Protokoll der Sitzung vom 27.03.2019

Vielen Dank, Frau Rath. – Das Wort erhält jetzt Mareike Engels für die GRÜNE Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es freut mich, dass wir doch noch die Gelegenheit bekommen, über die UN-Behindertenrechtskonvention zu debattieren. Der Anlass ist das zehnjährige Jubiläum des Inkrafttretens in Deutschland und damit auch in Hamburg.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte, den es zu feiern gilt.

(Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und bei Michael Kruse FDP)

Mir wurde erst letzte Woche bei einer Veranstaltung der Stiftung Anerkennung und Hilfe nochmals deutlich, wie sehr unsere Gesellschaft die Menschenrechte von behinderten Menschen lange Zeit mit Füßen getreten hat. Nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in der Zeit danach. Sonst wären wir heute nicht in der Situation, Menschen, die in Wohneinrichtungen Leid und Unrecht erfahren haben, entschädigen zu müssen. Und deswegen ist diese Debatte eigentlich auch ein guter Kontrast zu der ersten Debatte. Auch hier gilt: Nie wieder Faschismus.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

All dies macht deutlich: Es geht um grundlegende Rechte. Und deswegen sollten wir uns noch einmal vergegenwärtigen, welche Vision mit der UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich verbunden ist. Es geht um die inklusive Gesellschaft. Was meine ich damit? Inklusion ist mehr als der Einbezug bisher ausgeschlossener Gruppen. Der häufig genutzte Begriff der Integration bedeutet zwar, dass alle Menschen dazugehören sollen, sich aber in ein bestehendes Gesellschaftssystem einfügen

(Franziska Rath)

sollen, sich zu integrieren haben. Es geht dabei immer um die Anpassung an eine Mehrheitsgesellschaft und mit einer Norm einher. Als inklusiv verstehe ich eine Gesellschaft, in der von Beginn an niemand ausgegrenzt und stigmatisiert wird, eine Gesellschaft, die sich auf die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Menschen einlässt. Die Strukturen passen sich hier durchaus flexibel den Bedürfnissen der Menschen an und nicht andersherum. Und deswegen ist die Sicherstellung einer behindertengerechten Infrastruktur ein Grundgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention. In einer inklusiven Gesellschaft sind demnach alle Menschen gleichberechtigt, sie werden von Anfang an einbezogen und können als selbstbestimmte Individuen partizipieren.

An dieser Stelle möchte ich auch noch einmal für ein breites Verständnis von Inklusion plädieren. Denn die inklusive Gesellschaft kann auch eine Vision zur Überwindung der sozialen Spaltung sein, denn sie setzt auf eine soziale Teilhabe für alle Menschen, einerseits unabhängig von Behinderung, aber eben auch unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Talenten, Alter, Möglichkeiten, Religion und Hautfarbe. Eine inklusive Gesellschaft ist auch eine freiere Gesellschaft: frei von Diskriminierung, frei von Rollenerwartungen, frei hinsichtlich individueller Entfaltungsmöglichkeiten.

Wie weit wir noch von einer wirklich inklusiven Gesellschaft entfernt sind, zeigt exemplarisch der Arbeitsmarkt. Dieser ist trotz einiger politischer Bemühungen – Stichwort Budget für Arbeit, es wurde schon genannt – immer noch stark von Separation statt von Inklusion geprägt. In der Schule wiederum wurden in den letzten Jahren einige Fortschritte erzielt, die wir ausbauen statt schlechtreden sollten.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Im Geiste der UN-Behindertenrechtskonvention ist es wiederum wichtig, dass wir Menschen mit Behinderung als die Expertinnen und Experten anerkennen, die sie sind. Deswegen ist es gut, dass das Kompetenzzentrum Barrierefreiheit in Trägerschaft der Selbsthilfeverbände entsteht.

Meine Damen und Herren! Gleiche Rechte, gerechte Teilhabe für alle – was so selbstverständlich klingt, stellt für unsere Gesellschaft leider eine große Herausforderung dar und muss im Detail ausbuchstabiert werden. Deswegen hat Hamburg einen Landesaktionsplan und entwickelt diesen auch nach 2012 und 2015 weiter. Die fachliche Debatte dazu werden wir wahrscheinlich in zwei Wochen führen und dann auch im Ausschuss – oder hoffentlich in den Ausschüssen.

In dem Zuge ist jedenfalls schon viel passiert, da müssen wir uns nur einmal im Stadtbild umschauen. Es gibt immer mehr Barrierefreiheit, insbesondere im ÖPNV. Aber zu häufig enden Wege noch

an der nächsten Treppe. Wir haben mittlerweile ein barrierefreies Redepult, wir haben hoffentlich irgendwann einen Dielenfahrstuhl; auch hier machen wir Fortschritte. Und auch in der barrierefreien Kommunikation, was Leichte Sprache und Gebärdensprachdolmetschen angeht, gehen wir immer weiter voran, und das ist auch gut so.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Bis zu einer inklusiven Gesellschaft ist es noch ein weiter Weg, aber es lohnt sich, diesen zu gehen. Und wenn wir das nicht selbst einsehen, verpflichtet uns zum Glück die UN-Behindertenrechtskonvention dazu.

Meine Damen und Herren! Gleiche Rechte und gerechte Teilhabe für alle Menschen, dieser Grundsatz gehört zu 100 Prozent umgesetzt. Lassen Sie uns die inklusive Gesellschaft gemeinsam gestalten. – Danke schön.

(Beifall bei den GRÜNEN, der SPD und bei Michael Kruse FDP)

Vielen Dank, Frau Engels. – Das Wort erhält jetzt Cansu Özdemir für die Fraktion DIE LINKE.

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Die Luft ist jetzt leider ein bisschen raus. Trotzdem muss man sagen, dass dies eine sehr wichtige Debatte ist, gerade vor dem Hintergrund, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht Empfehlungen beinhaltet, sondern wirklich Pflicht ist. Deutschland hat unterzeichnet und muss die Maßnahmen, die dort aufgelistet sind, auch umsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben aber in den letzten Jahren leider deutlich sehen können, dass viele, viele der Maßnahmen eben nicht umgesetzt wurden – weil es am Geld scheiterte, weil die Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt wurden.

Es gibt für mich zwei relevante Punkte in diesem gesamten Prozess, die auch in den nächsten Jahren sehr wichtig sein werden. Zum einen ist das der Beteiligungsprozess. Wir haben auf Bundeseben beim Bundesteilhabegesetz gesehen, dass der Beteiligungsprozess leider, leider nicht so positiv war, wie es sich die Menschen, die mit am Tisch saßen, vorgestellt hatten. So lief es ab: Die Menschen wurden eingeladen, die Verbände wurden eingeladen, ihre Ideen wurden gesammelt, und am Ende flossen sie dann größtenteils nicht in das Bundesteilhabegesetz ein, denn die Maßnahmen kosteten Geld und daran ist es dann leider gescheitert. Das finde ich wirklich sehr, sehr bitter. Wenn wir von Demokratie und von gleichberechtigter Teilhabe in dieser Gesellschaft sprechen, dann darf das nicht am Geld scheitern.

(Mareike Engels)

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben leider auch in Hamburg … Ich sage nicht, dass hier alles schlecht gelaufen ist, und ich sage auch nicht, dass wir hier keine Errungenschaften vorzuweisen haben. Was bei uns erreicht wurde, das finde ich im Vergleich zu anderen Bundesländern auf jeden Fall fortschrittlich. Aber die Debatte zeigt doch auch … Ich sitze seit 2011 in der Bürgerschaft und wir haben wirklich sehr lange gestritten und gerungen, um den barrierefreien Umbau des Rathauses, des Redepultes durchsetzen zu können. Wir hatten außerhalb des Sozialausschusses noch eine Runde der Obleute, die sich zusammengesetzt haben, um zu gucken, wo jetzt was gemacht werden muss. Und dann kam uns als Barriere der Denkmalschutz in die Quere. Und das ist eben das Problem bei der Inklusion: dass es immer ein Aber gibt, dass es immer an etwas scheitern könnte und sich dieser Prozess dann immer leider sehr lang hinzieht und das frustrierend ist für die Menschen, die wirklich angewiesen sind auf eine inklusive Gesellschaft in allen Bereichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Punkt wurde schon angesprochen, und ich weiß, dass Frau Leonhard hier Bemühungen unternimmt. Es geht um die Ausgleichsabgabe. Das ist ein Punkt, der wirklich sehr kritikwürdig ist. Vor einigen Tagen gab es die Berichterstattung darüber, wie viele Unternehmen lieber die Ausgleichsabgabe zahlen, als Menschen mit Behinderung in ihren Betrieb zu integrieren. Ich finde, das ist einfach undemokratisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Um das Ziel zu erreichen, Menschen mit Behinderung in den Ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, muss die Ausgleichsabgabe wirklich deutlich erhöht werden, damit sie richtig wehtut und die Unternehmen Bereitschaft zeigen, die Menschen in ihr Unternehmen zu integrieren. Ich glaube, dass wir nur dadurch einen Fortschritt erreichen würden. Gerade vor dem Hintergrund der Zahl der schwerstbehinderten Menschen, die nicht in den Ersten Arbeitsmarkt integriert werden können und als arbeitslos eingetragen sind, ist das wirklich eine sehr dringende Maßnahme, die schleunigst umgesetzt werden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe einen positiven Punkt, den ich sehr erfreulich finde, nämlich dass das Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg jetzt in Gang gekommen ist. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger und sehr guter Ansatz für diese Stadt, und hoffe aber natürlich – und das bleibt abzuwarten –, dass die Menschen mit Behinderung aktiv einbezogen werden und mitbestimmen dürfen. Das ist ja eigentlich der Ansatz. Ich hoffe, dass das auch so umgesetzt wird und dass die Maßnahmen dann

nicht weiterhin wieder am Geld scheitern. Wir werden jedenfalls dranbleiben, im Sozialausschuss haben wir da eigentlich auch immer eine konstruktive Diskussion. – Ihre Zwischenbemerkung können Sie sich wirklich sparen.

(Beifall bei der LINKEN)

Als Nächste erhält das Wort Frau Christel Nicolaysen für die FDP-Fraktion.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zu oft noch werden Menschen durch sichtbare und unsichtbare Barrieren daran gehindert, an der Gesellschaft teilzunehmen. Wir Freie Demokraten setzen uns dafür ein, dass diese Barrieren abgebaut werden, und möchten jeden Menschen nach seiner individuellen Situation sowie nach seinen individuellen Stärken und Schwächen fördern.

(Beifall bei der FDP)

In zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention ist schon einiges auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe für alle Menschen erreicht worden. Doch es bleibt noch sehr viel zu tun, beispielsweise in der Mobilitätspolitik, beim barrierefreien Bauen oder beim Eintritt in den Arbeitsmarkt. Zwei Drittel der Arbeitgeber, darüber haben wir schon gesprochen, ziehen es leider noch vor, eine Ausgleichszahlung zu leisten – das finde ich persönlich sehr bedauerlich –, anstatt sich um Inklusion am Arbeitsplatz zu bemühen. Auch die Frage, wer die Kosten für Assistenzleistungen wie Begleitpersonen letztendlich trägt, um einen tatsächlichen Zugang zum gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ist gesellschaftlich noch nicht größer debattiert worden. Da müssen wir deutlich nachsteuern und ein intensives Beratungsangebot für interessierte Unternehmen anbieten, wie man Behinderte im Betrieb integriert.

In den letzten Jahrzehnten wurden immer wieder rechtliche Fortschritte für Menschen mit Behinderung gemacht. So gab es 1992 die Reform des Betreuungsrechts mit der Aufhebung des Vormundschaftsrechts. Des Weiteren wurde 1994 das Grundgesetz mit Ergänzung des Artikels 3 geändert. Darin heißt es seitdem: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Allerdings wurde über viele Jahre versäumt, das Wahlrecht anzupassen. Es ist nur schwer zu verstehen, dass bei all den eindeutigen Stellungnahmen aller Verbände der Berufsbetreuer und des Betreuungsgerichtstags die Wahlrechtsausschlüsse im Wahlgesetz nicht vollständig entfernt wurden. Die Teilnahme an Wahlen ist aber für viele Menschen mit Behinderung ein wichtiges Element ihrer Selbstbestimmtheit und ihrer Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben.

(Cansu Özdemir)

(Beifall bei der FDP)

Bisher wurden knapp 85 000 unter Betreuung stehende Menschen mit Behinderung oder Menschen, die sich wegen Schuldunfähigkeit im Maßregelvollzug befinden, von Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Europaparlament ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht hat nun in seiner kürzlich erfolgten Entscheidung die Verfassungswidrigkeit des Wahlrechtsverbots bestätigt. Das Mitwählen bei den Hamburger Bezirkswahlen ist nun möglich. Die Große Koalition möchte anscheinend aber Menschen mit Behinderung von der bevorstehenden Europawahl ausschließen und hat das Inkrafttreten der nun verfassungsrechtlich notwendigen Reform auf den 1. Juli verschoben. Das ist sehr bedauerlich.

(Beifall bei der FDP – Glocke)

Erster Vizepräsident Dietrich Wersich (unterbre- chend): Liebe Frau Nicolaysen …

Die Zeit ist angehalten und Sie würden bis zu einer Minute zusätzlich für die Antwort bekommen. Aber trotzdem keine Zwischenfrage?

Nein, danke. Ein anderes Mal.

Gut. Tut mir leid, Frau Jäck.

Das führt zu der kuriosen Situation, dass am 26. Mai Menschen mit Behinderung zwar bei den Hamburger Bezirkswahlen, nicht aber bei den Europawahlen mitwählen dürfen. Diese Missachtung des Bundesverfassungsgerichts durch die Große Koalition grenzt schon an Arbeitsverweigerung und ist für die Betroffenen sehr diskriminierend.