechtsstaatlicher Grundsätze zu folgen. Im Rechtsstaat wird geprüft, ob gesetzliche Regelungen Anwendung finden können. Sie haben das nicht geprüft, oder

(Dr. Andreas Dressel)

Sie haben das vielleicht geprüft und dann schnell den Deckel zugeklappt, weil Ihnen das Ergebnis politisch nicht gepasst hat. Aber Gott sei Dank hat es der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags geprüft, sodass Sie sich nicht mehr herausreden können, sondern Farbe bekennen müssen, für oder gegen eine humanitäre Lösung.

Zur Frage, ob es sich bei der Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge um eine Gruppe im Sinne des Paragrafen 23 Aufenthaltsgesetz handelt, haben Sie sich, Herr Neumann, im Innenausschuss sehr verschwurbelt geäußert. Tatsächlich hat Ihre Behörde – lesen Sie es einmal nach, Sie würden sich selbst nicht verstehen –,

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

die Gruppeneigenschaft doch selbst anerkannt, als sie nämlich Kriterien genannt hat, die diejenigen erfüllen müssen, die sich der Gruppe zurechnen und individuell bei der Behörde melden, damit sie unter die Sonderregelung fallen. Ich erinnere einmal: Flucht aus Libyen in der Zeit Februar bis Oktober 2011, also der Zeit des Bürgerkriegs, Aufenthalt in Italien bis mindestens Herbst 2012, italienische Papiere, Reise nach Hamburg bis Ende April 2013. Man kann möglicherweise darüber streiten, ob und inwiefern diese Kriterien die sinnvollsten und angebrachtesten sind. Aber sicher ist, dass eine klare Bestimmung der Gruppe möglich ist. Sie selbst, Herr Neumann, und Ihre Behörde arbeiten mit den Kriterien.

Gebieten humanitäre Gründe ein Aufenthaltsrecht? Das ist, wie das Gutachten feststellt – ich habe es zitiert –, eine politische Leitentscheidung. Alles spricht für eine politische Leitentscheidung zugunsten eines Aufenthaltsrechts. Ich habe eingangs an den Leidensweg der schwarzafrikanischen Flüchtlinge aus Libyen erinnert. Ich erinnere Sie daran, dass im April 2011 der UN-Flüchtlingskommissar Guterres die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten aufgerufen hat, Aufnahmeplätze für schwarzafrikanische Flüchtlinge aus Libyen zur Verfügung zu stellen. Ich erinnere auch an das Ergebnis. Anfang November, also am Ende des Bürgerkriegs, gab es Hunderttausende schwarzafrikanische Flüchtlinge. Schweden hatte 120 dieser Flüchtlinge aufgenommen, die Niederlande 40, Portugal 23, Deutschland keinen. In diesem Wettbewerb der Unterbietung der Humanität nahm Deutschland Platz 1 ein. Hamburg kann und Hamburg muss Wiedergutmachung leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Flüchtlinge, um die es geht, haben alles verloren. Sie haben die Existenz verloren, die sie in Libyen aufgebaut haben. Sie sind zwischen die Fronten des Bürgerkriegs geraten und vor der Bombardierung geflohen. Vielleicht wurden sie mit deutschen Waffen, mit den G36-Gewehren von Heckler & Koch, die bekanntermaßen nach Libyen

gelangt waren und auf beiden Seiten im Bürgerkrieg eingesetzt wurden, gewaltsam in Boote und aufs Meer gezwungen. Es ist ein Gebot der Humanität, diese Gruppe von rund 300 in Hamburg gestrandeten Bürgerkriegsflüchtlingen aufzunehmen, wie es der UN-Flüchtlingskommissar schon 2011 gefordert hatte.

Ein Wort noch zu den Papieren, zur Frage der Identität der Lampedusaflüchtlinge. Im Fall des Kontingents von 5000 syrischen Flüchtlingen, die aufzunehmen Deutschland sich bereiterklärt hatte, wurden auch erst die Kriterien festgelegt, und erst danach mussten sich die aufzunehmenden Personen registrieren lassen.

(Kai Voet van Vormizeele CDU: In Syrien!)

Genauso kann – ganz nach dem Motto: gleiches Recht für alle – das Verfahren in Bezug auf die "Lampedusa in Hamburg"-Gruppe laufen.

Die Auseinandersetzung um das Bleiberecht geht also nicht darum, warum Sie nicht tun, was Sie nicht tun können, sondern warum Sie nicht tun, was Sie tun können.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Auseinandersetzung geht schlicht darum: Wollen Sie für die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" ein Aufenthaltsrecht ermöglichen, wie es erhebliche Teile der Stadt und nicht zuletzt sehr, sehr viele junge Menschen fordern? Ich war in etlichen Schulen, und auch Kollegen der SPD waren in Schulen, Sie haben das alle mitbekommen. Oder wollen Sie diese Flüchtlinge hinausschaffen? Das ist Ihre Entscheidung.

(Beifall bei der LINKEN und bei Christiane Blömeke GRÜNE)

Herr Dr. Schäfer hat das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Frau Schneider, Sie haben gerade einen Vergleich angestellt zu dem Kontingent von Syrien-Flüchtlingen, das in der Bundesrepublik aufgenommen werden soll. Genau daran wird deutlich, wo der Unterschied liegt.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Da haben Sie aber das Gutachten nicht gelesen! – Ge- genruf von Ksenija Bekeris SPD: Ach, Frau Schneider, nun hören Sie doch auf!)

Das Kontingent der Syrien-Flüchtlinge wird definiert. Es werden diejenigen Syrerinnen und Syrer ausgewählt, die diesen Kriterien entsprechen, und dann werden sie hier aufgenommen, selbstverständlich unter Bekanntgabe ihrer Identitäten. Ihre Pässe werden vorgelegt und sie nehmen an einem ganz regulären Verfahren teil. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat genau beschrie

(Christiane Schneider)

ben, wie das stattfinden kann, und zwar unabhängig von irgendeiner besonderen Gruppe. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat mit keinem einzigen Wort Bezug genommen auf die Gruppe "Lampedusa in Hamburg".

(Beifall bei der SPD)

Er hat völlig neutral beschrieben, wie ein solches Aufnahmeverfahren vonstatten gehen könnte. Dabei ist entscheidend – und das haben Sie die ganze Zeit vergessen zu erwähnen –, dass ein solches Verfahren nach Paragraf 23 ausschließlich und ohne jede Ausnahme nur im Einvernehmen mit dem Bund geschehen kann.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Das kann ich Ihnen auch gerne anders sagen!)

Die politische Leitentscheidung der Länder ist eine Sache, es geht aber nur im Einvernehmen mit dem Bund. Dieses Einvernehmen wurde vonseiten der Bundesregierung für diesen Fall der Gruppe "Lampedusa in Hamburg" bereits abgelehnt.

(Norbert Hackbusch DIE LINKE: Der Senat wollte das!)

Sie fordern außerdem ein rechtsstaatliches Verfahren ein. Genau dieses rechtsstaatliche Verfahren findet so statt,

(Beifall bei der SPD)

wie es für alle anderen circa 300 Flüchtlinge stattfindet, die Monat für Monat in Hamburg ankommen.

(Dr. Eva Gümbel GRÜNE: Das wissen wir!)

Für alle diese Flüchtlinge gilt ein ganz bestimmtes Verfahren, das selbstverständlich für alle gilt und nicht für irgendwelche Ausnahmen nicht.

(Beifall bei der SPD)

Wir lehnen es ab, an dieser Stelle Ausnahmen zu machen, die sich beim besten Willen nicht begründen lassen gegenüber Familien mit Kindern, denen es dort, wo sie herkommen, auch nicht gut geht – um es vorsichtig auszudrücken – oder generell gegenüber allen Flüchtlingen, die Monat für Monat hier ankommen und sich selbstverständlich unserem Verfahren unterziehen. Es gibt keinen moralischen Grund, genau diese Flüchtlinge aus Libyen – ich weiß nicht, wie viele es sind, die Zahl 300 vagabundiert immer wieder durch die Stadt, mag sein, kann auch nicht sein –, diese 300 Männer aus Afrika vorzuziehen und für sie eine Sonderregelung zu schaffen.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Das ist doch keine Sonderregelung, der Paragraf 23!)