Protokoll der Sitzung vom 15.03.2000

Die soziale Situation im Uecker-Randow-Kreis lässt sich ganz kurz charakterisieren. Sie ist dramatisch – die zweithöchste Arbeitslosigkeit, die höchste Sozialhilfequote,

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Die geringste Beschäftigungsquote. 45 Prozent.)

die höchste Migration der jungen Menschen aus dieser Region und bei gleichbleibend hoher Förderung durch das Land eine sinkende Mittelbereitstellung des Kreises für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

(Harry Glawe, CDU: Weil FAG-Mittel reduziert worden sind. So ist es. – Heinz Müller, SPD: Quatsch!)

c) Eine politische Kultur, Herr Glawe, der Zivilcourage brauchen wir, eine deutliche Gegenwehr gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Und, Herr Thomas, ich erwarte, wenn es dazu kommt, dass die Rechtsextremen wieder durch unsere Straßen marschieren, dass wir da gemeinsam am Rande stehen. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht zu den Mutigen hinter der Gardine gehören.

(Volker Schlotmann, SPD: Nicht am Rande stehen, sondern im Wege. – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Gemeinsam auf der Straße stehen.)

Zweite Erkenntnis: Wir brauchen eine Initiative – und damit komme ich zum Schluss – zur Zurückdrängung des Rechtsextremismus und diese bedarf keines Kampag

necharakters. Ich begrüße deshalb die Gespräche in den Kirchen, in Bürgerinitiativen, am Runden Tisch wie in Strasburg und diese Aktuelle Stunde. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Das Wort hat Kollege Dr. Gehring von der CDU-Fraktion. Bitte sehr, Herr Gehring.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In drei Punkten ihrer Koalitionsvereinbarung haben sich SPD und PDS der Bekämpfung des Rechtsextremismus gewidmet. Und dort ist unter anderem die Rede davon, auf wissenschaftlicher Grundlage die Ursachen von Rechtsextremismus zu untersuchen. Und ich hätte eigentlich erwartet, obwohl das kein einfaches Thema ist, gerade auch in der Kürze der Zeit, dass Sie neben den Maßnahmen, Herr Minister Timm, die Sie geschildert haben und die auch begrüßenswert sind, etwas mehr zur Analyse der Ursachen eben dieses Rechtsextremismus vorlegen, denn es ist immer besser, sich zunächst über die Ursachen klar zu sein, um dann die Maßnahmen noch besser und zielgerichteter durchführen zu können.

(Beifall Heike Lorenz, PDS: Das stimmt. Und trotzdem müssen wir jeden Tag handeln. – Zuruf von Minister Dr. Gottfried Timm)

Lassen Sie mich mal zwei Beispiele aus diesem ganzen Komplex Ursachen/Erscheinungen darlegen, um dazustellen, dass es eben nicht immer so einfach ist mit Rechts und Links,

(Peter Ritter, PDS: Wie viel Punkte standen eigentlich in der alten Koa-Vereinbarung zum Kampf gegen Rechtsextremismus?)

wenn man über die Ursachen von Rechtsextremismus spricht.

Beispiel 1: Bereits 1988 hatte sich der spätere Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Konrad Weiß in einer Untersuchung mit rechtsextremen Tendenzen in der DDR beschäftigt. Im gleichen Jahr schloss das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig eine empirische Untersuchung in Städten der DDR ab. Beide Untersuchungen wurden in der DDR nicht veröffentlicht. Die Ergebnisse waren nämlich sehr ernüchternd. Durch einen überzogenen und zur leeren Phrase verkommenen Antifaschismus und durch die zunehmende Unglaubwürdigkeit auch der Herrschenden hatte sich im so genannten antifaschistischen Staat DDR auch eine rechtsextreme Jugendszene etabliert.

Beispiel 2, ein Beispiel aus dem Westen, aus der neueren Zeit: Im vergangenen Jahr, und das ist eine Parallele zum ersten Beispiel, wanderte eine Studie des DGB schnell wieder in eine Schublade. Wissenschaftler hatten festgestellt, dass rechtsextreme Tendenzen unter in Westdeutschland gewerkschaftlich organisierten Jugendlichen deutlich häufiger anzutreffen waren als unter nicht gewerkschaftlich organisierten. So konnten sich nach dieser Studie 32 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder zwischen 18 und 24 vorstellen, eine rechtsextreme Partei zu wählen. Bei Nichtmitgliedern waren es 17 Prozent. Folgerichtig musste Infatest dimap nach der Bundestagswahl feststellen, dass 11 Prozent der 18- bis 24-jährigen Gewerkschaftsmitglieder eine rechtsextreme Partei

gewählt hatten. Bei gleichaltrigen Nichtmitgliedern waren es 7 Prozent.

Diese zwei zugegebenermaßen isolierten Beispiele sollen deutlich machen, dass die Ursachen und die Erscheinungen von Rechtsextremismus relativ vielschichtig sind und dass mit unserem stellenweise gepflegten Rechts/Links, was die Parteien betrifft, dieses Vorgehen und die Diskussion dazu wahrscheinlich uns, was die Ursachenforschung betrifft, nicht weiterhelfen.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Das ist doch Quark.)

Insgesamt helfen auch Ausgrenzung und Stigmatisierung nur begrenzt. Wir brauchen deshalb – und das ist heute auch schon gesagt worden – präventive Jugendarbeit genauso wie repressive Polizeiarbeit. Dort, wo Straftaten geschehen, muss ein schneller Zugriff der Polizei erfolgen und eine schnelle Aburteilung der Täter gewährleistet sein.

Was ein mögliches Verbot von Aufmärschen von Rechtsradikalen betrifft, so ist es damit meiner Ansicht nach aber auch nicht getan. Die Ursachen lassen sich dadurch nicht beseitigen und im Übrigen zeigen alle Erfahrungen, dass die Versuche, solche Demonstrationen zu verbieten, oft mit einer Niederlage vor Gericht enden. Letztendlich müssen wir nach unserer Verfassung auch fähig sein, in der Demokratie Konflikte auszuhalten und auszutragen, auszudiskutieren. Genauso klar ist aber auch, dass, wenn aus solchen Demonstrationen heraus Straftaten begangen werden oder mit verfassungsfeindlichen Symbolen rumhantiert wird, die Polizei mit aller Härte eingreifen muss.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Tut sie aber nicht.)

Meine Damen und Herren, wer politischen Extremismus verhindern will, muss im Land letztendlich für ein Klima sorgen, welches solchen Tendenzen den Boden entzieht. Und deshalb brauchen wir einen durch entsprechende Daten begründeten Optimismus in die Zukunft, einen starken Staat und vor allem auch Bürger, die Rechtsstaat und Demokratie annehmen und verteidigen. Das ist heute auch schon quer durch alle Reihen gesagt worden.

(Beifall Harry Glawe, CDU)

Und hier, denke ich, müssen wir ansetzen – die Landesregierung, indem sie unter anderem die wirtschaftliche Basis des Landes verbessert, die Landeszentrale für politische Bildung und auch die Stiftungen der Parteien, indem Veranstaltungen und Seminare zu Grundlagen der demokratischen Gesellschaft intensiviert werden, Polizei und Justiz, indem das Ansehen des Rechtsstaates verbessert wird, und – ich komme zum letzten Satz – wir selbst auch, indem wir eben nicht nur alle halbe Jahre anlässlich einer Aktuellen Stunde um und über das Thema und das Problem diskutieren, sondern entsprechend dann auch in den Ausschüssen und in den Gremien zur Lösung dieser Problematik mithelfen und arbeiten. – Ich danke Ihnen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Volker Schlotmann, SPD: Wir haben Ihnen ein Angebot gemacht.)

Das Wort hat Kollege Dankert von der SPD-Fraktion. Bitte sehr, Herr Dankert.

Da ich vermutlich der Letzte in der Reihenfolge der Redner bin, denke ich, darf ich nach den häufig sehr theoretischen Debatten, die unter anderem da waren, doch ganz praktisch und vielleicht auch persönlich und regional beschränkt diskutieren. Ich glaube, das ist mir erlaubt.

Maßnahmen zur Zurückdrängung: Ich wohnte 1992 in Lichtenhagen und musste etwa hundert Meter entfernt mit ansehen, notwendigerweise ohnmächtig zuschauen, wie Naziorganisatoren die Masse auf ihre Seite brachten und auf der anderen Seite das Haus brannte. Dass dort Menschen in Gefahr waren, wusste ich erst ein paar Tage später übers Fernsehen. So dicht ist man dran und man bekommt es nicht mit. Das muss man erst mal erlebt haben. Nein, man muss es nicht erlebt haben. Aber ich hab’s erlebt und das war für mich ein prägendes Ereignis.

Wir haben dann zwei Tage später ganz spontan als Gewerkschafter in Rostock zu Gegendemonstrationen aufgerufen. Da gab es mahnende Stimmen: Bloß kein Öl ins Feuer gießen! Wir haben diese Stimmen einfach nicht ernst genommen. Ich halte das für richtig. Wir waren auch leider nur 150 Demonstranten, aber immerhin 150. Etwas später, als sich das Gewissen organisierte und demzufolge auch der Widerstand gegen diese Rechtsrandale, waren es dann 6.000 Demokratinnen und Demokraten in Rostock, die eine eindeutige Antwort in die Welt gaben und gegen dieses Lichtenhägener Syndrom protestierten.

(Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Herr Thomas hat am Rande inspiziert.)

Für mich ist ein Fazit dabei, ganz eindeutig: Diese Gegenwehr, die ganz konkrete Gegenwehr muss organisiert werden. Und man sollte auch nicht darüber böse sein, dass ein paar andere mal nicht dabei sind. Wir müssen als aufrechte Demokraten eine Stellvertreterrolle übernehmen, einfach losgehen und es tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und einzelnen Abgeordneten der PDS)

Viele unserer Menschen trauen sich nicht, trauen sich noch nicht.

Die bundesweite Gegendemo gegen diese Lichtenhagen-Ereignisse kündigte sich dann an. Und ich sage es hier auch ganz deutlich, ich kriegte es mit der Angst zu tun, denn ich hatte noch das brennende Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen vor Augen, die brennenden Container vor meiner Wohnung, die brennenden Trabis, die von den Nazis angesteckt worden waren oder von den Randalierern – das waren ja nicht alles Nazis –, aber auch ein bisschen die Kreuzberger Nächte zum 1. Mai im Kopf. Diese meldeten sich nun alle an nach Lichtenhagen. Und ich sage es Ihnen, so, wie ich hier stehe, ich besorgte mir einen Feuerlöscher. Ich wohnte ja schließlich im ersten Stock. Die Vorstellung aber, meine Damen und Herren, dass bei dieser Gegendemo vorneweg der Schmetterling der Montags- oder Donnerstagsdemos in Rostock war, dass mittendrin der schwarze Block aus Kreuzberg war und neben mir eine junge Polizistin aus Hannover, dieses Bild bleibt mir im Gedächtnis. Es ging alles gut und ich schämte mich fast für den Feuerlöscher.

Fazit: Eine neue Erfahrung – man kann Kräfte bündeln, so unterschiedlich sie auch sind. Für mich als Gewerkschafter war es eine ganz praktische Erfahrung. Diese Polizistin war GdP-Mitglied. Und nachdem wir beide über unsere Befürchtungen und Ängste geredet hatten, war ich

mir sicher, dass wir beide mit Sicherheit nicht aufeinander losgehen.

Dann kam es zu den Wahlen, egal welche man nimmt. Es gab eine Wahnsinnsmaterialschlacht der rechten Parteien. Diese optische Überlegenheit – Sie können sich alle dran erinnern, drei, vier Plakate übereinander –, die war beängstigend und insbesondere dann auch in meinem Wahlkreis, in Groß-Klein, in Schmarl, Lichtenhagen, aber den ersten beiden mehr. Es waren drei, vier Plakate übereinander. Das mag hier subtil klingen, aber was haben wir gesagt? Du brauchst auf alle Fälle erst mal eine längere Leiter als die Nazis. Und wir haben uns getraut, am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit die Antinazi-Plakate, also nicht die Wahlplakate der SPD oder von anderen, sondern die Antinazi-Plakate von den Jusos und der Gewerkschaftsjugend oben anzuhängen. Und sie haben es sich nicht getraut, sie runterzuholen oder uns in irgendeiner Form anzugreifen.

Was sage ich damit? Wir müssen uns sehen lassen, Flagge zeigen,

(Beifall Heike Lorenz, PDS)

ehrlich sein, potentielle Mitläufer überzeugen und auch mal die Lügen der Nazis mit nur drei Sätzen widerlegen können.

(Beifall bei SPD, PDS und einzelnen Abgeordneten der CDU)

Und nun komme ich zu der Vorlage von Herrn Nolte mit der Definitionshoheit. Herrn Nolte und auch allen anderen Kollegen sage ich es ganz deutlich: „Bunt statt Braun“ ist für mich so was von eindeutig, ich brauche kein Innenministerium in Niedersachsen für Definitionen. Jedenfalls die Rostocker und unsere Gäste, die alle mitgemacht haben, wissen das ganz deutlich: Es ist eine breite gesellschaftliche Bewegung im Sinne des Themas unserer Aktuellen Stunde. Sie wissen, dass Rostock wie viele andere Städte multikulturell ist. Wir haben den Ausländerbeauftragten, wir haben einen Ausländerbeirat, wir haben sehr viele Angebote für ausländische Mitbürger, sei es von den Vietnamesen angefangen, von den Polen, Bulgaren, Sowjetbürgern zu DDR-Zeiten und den neuen ausländischen Mitbürgern in Rostock.

Die Nazi-Demo in Lichtenhagen war angekündigt, das Datum ist hier schon erwähnt worden, und diese breite Welle der Empörung, die sich dann organisierte, wurde zu einer beispielhaften Aktion. Und bezeichnenderweise war der Schmetterling wieder vorneweg, der Schmetterling der Bürgerbewegung von 1989. Die normalen Bürger trauten sich inzwischen und bestimmt waren auch einige stillschweigend dabei, die 1992 schon mal auf dem Rasen vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen gestanden haben und auch noch Beifall klatschten. Aber in diesem Fall glaube ich, dass wir da ein Nachdenken bei vielen der sogenannten Mitläufer bewirkt haben. Die Nazis kamen nicht nach Lichtenhagen, und das war das oberste Ziel aller Demokraten.

Die Medien hatten auch ihren Anteil daran, das möchte man an dieser Stelle auch mal erwähnen. Sie hatten zur Demaskierung, insbesondere nach dem DVU-Einzug in den Landtag von Sachsen-Anhalt, beigetragen, wesentlich beigetragen. Fazit: Wir müssen entlarven auf allen Ebenen und nicht totschweigen.

Was brauchen wir also oder was habe ich mir vorgenommen? Wir müssen über die Strukturen und Handels

weisen der Rechten, der Rechtsextremen Bescheid wissen. Wir müssen lernen, wie Widerstand zu organisieren ist, und zwar auch der auf der Straße, und durchzuführen ist. Wir müssen aber, was noch viel wichtiger ist, überzeugend im Politikangebot sein, offen und ehrlich, ich sagte es schon, und wir brauchen schlichtweg Zivilcourage im Alltag. Entgegentreten, ob es in Rostock, Anklam oder Neukloster ist, ist die Devise. – Ich danke.

(Beifall bei SPD, PDS und einzelnen Abgeordneten der CDU)

Wir sind damit am Schluss der Debatte.

Ich schließe die Aussprache.