Protokoll der Sitzung vom 13.04.2000

Ich habe schon davon gesprochen, dass das Ablesen vom Mund und das Lernen der Sprache, so es überhaupt möglich ist, natürlich immer eine wichtige Ergänzung bleiben wird. Das wollen die Gehörlosen selbst. Aber bitte, meine Damen und Herren, dass wir uns hinstellen und sagen, wir möchten das nicht, weil wir dann ausgeschlossen sind, das halte ich für unfair.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS)

Denn wer hat eigentlich das Recht, hier in unserem Deutschland, in unserem Europa und in der Welt zu definieren bitte schön, was die Norm ist? Dazu haben wir alle nicht das Recht. Und erst wenn wir begriffen haben, dass die Norm auch anders sein darf, sein kann und ist, werden wir mit solchen Problemen, die wir heute auf der Tagesordnung haben, nicht mehr konfrontiert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS)

Um die Gebärdensprache akzeptieren zu können und respektieren zu dürfen, sind bestimmte Dinge zu überwin

den. Einmal ist es sehr, sehr wichtig, dass durch die Vermittlung im Kindergarten, in der Einrichtung, Fördereinrichtung oder in der Schule die einheitliche Gebärdensprache gelehrt wird. Und – das bitte ich jetzt wirklich in Anführungsstriche zu nehmen, sonst springt Herr Bartels gleich vom Stuhl

(Dr. Gerhard Bartels, PDS: Ich bin ganz diszipliniert heute.)

als derjenige, der mit Sprachen zu tun hat – …

(Heiterkeit bei Irene Müller, PDS)

Ich habe das auch nicht böse gemeint.

(Dr. Gerhard Bartels, PDS: Ich weiß.)

… ich bitte Sie zu akzeptieren, dass Gehörlose und Menschen mit Hörbehinderungen in der Schule sozusagen „zweisprachig“ aufwachsen, nämlich einmal mit der Lautsprache und einmal mit der Gebärdensprache, um beides so miteinander zu kombinieren, dass sie wirklich mitten im Leben stehen dürfen.

Anderes Problem: Das tägliche Leben hatte ich schon öfter angesprochen und deswegen auch die Akzeptanz in der Gesellschaft. Meine Damen und Herren, wir alle haben schon Arztbesuche hinter uns, wo wir uns als Hörende verzweifelt gefragt haben, was hat denn Herr oder Frau Doktor jetzt zu uns und unserem Gesundheitszustand gesagt, wie war denn die Diagnose und was soll ich denn nun eigentlich machen und nicht machen, weil wir im Lateinischen nicht so firm sind oder bestimmte Fachspezifika uns auch nicht erreichen konnten. Aber nun stellen Sie sich mal einen Gehörlosen vor, der keinen Dolmetscher bei sich hat, weil es manche Ärzte auch nicht möchten, der nun dazu verdammt ist, vom Mund abzulesen, wie krank oder wie gesund er ist und wie wohl seine Aussichten auf das Weiterleben sind. Das ist diskriminierend!

Oder das andere Beispiel, welches ich hier im Rahmen des Integrationsförderratsgesetzes schon einmal angeführt hatte, ich sage es noch mal: ein Gehörloser, der im Arbeitsamt sitzt vor seinem Betreuer, seinen Dolmetscher nicht mitnehmen darf, weil sein Betreuer sich ja bitte schön ein Bild von dem zu Vermittelnden machen muss und demzufolge da keine zweite Person geduldet wird, der Betreuer aber beim besten Willen nicht wissen kann, und das mache ich ihm nicht zum Vorwurf, wie Gehörlosen bestimmte Dinge zu vermitteln sind, irgendwann die Geduld verliert. Und, meine Damen und Herren, wenn ich mich dann darauf beschränke, einen Zettel hin und her zu schieben, wo dann zwei, drei Worte draufstehen, was ist da wohl eine Beratung?

Ein anderes Beispiel: Natürlich sind auch Gehörlose durchaus berechtigt zu heiraten. Ich verlange nicht, dass jeder Standesbeamte die Gebärdensprache kann, aber es wäre doch wohl eine Sache des Innenministeriums zum Beispiel, im Bedarfsfalle einen Gebärdendolmetscher anzufordern, der dann natürlich nicht vom Gehörlosen bezahlt wird – von irgendetwas muss der Mensch ja auch leben –, sondern vom Amt. Denn das Amt braucht den Gebärdendolmetscher, damit das, was es dem Gehörlosen vermitteln möchte an diesem schönen Tag, beim Gehörlosen auch ankommt.

Dazu ist es ungeheuer wichtig, meine Damen und Herren, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern den Weg gehen der Anerkennung des Berufes Gebärdendolmetscher. Bitte sehen Sie sich die tanzenden Hände neben

mir an. Das ist eine Sache, die gelernt werden muss. Das ist nichts, was man so kurz im Vorbeigehen mal bitte schön mitnimmt. Und sehen Sie sich bitte Ihre Handschrift an und die des Nachbarn und der hinter Ihnen Sitzenden und vor Ihnen Sitzenden unter Umständen. So, wie Ihre Handschriften unterschiedlich sind, so sind auch bestimmte Gebärden bei Gehörlosen unterschiedlich. Da gibt es nämlich auch viel Sprechende und wenig Sprechende, so sich Ausdrückende und so sich Ausdrückende. Der Gebärdendolmetscher muss sich da reinversetzen, der muss praktisch die Psyche des Gehörlosen, da er in dem Moment ja auch unbedingt die Vertrauensperson des Gehörlosen ist, begreifen und ergreifen und dann dem Hörenden vermitteln. Das muss gelernt werden. Das ist ein Beruf! Das ist ein Beruf und dafür müssen wir uns einsetzen.

Bitte, meine Damen und Herren, nehmen Sie unseren Antrag der Koalitionsfraktionen als den, der er auch ist: ein Stück auf dem Weg, Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen abzubauen, ein Stück Einführung der Normalität für Menschen mit Behinderungen – hier sind es die Gehörlosen – und auch ein Stück unserer Referenz für die Menschen, die dafür sorgen, dass Integration das ist, was es eigentlich sein soll. Integration ist in seiner Definition in der Zwischenzeit ziemlich ins schiefe Licht – jedenfalls bei uns Menschen mit Beeinträchtigungen – geraten.

Meine Damen und Herren! Integration von Menschen mit Behinderungen bedeutet doch nicht, dass der Mensch mit Behinderungen nun alles so lernen und begreifen muss, dass die nichtbehinderte Umwelt nicht irgendwie unangenehm berührt wird von dem, was ein Mensch mit Beeinträchtigungen macht, um „genauso“ leben zu können wie Sie ohne Behinderung auch. Nein, Integration bedeutet, dass ich das gesellschaftliche Leben, das tägliche Leben, so einrichte und die Grundlage so gebe, dass der Mensch in dieser Gesellschaft leben kann, egal was er hat und nicht hat oder mit welcher Beeinträchtigung er lebt. Denken Sie daran, auch mit Beeinträchtigung leben ist nicht unwertes Leben, vielleicht gar nicht unglückliches Leben, wie es die Professoren in Heidelberg so unmöglich formulierten, sondern es ist glückliches Leben. Barrieren werden uns nur von unserer Gesellschaft gesetzt!

Und damit Sie nicht denken, meine Damen und Herren, dass Mecklenburg-Vorpommern in diesen Sachen eine Vorreiterrolle einnimmt – mitnichten. Es gibt bereits in unserem Europa Länder, da ist die Gebärdensprache als anerkannte Sprache in der Verfassung. Das ist zum Beispiel Portugal. Das sollte uns wirklich nachdenklich stimmen. Oder Finnland. Sogar in Afrika, Südafrika, Uganda, eigentlich Länder, wo wir manchmal hingucken und sagen, na ja, da muss noch viel getan werden. Aber, meine Damen und Herren, in Bezug auf Gehörlose ist die Gebärdensprache öffentlich anerkannte Sprache und sind die Voraussetzungen dafür gesetzt, dass auch andere Dinge laufen.

Auch hier in Deutschland sind wir nicht die Ersten. Gestern hatten wir mehrmals das Beispiel Bayern. Ich hörte da auch noch so eine witzige Bemerkung: „Von Bayern lernen heißt, …“. Ich spreche jetzt nicht weiter. Aber Bayern hat die Gebärdensprache auch bereits anerkannt, Hessen auch. Das halte ich für wichtig.

(Harry Glawe, CDU: Richtig.)

Ja, unter SPD-Regierung auch noch.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und PDS und einzelnen Abgeordneten der CDU)

Hessen unter SPD-Regierung und Bayern CSU, also nicht CDU.

(Volker Schlotmann, SPD: Das war schön.)

Wie gesagt, wir sollten uns da in diesen parteiübergreifenden Dingen nicht ausklinken.

Was ich dazu auch noch sagen muss, meine Damen und Herren: Wenn ich hier an das Rednerpult trete und für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen spreche, mache ich das eigentlich unter der Prämisse, dass doch bitte die Einsicht und die Sensibilität dafür da sein soll, dass Behindertenpolitik im weitesten Sinne – und die Gebärdensprache gehört ohne weiteres dazu – nicht nur Sozialpolitik ist, sondern bitte schön ressortübergreifend.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Dass wir hier in diesem Parlament da erst am Anfang sind, zeigt mir die heutige Rednerliste. Ich freue mich, dass die Sozialpolitikerinnen und -politiker sich angesprochen fühlen. Danke, meine Damen und Herren. Es fühlt sich nur ein einziger aus der PDS-Fraktion außerhalb der Sozialpolitik angesprochen. Danke schön, Gerhard, wenn du dann hier sprechen wirst. Aber, meine Damen und Herren, es betrifft das Innenministerium, es betrifft das Wirtschaftsministerium, denn auch im Beruf habe ich das Problem, dass ich einen Gebärdendolmetscher brauche, das Arbeitsministerium, es betrifft alle.

(Harry Glawe, CDU: Richtig, sehr richtig.)

Es betrifft alle, meine Damen und Herren! Sie haben in Ihren Fraktionen arbeitsmarktpolitische Sprecher, wirtschaftspolitische Sprecher, technologiepolitische Sprecher und, und, und. Meine Damen und Herren, wirklich, der gehörlose Mensch gehört in jedes Ressort und nicht nur in die Sozialpolitik. – Danke.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS und einzelnen Abgeordneten der SPD)

Schönen Dank, Frau Müller.

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 45 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache.

Zunächst hat das Wort die Sozialministerin Frau Dr. Bunge. Bitte sehr, Frau Ministerin.

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, und auch einen Gruß an meine heutigen zeitweiligen Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat, wie erwähnt, auf Bitten der Ministerpräsidentenkonferenz 1997 grundsätzlich die Umsetzung der Entschließungen des Europäischen Parlaments von 1988 in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der – wie von Frau Müller schon gesagt wurde – verfügbaren fachlichen und finanziellen Möglichkeiten befürwortet.

In Mecklenburg-Vorpommern lernen gegenwärtig etwa 200 Schülerinnen und Schüler an beiden Gehörgeschädigtenschulen Ludwigslust und Güstrow. Davon werden etwa 30 Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen

Unterricht beschult. Es wird davon ausgegangen, dass etwa ein Viertel der Schüler nicht auf der Grundlage des gehörgerichteten Spracherwerbs beschult werden kann und demzufolge gebärdensprachlich unterrichtet werden müsste. Dies würde für Mecklenburg-Vorpommern bei der gegenwärtigen Entwicklung der Schülerzahlen künftig mindestens 30 Schülerinnen und Schüler betreffen.

Bei Kindern, die über die Aktivierung des Resthörvermögens keine Lautsprachkompetenz erwerben können, sollte Gebärdensprache frühzeitig einsetzen. Dazu wäre es denkbar, die Vermittlung von Gebärdensprachkompetenz als Wahlpflichtfach an den Schulen für Gehörgeschädigte ab Klasse 5 einzuführen.

(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der PDS und Dr. Manfred Rißmann, SPD)

Voraussetzung wäre jedoch, dass sich die Landesregierung in der entsprechenden Fachministerkonferenz dafür einsetzt, die Vermittlung der Gebärdensprachkompetenz zum verbindlichen Bestandteil der Ausbildung von Gehörgeschädigtenpädagogen zu machen. Dies hat der Bildungsminister zugesagt.

Wie ich bereits bei meiner Einführungsrede zum Integrationsförderratsgesetz gesagt habe, hat der Anspruch der Förderung der Integration von Menschen mit Behinderungen grundsätzlich zwei Seiten: Zum einen geht es darum, den Betroffenen gleiche berufliche, soziale, kulturelle sowie schulische Chancen zu eröffnen, also die ungeteilte Gewährleistung staatsbürgerlicher Rechte zu sichern. Zum anderen heißt Integration für mich aber auch, Menschen ohne Behinderungen eine andere Sicht auf die Dinge des täglichen Lebens zu erschließen. Erste Voraussetzung dafür ist die Möglichkeit, mit Menschen, deren Sinne eingeschränkt sind, zu kommunizieren.

Darüber hinaus sollten wir immer bedenken, dass das Schicksal einer Schwerhörigkeit oder Ertaubung, wie jede andere Behinderung, auch jede und jeden von uns treffen kann. Kommunikation zwischen Menschen ist für uns alle im tagtäglichen Leben schlichtweg lebensnotwendig. Dies gilt sowohl für unsere Debatte hier im Landtag als auch für den Einkauf beim Bäcker, für die Behandlung bei der Ärztin oder im Krankenhaus, genauso bei der beruflichen Weiterbildung oder auch für gemeinsame kulturelle Erlebnisse. Gehörlose Menschen sind auch heute noch in vielen gesellschaftlichen Bereichen der hörenden Welt benachteiligt, ja ausgegrenzt, weil ihre Sprache, die deutsche Gebärdensprache, nicht anerkannt ist.

(Harry Glawe, CDU: Jetzt kommt endlich der richtige Begriff: Gebärdensprache. Jetzt kommt er zum ersten Mal.)

Diese Anerkennung ist allerdings kein einmaliger Akt und notwendigerweise auch nicht unbedingt nur ein gesetzgeberischer Akt. Vielmehr kommt es darauf an, praktische Möglichkeiten der Kommunikation zu schaffen. Damit verbinde ich auch die Erwartung, dass der Integrationsförderrat entsprechende Vorschläge erarbeitet. In diesem Sinne möchte auch ich mit dem Gehörlosen Landesverband und seinem Dolmetscherdienst weiter zusammenarbeiten.

Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat am 24.06.1998 einstimmig beschlossen, dass er sich für eine umfassende Förderung von Gehörlosen und hörgeschädigten Menschen einsetzt, dass er davon ausgeht,

dass es sich bei der Schriftsprache, der Lautsprache, den lautsprachbegleitenden Gebärden und der Gebärdensprache um gleichberechtigte Kommunikationsformen handelt. Der Bundestag hat darüber hinaus die Bundesregierung aufgefordert zu prüfen, wie die tatsächliche Gleichbehandlung der Kommunikationsformen erreicht werden kann.

An eine offizielle Anerkennung knüpfen viele die Hoffnung, dass diese zu einem Ausbau der Angebote von Gebärdendolmetschern führen wird. Ich selbst möchte der Forderung des Gehörlosen Landesverbandes gerne nachkommen und schnellstmöglich in Mecklenburg-Vorpommern zeichensetzende Schritte realisieren.

Bereits seit Mitte 1994 existiert das Modellprojekt „Dolmetscherdienst für Gehörlose“ unter der Trägerschaft des Gehörlosen Landesverbandes, das vom Sozialministerium mit rund 70.000 DM jährlich gefördert wird. Die dort beschäftigten vier hauptamtlichen Gebärdensprachdolmetscher können allerdings den Bedarf der 1.400 Gehörlosen und auf Gebärdensprache angewiesenen Gehörgeschädigten im Land nicht mehr decken. Mit der zentralen Vermittlungsstelle in Rostock sowie den Außenstellen in Schwerin, Ludwigslust, Neubrandenburg und Stralsund wird die Arbeit der vier hauptamtlichen sowie weiterer 15 Honorargebärdendolmetscher koordiniert.