Protokoll der Sitzung vom 29.03.2017

Doch so einfach ist die Sache nicht. Die GRÜNEN haben das von ihnen angemeldete Thema unter das Schlagwort gestellt, Europa statt Nationalismus. Hier wird ein künstlicher Gegensatz aufgebaut zwischen Europa und Nationalismus, und das ist unredlich. Denn keineswegs sind Kritiker der EU Antieuropäer, und Patrioten, die sich für ihren Nationalstaat einsetzen, das kann ein Europa der Vaterländer sein, eine Formulierung, die auf General de Gaulle zurückgeht, sind keine Nationalisten.

(Dr. Anjes Tjarks GRÜNE: Den die NPD auch einmal gut fand!)

Dies ist ein ebenso politischer Kampfbegriff wie Populisten und dergleichen.

Was viele Menschen in unserem Land bewegt, sind Missstände und Auswüchse der EU.

(Dr. Anjes Tjarks GRÜNE: Welche denn?)

Deswegen ist man aber kein Antieuropäer, und deswegen ist man auch nicht unbedingt für einen EU-Austritt. Was viele Menschen in unserem Land bewegt, ist ein eklatanter Bruch des Rechts auf Ebene der EU. Deshalb sind sie aber keine Antieuropäer. Und es ist unredlich, mit dem Titel Europa statt Nationalismus diese Kritik zu diskreditieren.

Was meine ich mit dem Rechtsbruch? Der Euro wurde eingeführt trotz großer Skepsis bei der Mehrheit der Deutschen, und zwar ohne Volksabstimmung. Und er wurde den Deutschen schmackhaft gemacht durch die No-Bail-out-Klausel, die die deutsche Regierung gegen französischen Widerstand durchsetzte, Fundament der Einführung des Euros, so wurde uns jedenfalls gesagt, und im Vertrag verankert. Mit der No-Bail-out-Klausel sollte sichergestellt werden, dass nicht die Bürger eines Staates für die Schulden eines anderen Staates haften. So die Theorie und das Papier.

Diese Brandmauer, wie sie von einigen auch bezeichnet wurde, wurde am 8. Mai 2010 eingerissen, an dem Tag, als Angela Merkel auf Drängen von Sarkozy zustimmte, die Klausel beiseitezuschieben und auszuhebeln, und damit diese Brandmauer sehenden Auges einriss. An dem Tag wurde bei mir, wie bei vielen anderen im Land, das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des europäischen Einigungsprozesses zutiefst erschüttert, was zuvor vertragliches Fundament war, mit einem Federstrich beiseite gewischt.

Dieser Rechtsbruch hat maßgeblich zum Entstehen der AfD und zum Entstehen und zum Wachsen von eurokritischen Positionen beitragen. Diese Patrioten und Europäer sind nicht europafeindlich, sondern EU-kritisch. Sie argumentieren eben nicht mit zwölf goldenen Sternen im Auge, sondern nüchtern und sachlich, stellen auf den Prüfstand und äußern Kritik da, wo sie angebracht ist. Und die Euro-Rettungspolitik spaltet Europa und führt Europa auseinander, statt es weiter zusammenzuführen.

Der heutige Tag ist ein historischer Tag. Heute Mittag ging oder geht die Brexit-Austrittserklärung, der Scheidungsantrag der Briten, in Brüssel ein.

(Dr. Anjes Tjarks GRÜNE: Finden Sie das eigentlich gut?)

Damit zeigen die Briten, dass die derzeitige EUEntwicklung keineswegs alternativlos ist. Ich warne davor, dieses Votum zu missbrauchen zu einem "Alles gut", "Alles weiter so", und es sind nur ein paar böse, rückwärtsgewandte Nationalisten, die das nicht verstehen.

(Dr. Anjes Tjarks GRÜNE: Wie finden Sie das?)

Dazu komme ich gerade.

Lassen Sie uns diesen historischen Tag, den Scheidungsantrag der Briten, zum Anlass nehmen, kritisch auf den Prüfstand zu stellen, zu bewahren und auszubauen, was sich bewährt hat. Dazu gehören der freie Markt und eine enge europäische Zusammenarbeit, und man sollte notfalls ändern und stoppen, was den Test nicht besteht und zu Recht Unmut bei den Bürgern hervorruft. Kein unkritisches "Weiter so" à la Martin Schulz, sondern eine differenzierte Auseinandersetzung.

Wir wollen die EU nicht zertrümmern, sondern reformieren. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der AfD)

Das Wort erhält der Abgeordnete Dr. Flocken.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Volksvertreter! Europa ist der besondere Kontinent, das zeigt

(Dr. Alexander Wolf)

schon ein Blick auf den Globus. Europa ist keine kompakte Masse, Europa ist nicht die EU. Europa ist nicht die EU, wie das heute von fast allen Rednern hier gesagt worden ist. Von weniger als einem Zwölftel der bewohnbaren Landmasse der Erde ausgehend, hat die europäische Kultur die moderne Welt mehr geprägt als alle anderen Erdteile zusammen. In Wissenschaft und Technik, bildenden Künsten und Musik, in der Medizin und Philosophie.

Aber was hat die EU der Menschheit schon gegeben? In Europa stand die Wiege der Demokratie. Frieden hatten wir vor der EU auch und mit der EWG. In Europa stand die Wiege der Demokratie, Gleichberechtigung und Gewaltenteilung sind europäische Werte des 18. und Werke des 20. Jahrhunderts; ebenso der Sozialstaat. Die EU hat nichts zu alledem beigetragen.

Europa ist der Ort der Meinungsfreiheit, die EU der politischen Korrektheit. Europa ist der Ort der Redefreiheit, die EU der Zensur. Europa ist der Ort der Toleranz, nicht der Gleichschaltung nach Maß von oben. Europa ist der Ort des kreativen, nicht des betreuten Denkens nach Anleitung der regierungstreuen Medien. Europa ist der Ort der Vielfalt, nicht eines Großreichs. Europa ist der Ort der Sprachen und Dialekte, nicht der Vereinheitlichung. Europa ist der Ort der Verständigung über Sprachgrenzen hinweg, Europa ist der Ort der kulinarischen Spezialitäten, nicht des Einheitsbreis. Spaghetti und Sauerkraut durchmischt man nicht.

(Dr. Monika Schaal SPD: Sie haben doch keine Ahnung, Mensch!)

Europa ist der Ort der Traditionen im Brauen von Bier, im Gären von Wein, nicht die Beute des Trinkers von oben, auch nicht der Drogenbosse. Europa ist der Ort der einzigartigen Bauten, nicht der megalomanen Bauherren. Europa ist der Ort, wo Gedankengebäude nicht verfestigt, sondern hinterfragt, verändert, teilweise oder ganz eingerissen und neu errichtet werden, die Grundlage jeder echten Wissenschaft. Europa ist der Ort der Genies, nicht der Propheten und Religionsstifter. Der Ort von Leonardo Da Vinci und Kopernikus, von Galileo und Keppler, von Newton und Leibnitz, der Gebrüder Humboldt und Carl Friedrich Gauß, von Beethoven und Mozart, von Shakespeare und Dostojewski, von Darwin und Einstein, von Adenauer und General de Gaulle. Die EU ist die Spielwiese von Barroso und van Rompuy, von Juncker und Schulz.

Europa ist der Ort von Johanna von Orleans, von Kaiserin Maria Theresia, der Zarin Katharina der Großen, Marie Curie und, ja, auch so gegensätzlicher Frauen wie Sophia Loren und Maggie Thatcher. Die EU ist der Ort des Genderismus und der Quoten. Europa ist der Ort von eigenwilligen Völkern mit zuweilen kriegerischer Geschichte und dem festen Willen zum Frieden. Alle Völker in

Europa haben heute den Willen zum Frieden. Die EU aber sät Zwietracht und im Besonderen Abneigung gegen Deutschland in ganz Europa.

Europa ist das Reich der Freiheit, die EU ist das Gegenteil von Europa. Europa hat gewusst, seine Freiheit gegen Invasoren zu verteidigen, mit Leonidas II. gegen die Perser, mit Karl Martell gegen die Mauren, mit Prinz Eugen gegen die Osmanen.

(Wolfgang Rose SPD: Sagen Sie mal was zu Hitler-Deutschland!)

Die EU betreibt den großen Austausch gegen den Willen der Völker Europas.

Seit 1 600 Jahren haben auch aus dem Inneren heraus kein Karl, kein Napoleon, kein Hitler und kein Stalin es geschafft, Europa in einem Großreich dauerhaft zu unterwerfen. Zu stark und freiheitsliebend waren seine Völker. Auch die Bundesregierung und Jean-Claude Juncker werden das nicht schaffen.

In ganz Europa stehen die Menschen auf gegen die innere und äußere Bedrohung. Im Januar, das ist heute schon angeklungen, hat Marine Le Pen in Koblenz gesprochen,

(Dr. Andreas Dressel SPD: Waren Sie auch da?)

und sie hat gesagt:

"J'aime la France, parce qu'elle est française. J'aime l'Allemagne parce qu'elle est allemande."

(Zurufe: Allemande!)

Allemande, ja.

Noch einmal: J'aime la France parce qu'elle est française. J'aime l'Allemagne parce qu'elle est allemande. – Vielen Dank.

(Karl-Heinz Warnholz CDU: Was heißt das denn, ich hab kein Abitur!)

Meine Damen und Herren! Das Wort bekommt der Erste Bürgermeister Olaf Scholz.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor wenigen Tagen war der 60. Jahrestag der Römischen Verträge und damit eines langjährigen Projekts der europäischen Integration, von dem wir alle miteinander profitiert haben und das heute weiterentwickelt wird als Europäische Union. Ich glaube, dass wir als Deutsche besondere Veranlassung haben, das Friedens- und das Integrationsprojekt zu würdigen, das seitdem so erfolgreich Stück für Stück vorangekommen ist. Europa ist seit langer Zeit ein Kontinent des Friedens, das wäre ohne die europäische Einigung nicht möglich gewesen. Europa ist ein Ort der Demokratie, und das

(Dr. Ludwig Flocken)

war keineswegs so selbstverständlich. Noch in den Siebzigerjahren hatten wir Diktaturen; faschistische Diktaturen in Griechenland, in Spanien und Portugal,

(Dr. Bernd Baumann AfD: Eine LINKE in Deutschland!)

und ohne die Europäische Union wäre es nicht gelungen, daran etwas zu ändern. Es war ein sehr wichtiger Beitrag für die demokratische Bewegung dieser Länder, dass Europa eine Möglichkeit war.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Noch mehr gilt das selbstverständlich für die Überwindung der Spaltung Europas, für die Überwindung des Eisernen Vorhangs, für die Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa, die heute alle Teil der Europäischen Union sind und Teil des Diskussionsprozesses über die Weiterentwicklung des Kontinents. Ich glaube, die Europäische Union hat schon sattsam bewiesen, welch eine erfolgreiche Veranstaltung sie ist im Sinne ihrer Völker und im Sinne ihres Zusammenstehens.

(Beifall bei der SPD, der CDU, den GRÜ- NEN und der FDP)

Vergessen wir auch nicht, dass ohne die Europäische Union die deutsche Einigung nicht gelungen und nicht möglich gewesen wäre. Nach zwei Weltkriegen, nach der furchtbaren Zerstörung, die die Kraft des 1871 neu entstandenen Zentralstaates, Nationalstaates, in Deutschland, in Europa ausgelöst hat, haben die anderen Völker und Staaten sicherlich nur über das europäische Projekt Vertrauen in unser Deutschland gefunden und haben die erneute Einigung Deutschlands nach der demokratischen Revolution in Ostdeutschland möglich gemacht. Die Europäische Union ist die Bedingung der deutschen Einigung.

(Beifall bei der SPD, der CDU, den GRÜ- NEN und der FDP)

Ein großer Teil des wirtschaftlichen Wohlstands, den wir seither verzeichnen können, ein großer Teil des wirtschaftlichen Wohlstands, den die Stadt Hamburg seither genießt, ist auch Ergebnis dieses Prozesses. Wir sind seit 1990 um fast 200 000 Einwohner gewachsen. Wir haben fast 200 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigte seit dieser Zeit. Und ohne, dass Europa wieder zusammengekommen wäre und die Grenzen überwunden worden wären, wäre dieser wirtschaftliche Aufschwung unserer europäischen Stadt nicht möglich gewesen.